Produktdetails
- Heyne Bücher
- Verlag: Heyne
- Gewicht: 191g
- ISBN-13: 9783453045750
- Artikelnr.: 23927634
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2015Was ist, wenn Sie mich nicht mögen?
Nichts hat diese Frau gebrochen: Ihre Kindheitstraumata hat sie zu Romanen verarbeitet, ihre Ziehmutter Doris Lessing beschäftigt sie noch heute, den Krebs bekämpft sie in ihren Kolumnen. Ein Porträt der Autorin Jenny Diski.
Es gibt viele Gründe, sich mit Jenny Diski zu beschäftigen. Zunächst einmal ist sie eine der unzimperlichsten, klügsten Autorinnen Großbritanniens, wie zahlreiche Romane und Aufsätze, allen voran aber ihre Kolumnen für die "London Review of Books", beweisen. Ebendort, in diesem Tagebuch in Essayform, findet man seit einigen Wochen faszinierende Einträge darüber, wie Diski 1963 als Fünfzehnjährige bei der Schriftstellerin Doris Lessing Unterschlupf fand, die eher aus Neugier denn aus Neigung an die Stelle von Diskis abwesender leiblicher Mutter trat. Erste literarische Spuren dieser traumatischen Kindheit zwischen zeternden Eltern und frühen Anfällen von Depressionen finden sich bereits in "Nothing Natural", Jenny Diskis 1986 erschienenem Debütroman über eine sadomasochistische Affäre.
Dieser Roman wiederum liest sich auch heute, nach fast dreißig Jahren, noch taufrisch - weshalb der Verlag Klett-Cotta ihn just in diesen Tagen unter dem Titel "Schläge & Küsse" in deutscher Übersetzung wieder aufgelegt hat. "Fifty Shades of Grey" nimmt sich daneben aus wie ein verfilzter Wischmopp neben einem Kaschmirplaid. Kaschmir wiederum gehört zu jenen Dingen, die Jenny Diski von ihrer Einkaufsliste gestrichen hat, nachdem ihr im September eröffnet wurde, dass der Tumor in ihrer Lunge inoperabel sei und sie noch zwei bis drei Jahre zu leben habe - mit etwas Glück. Aber der Reihe nach.
In den späten achtziger und neunziger Jahren hatte Jenny Diski eine kleine Karriere in den deutschsprachigen Feuilletons. "Küsse & Schläge" wurde rezipiert als die kluge Darstellung von Sexualität und Gewalt, die es ist; mit "Regenwald" (1990) folgte eine ökologisch grundierte Variation des Unterwerfungs-Themas. In "Mutterkind" (1992) erlebte man einen hirngeschädigten Säugling als bizarr eloquentes Erzähler-Ich. In "Esthers Traum" (1995) beschäftigte Diski sich mit ihren jüdischen Wurzeln. 1999 erschien mit "Das blaue Herz des Eises" die deutsche Fassung ihrer fesselnden Autobiographie "Skating to Antarctica", in der sie skizzenhafte Erinnerungen an ihre unglückliche Kindheit mit dem Bericht über eine Reise in die Antarktis kurzschließt. Danach - Stille. Obwohl dieses letzte ihr bis dahin erfolgreichstes Buch war, taucht Diskis Name danach hierzulande kaum mehr auf. Jahrelang war keines ihrer Bücher mehr auf Deutsch lieferbar.
Dabei hat Jenny Diski natürlich weitergeschrieben. Für sie gehören Leben und Schreiben derart untrennbar zusammen, dass selbst die Krebsdiagnose sie nicht beirren kann: "Die Sache ist die", sagt sie zu einem Kollegen vom "Observer", "ich bin wahrscheinlich ein idealer Kandidat für diese Krebssache. Im Ernst! Schließlich tue ich nichts lieber, als auf dem Sofa zu sitzen und vor mich hin zu schreiben." Außerdem sei sie von Natur aus eigenbrötlerisch und gehe nur ungern aus. Zu ihrem verdutzten Arzt sagt sie: "Dann fangen wir wohl besser an, Meth zu kochen" - eine Anspielung auf "Breaking Bad", von der sie nicht sicher ist, ob der Mediziner sie nicht versteht oder aber schon viel zu oft gehört hat. Wieder daheim, macht sie sich an die Kolumne "A Diagnosis", und jenseits von nun plötzlich relevanten Fragen wie der, ob die Batterien der Fernsehfernbedienung länger durchhalten als sie, und einem für Diski typischen, stets mitreflektierten Bewusstsein, sich zwar persönlich in einer neuen, aber kulturell überaus vertrauten Situation zu befinden, ist der furchtlos Schreibenden rasch klar, wohin die Reise geht: in die Vergangenheit.
Da Diski niemals nur über eine Sache schreibt, sondern immer mindestens über zwei, heißt das in ihrem Fall: eine um Gegenwartsfacetten angereicherte Erinnerung etwa an den jüdischstämmigen Vater, der ein Betrüger und Heiratsschwindler war und die Familie im Stich ließ, als Jenny gerade elf war. Der Mutter, einer tablettensüchtigen Hysterikerin, zu der sie mit neunzehn den Kontakt abbrach, gewährt sie nicht einmal im Rückblick viel Raum. In "Skating to Antarctica" erfährt man, dass die Eltern die Tochter in mehrfacher Hinsicht missbrauchten und die frühen Phasen ihrer Depression nicht erkannten - "Sie hat wieder einmal eine ihrer Launen", hieß es. Immer wieder fand Diski sich zwischen Aufenthalten in Pflegeheimen und Internaten in der Psychiatrie wieder, wo niemand dem Mädchen beistand. Mit vierzehn überlebte sie eine Vergewaltigung; es folgten Selbstmordversuche.
Was nacherzählt düster klingt und in der Realität ein kohlpechrabenschwarzes Loch ohne Boden gewesen sein muss, liest sich Kolumne um Kolumne so fesselnd wie eine Literatur gewordene Serie - außer, dass die Lektüre kein Gemeinschaftserlebnis ist, über das man sich unmittelbar im Anschluss austauschen würde. Zu Jenny Diskis einnehmenden Eigenschaften gehören ihr trockener Humor und die federleichte Ironie, mit der sie den unweigerlichen Prozess der Selbstverhärtung, den sie von Kindesbeinen an erlebt hat, immer wieder bricht und erträglich macht. Selbstmitleid ist ihr wesensfremd. Aber sie ist auch nicht darauf aus, die anderen zu verstehen, Gründe oder Entschuldigungen für ihr Verhalten zu finden. Ihre Position ist die der Zuschauerin, der Beobachterin, der nichts entgeht und die gar nicht anders kann, als alles, was geschieht, mit ihren Gedanken darüber abzugleichen. Die lebhafte Intelligenz ihrer Schilderungen überstrahlt das Unglück ihrer passiven Beteiligung ein ums andere Mal. Das ist die Warte, von der aus sie über Verstörungen, Grenzerfahrungen und Beschädigungen schreibt - ebenso wie über die kulturelle Identität der Sechziger, über Feminismus, Politik, die Kunst des Unterrichtens oder den Umgang mit ihrer Depression.
Nichts und niemand wird bei ihr in Watte gepackt - auch nicht Doris Lessing, über die Diski nach dem Tod der Nobelpreisträgerin im November 2013 allmählich schreiben kann. Ganz allmählich werden die Konturen dieser komplizierten Beziehung, die fünf Jahrzehnte währte, in ihren Kolumnen sichtbar. Zwar hatte Lessing die Devise ausgegeben, dass sie nicht übereinander schreiben dürften, diesen Pakt aber selbst mehrfach unterlaufen, etwa mit dem 1974 erschienenen Roman "Memoirs of a Survivor" (Die Memoiren einer Überlebenden). Diski erzählt von ihrer intellektuellen Prägung durch die Autoren, Dichter und Dramatiker, mit denen sie unter Lessings Dach in Berührung kam. Für die Fünfzehnjährige, die hoffte, eines Tages selbst Schriftstellerin zu werden, war diese Sozialisierung ein Traum.
Zum Albtraum entwickelte sich der Umstand, dass Lessing zunehmend Diski die Schuld daran gab, dass ihr Sohn Peter - der ironischerweise der Mutter das elternlose Schicksal seiner Schulkameradin in einem Brief geschildert und sie so auf die Idee gebracht hatte, das Mädchen aufzunehmen - es zu nichts brachte. Erst viel später ahnte Diski, dass Lessings Schwierigkeiten im Umgang mit Peter und auch ihr mit den beiden Kindern aus erster Ehe zu tun gehabt haben dürfte, die sie beim Vater im damaligen Rhodesien zurückgelassen hatte. "Ich war wie der Kuckuck im Nest" - ein Störenfried, dem zugleich draußen alle zum neuen Platz in der Welt gratulierten. Bezeichnend ist jene Episode, in der das Mädchen einige Wochen nach seinem Einzug bedrückt wirkt. Lessing fragt, was los sei. Diski sagt: "Nachdem Sie mich aufgenommen haben, ohne mich zu kennen - was ist, wenn Sie mich nun nicht mögen? Sie können mich ja schlecht wieder fortschicken." Anstatt sie zu beruhigen, verlässt Lessing wortlos das Haus. Am nächsten Morgen findet Diski den ersten von vielen Briefen: "Darin stand, dass Lessing nie zuvor so wütend gewesen sei und dass sie derartige emotionale Erpressungsversuche nicht tolerieren würde." Die Rollen Erwachsene/Kind waren, wie so oft in Diskis Leben, vertauscht. "Es kam ihr nicht in den Sinn, dass ich mich unsicher fühlen könnte."
Eine Variation dieser Szene taucht auch in Diskis Roman "Küsse und Schläge" auf: "Wenn ich nicht deine Tochter wäre, sondern jemand anderes, und du hättest schon ein Kind, würdest du dir dann wünschen, mich zu haben?" Mit dieser Frage konfrontiert die achtjährige Carrie ihre verdutzte Mutter. Diese Rachel Kee, eine Nachhilfelehrerin, scheint ihr Leben trotz Depressionen und einer schwierigen Kindheit im Griff zu haben - wäre da nicht jener ältere Mann namens Joshua, den sie nicht mag, aber dem sie seit einigen Jahren sexuell hörig ist. Der Roman, an dem nichts die literarische Anfängerin verrät, die Diski Mitte der Achtziger war, zeichnet das Psychogramm dieser Beziehung. Mit dem Hedonisten Christian Grey hat Joshua nichts gemein; "Zorn und Autorität" machen ihn für Rachel attraktiv. Die Begegnungen mit ihm dienen allein der Erfüllung eines Bedürfnisses, von dem sie zuvor nicht einmal ahnte, dass sie es hatte. Hinterher ist sie jedes Mal "elend und tief beschämt" über den Kontrollverlust, den sie zulässt. Doch dann wird ihr klar, dass der Sadist und die Masochistin nicht zwangsläufig zusammengehören: "Ich bin besser als er, dachte sie. Ich habe an meinem Schmerz festgehalten, er hat seinen zerstört. Deshalb kann ich Mitleid mit ihm empfinden, während er den Schmerz anderer genießt."
Der Roman ist in der Schärfe seiner Beobachtungen nicht immer angenehm, aber durchweg klug zu lesen, weil das Reflexionsniveau mit den Geschehnissen Schritt hält, bis zum zynischen Ende. Einen Trend wie "Fifty Shades of Grey" hätte "Küsse & Schläge" damals wie heute nicht einläuten können oder wollen. Diski geht es nicht um Spielarten der Erotik, sondern um Formen der Verdammnis. Wie sie es mit ihnen aufnimmt, ist denkwürdig.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nichts hat diese Frau gebrochen: Ihre Kindheitstraumata hat sie zu Romanen verarbeitet, ihre Ziehmutter Doris Lessing beschäftigt sie noch heute, den Krebs bekämpft sie in ihren Kolumnen. Ein Porträt der Autorin Jenny Diski.
Es gibt viele Gründe, sich mit Jenny Diski zu beschäftigen. Zunächst einmal ist sie eine der unzimperlichsten, klügsten Autorinnen Großbritanniens, wie zahlreiche Romane und Aufsätze, allen voran aber ihre Kolumnen für die "London Review of Books", beweisen. Ebendort, in diesem Tagebuch in Essayform, findet man seit einigen Wochen faszinierende Einträge darüber, wie Diski 1963 als Fünfzehnjährige bei der Schriftstellerin Doris Lessing Unterschlupf fand, die eher aus Neugier denn aus Neigung an die Stelle von Diskis abwesender leiblicher Mutter trat. Erste literarische Spuren dieser traumatischen Kindheit zwischen zeternden Eltern und frühen Anfällen von Depressionen finden sich bereits in "Nothing Natural", Jenny Diskis 1986 erschienenem Debütroman über eine sadomasochistische Affäre.
Dieser Roman wiederum liest sich auch heute, nach fast dreißig Jahren, noch taufrisch - weshalb der Verlag Klett-Cotta ihn just in diesen Tagen unter dem Titel "Schläge & Küsse" in deutscher Übersetzung wieder aufgelegt hat. "Fifty Shades of Grey" nimmt sich daneben aus wie ein verfilzter Wischmopp neben einem Kaschmirplaid. Kaschmir wiederum gehört zu jenen Dingen, die Jenny Diski von ihrer Einkaufsliste gestrichen hat, nachdem ihr im September eröffnet wurde, dass der Tumor in ihrer Lunge inoperabel sei und sie noch zwei bis drei Jahre zu leben habe - mit etwas Glück. Aber der Reihe nach.
In den späten achtziger und neunziger Jahren hatte Jenny Diski eine kleine Karriere in den deutschsprachigen Feuilletons. "Küsse & Schläge" wurde rezipiert als die kluge Darstellung von Sexualität und Gewalt, die es ist; mit "Regenwald" (1990) folgte eine ökologisch grundierte Variation des Unterwerfungs-Themas. In "Mutterkind" (1992) erlebte man einen hirngeschädigten Säugling als bizarr eloquentes Erzähler-Ich. In "Esthers Traum" (1995) beschäftigte Diski sich mit ihren jüdischen Wurzeln. 1999 erschien mit "Das blaue Herz des Eises" die deutsche Fassung ihrer fesselnden Autobiographie "Skating to Antarctica", in der sie skizzenhafte Erinnerungen an ihre unglückliche Kindheit mit dem Bericht über eine Reise in die Antarktis kurzschließt. Danach - Stille. Obwohl dieses letzte ihr bis dahin erfolgreichstes Buch war, taucht Diskis Name danach hierzulande kaum mehr auf. Jahrelang war keines ihrer Bücher mehr auf Deutsch lieferbar.
Dabei hat Jenny Diski natürlich weitergeschrieben. Für sie gehören Leben und Schreiben derart untrennbar zusammen, dass selbst die Krebsdiagnose sie nicht beirren kann: "Die Sache ist die", sagt sie zu einem Kollegen vom "Observer", "ich bin wahrscheinlich ein idealer Kandidat für diese Krebssache. Im Ernst! Schließlich tue ich nichts lieber, als auf dem Sofa zu sitzen und vor mich hin zu schreiben." Außerdem sei sie von Natur aus eigenbrötlerisch und gehe nur ungern aus. Zu ihrem verdutzten Arzt sagt sie: "Dann fangen wir wohl besser an, Meth zu kochen" - eine Anspielung auf "Breaking Bad", von der sie nicht sicher ist, ob der Mediziner sie nicht versteht oder aber schon viel zu oft gehört hat. Wieder daheim, macht sie sich an die Kolumne "A Diagnosis", und jenseits von nun plötzlich relevanten Fragen wie der, ob die Batterien der Fernsehfernbedienung länger durchhalten als sie, und einem für Diski typischen, stets mitreflektierten Bewusstsein, sich zwar persönlich in einer neuen, aber kulturell überaus vertrauten Situation zu befinden, ist der furchtlos Schreibenden rasch klar, wohin die Reise geht: in die Vergangenheit.
Da Diski niemals nur über eine Sache schreibt, sondern immer mindestens über zwei, heißt das in ihrem Fall: eine um Gegenwartsfacetten angereicherte Erinnerung etwa an den jüdischstämmigen Vater, der ein Betrüger und Heiratsschwindler war und die Familie im Stich ließ, als Jenny gerade elf war. Der Mutter, einer tablettensüchtigen Hysterikerin, zu der sie mit neunzehn den Kontakt abbrach, gewährt sie nicht einmal im Rückblick viel Raum. In "Skating to Antarctica" erfährt man, dass die Eltern die Tochter in mehrfacher Hinsicht missbrauchten und die frühen Phasen ihrer Depression nicht erkannten - "Sie hat wieder einmal eine ihrer Launen", hieß es. Immer wieder fand Diski sich zwischen Aufenthalten in Pflegeheimen und Internaten in der Psychiatrie wieder, wo niemand dem Mädchen beistand. Mit vierzehn überlebte sie eine Vergewaltigung; es folgten Selbstmordversuche.
Was nacherzählt düster klingt und in der Realität ein kohlpechrabenschwarzes Loch ohne Boden gewesen sein muss, liest sich Kolumne um Kolumne so fesselnd wie eine Literatur gewordene Serie - außer, dass die Lektüre kein Gemeinschaftserlebnis ist, über das man sich unmittelbar im Anschluss austauschen würde. Zu Jenny Diskis einnehmenden Eigenschaften gehören ihr trockener Humor und die federleichte Ironie, mit der sie den unweigerlichen Prozess der Selbstverhärtung, den sie von Kindesbeinen an erlebt hat, immer wieder bricht und erträglich macht. Selbstmitleid ist ihr wesensfremd. Aber sie ist auch nicht darauf aus, die anderen zu verstehen, Gründe oder Entschuldigungen für ihr Verhalten zu finden. Ihre Position ist die der Zuschauerin, der Beobachterin, der nichts entgeht und die gar nicht anders kann, als alles, was geschieht, mit ihren Gedanken darüber abzugleichen. Die lebhafte Intelligenz ihrer Schilderungen überstrahlt das Unglück ihrer passiven Beteiligung ein ums andere Mal. Das ist die Warte, von der aus sie über Verstörungen, Grenzerfahrungen und Beschädigungen schreibt - ebenso wie über die kulturelle Identität der Sechziger, über Feminismus, Politik, die Kunst des Unterrichtens oder den Umgang mit ihrer Depression.
Nichts und niemand wird bei ihr in Watte gepackt - auch nicht Doris Lessing, über die Diski nach dem Tod der Nobelpreisträgerin im November 2013 allmählich schreiben kann. Ganz allmählich werden die Konturen dieser komplizierten Beziehung, die fünf Jahrzehnte währte, in ihren Kolumnen sichtbar. Zwar hatte Lessing die Devise ausgegeben, dass sie nicht übereinander schreiben dürften, diesen Pakt aber selbst mehrfach unterlaufen, etwa mit dem 1974 erschienenen Roman "Memoirs of a Survivor" (Die Memoiren einer Überlebenden). Diski erzählt von ihrer intellektuellen Prägung durch die Autoren, Dichter und Dramatiker, mit denen sie unter Lessings Dach in Berührung kam. Für die Fünfzehnjährige, die hoffte, eines Tages selbst Schriftstellerin zu werden, war diese Sozialisierung ein Traum.
Zum Albtraum entwickelte sich der Umstand, dass Lessing zunehmend Diski die Schuld daran gab, dass ihr Sohn Peter - der ironischerweise der Mutter das elternlose Schicksal seiner Schulkameradin in einem Brief geschildert und sie so auf die Idee gebracht hatte, das Mädchen aufzunehmen - es zu nichts brachte. Erst viel später ahnte Diski, dass Lessings Schwierigkeiten im Umgang mit Peter und auch ihr mit den beiden Kindern aus erster Ehe zu tun gehabt haben dürfte, die sie beim Vater im damaligen Rhodesien zurückgelassen hatte. "Ich war wie der Kuckuck im Nest" - ein Störenfried, dem zugleich draußen alle zum neuen Platz in der Welt gratulierten. Bezeichnend ist jene Episode, in der das Mädchen einige Wochen nach seinem Einzug bedrückt wirkt. Lessing fragt, was los sei. Diski sagt: "Nachdem Sie mich aufgenommen haben, ohne mich zu kennen - was ist, wenn Sie mich nun nicht mögen? Sie können mich ja schlecht wieder fortschicken." Anstatt sie zu beruhigen, verlässt Lessing wortlos das Haus. Am nächsten Morgen findet Diski den ersten von vielen Briefen: "Darin stand, dass Lessing nie zuvor so wütend gewesen sei und dass sie derartige emotionale Erpressungsversuche nicht tolerieren würde." Die Rollen Erwachsene/Kind waren, wie so oft in Diskis Leben, vertauscht. "Es kam ihr nicht in den Sinn, dass ich mich unsicher fühlen könnte."
Eine Variation dieser Szene taucht auch in Diskis Roman "Küsse und Schläge" auf: "Wenn ich nicht deine Tochter wäre, sondern jemand anderes, und du hättest schon ein Kind, würdest du dir dann wünschen, mich zu haben?" Mit dieser Frage konfrontiert die achtjährige Carrie ihre verdutzte Mutter. Diese Rachel Kee, eine Nachhilfelehrerin, scheint ihr Leben trotz Depressionen und einer schwierigen Kindheit im Griff zu haben - wäre da nicht jener ältere Mann namens Joshua, den sie nicht mag, aber dem sie seit einigen Jahren sexuell hörig ist. Der Roman, an dem nichts die literarische Anfängerin verrät, die Diski Mitte der Achtziger war, zeichnet das Psychogramm dieser Beziehung. Mit dem Hedonisten Christian Grey hat Joshua nichts gemein; "Zorn und Autorität" machen ihn für Rachel attraktiv. Die Begegnungen mit ihm dienen allein der Erfüllung eines Bedürfnisses, von dem sie zuvor nicht einmal ahnte, dass sie es hatte. Hinterher ist sie jedes Mal "elend und tief beschämt" über den Kontrollverlust, den sie zulässt. Doch dann wird ihr klar, dass der Sadist und die Masochistin nicht zwangsläufig zusammengehören: "Ich bin besser als er, dachte sie. Ich habe an meinem Schmerz festgehalten, er hat seinen zerstört. Deshalb kann ich Mitleid mit ihm empfinden, während er den Schmerz anderer genießt."
Der Roman ist in der Schärfe seiner Beobachtungen nicht immer angenehm, aber durchweg klug zu lesen, weil das Reflexionsniveau mit den Geschehnissen Schritt hält, bis zum zynischen Ende. Einen Trend wie "Fifty Shades of Grey" hätte "Küsse & Schläge" damals wie heute nicht einläuten können oder wollen. Diski geht es nicht um Spielarten der Erotik, sondern um Formen der Verdammnis. Wie sie es mit ihnen aufnimmt, ist denkwürdig.
FELICITAS VON LOVENBERG
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