In seinem Streifzug durch Geschichte und Theorie des Küssens fragt Hektor Haarkötter: Was macht das Küssen eigentlich aus? Warum küsst man nicht überall auf der Welt, sondern nur in bestimmten Kulturen? Was verbindet Liebeskuss, Bruderkuss, Abschiedskuss, Filmkuss und den Gutenachtkuss? Haarkötters Antwort: Küssen ist ein Akt der Kommunikation.
Das zeigt er u.a. am naturwissenschaftlichen Wissen über den Kuss, an seiner Geschichte von der Antike bis heute, am Kuss in Film, Literatur, Märchen und der Kunst, an Fragen wie: Ist küssen privat? Was ist der Unterschied zwischen Sex und Küssen? Warum küsst man Gegenstände wie z.B. Ringe? Und was hat die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit all dem zu tun?
Küssen, das zeigt Haarkötter so augenzwinkernd wie informiert, ist eine ganz eigentümliche Art der Kommunikation. Und es könnte sein, dass ihre Zeit zu Ende geht. Doch wie sieht eine Welt aus, in der nicht mehr geküsst wird?
Das zeigt er u.a. am naturwissenschaftlichen Wissen über den Kuss, an seiner Geschichte von der Antike bis heute, am Kuss in Film, Literatur, Märchen und der Kunst, an Fragen wie: Ist küssen privat? Was ist der Unterschied zwischen Sex und Küssen? Warum küsst man Gegenstände wie z.B. Ringe? Und was hat die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit all dem zu tun?
Küssen, das zeigt Haarkötter so augenzwinkernd wie informiert, ist eine ganz eigentümliche Art der Kommunikation. Und es könnte sein, dass ihre Zeit zu Ende geht. Doch wie sieht eine Welt aus, in der nicht mehr geküsst wird?
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Es dauert eine Weile, bis wir erfahren, dass Rezensentin Birgit Schmid überhaupt über Hektor Haarkötters Kulturgeschichte des Küssens schreibt. Zunächst macht sich die Rezensentin nämlich ausführlich Gedanken über das Küssen an sich, den Bruderkuss, den Kuss amerikanischer Soldaten auf die Heimaterde, aber auch über die Viren und Bakterien beim Austausch "feuchter" Küsse und die Fettverbrennung beim Küssen. Man darf vermuten, dass Schmid all das bei Haarkötter erfahren hat, auf den sie dann schließlich auch zu sprechen kommt. Dem Buch entnimmt sie letztlich auch, warum wir überhaupt küssen - und welchen Kulturen der Kuss vollkommen unbekannt ist. Offenbar hat die Kritikerin das Buch mit Gewinn gelesen. Die Mühe eines Lobs macht sie sich nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2024Jetzt lasst uns alle mal schnell in den Dualog treten
Antiautoritärer kann man nicht kommunizieren: Hektor Haarkötter legt eine Kulturgeschichte des Küssens vor
Siegmund Freud beschrieb ihn einst als "berührende Annäherung an den Eingang des Verdauungskanals". Gemeint ist der Kuss, eine kulturelle Praxis, bei der zwei Menschen miteinander kommunizieren, ohne zu reden, nur indem sie ihre Lippen berühren. Doch damit ist es bald vorbei. Das jedenfalls behauptet Hektor Haarkötter. Der Kommunikationswissenschaftler hat dem Küssen eine kulturhistorische Betrachtung gewidmet, in der er sich von der Antike bis in die Popkultur vorarbeitet.
Heute küssen sich Menschen in sechsundvierzig Prozent aller Kulturen. Aufschluss darüber, wie lange man diese Form des Körperkontakts schon pflegt, könnte eine vor fünftausend Jahren durch engen Lippenkontakt ausgelöste Herpes-Pandemie geben. Im dritten Jahrhundert schon will die Kirche verhindern, dass Männer und Frauen sich küssen. Allein der gleichgeschlechtliche Friedenskuss ist erlaubt, alle anderen Küsse gelten als Sünde.
In der Renaissance feiert der Kuss seine Rückkehr. "Sinnenfreude, Weltzugewandtheit und Humanität sind die Kennzeichen dieser Kulturbewegung, und das Küssen ist die perfekte Ausdrucksform", schreibt Haarkötter. Das ändert sich wieder mit der Aufklärung, die das denkende Subjekt gegen den Körper ausspielt. Für Voltaire hatte das Küssen autoritäre Züge, für Kant war es ein Akt fehlender Rationalität - denn allein durch einen Kuss pflanzen Menschen sich nicht fort.
Dann die nächste Wendung: Die Romantik belebt den Kuss, was Haarkötter nachzuweisen glaubt, indem er Rousseau und dessen Sehnsucht nach einer "reinen Liebe" anführt. So geht es hin und her, und es fragt sich, wie sich das Küssen theoretisch fassen lässt. An dieser Stelle versucht sich der Autor zunächst an einer Wortschöpfung: Ein "Dualog" entstehe wenn zwei Menschen sich küssen, allein gelinge dieser Akt der Kommunikation nicht, zu dritt auch ebenso wenig. Sodann definiert Haarkötter das Küssen als "kulturelle Praxis, die in ein gesellschaftliches Ordnungssystem eingepasst ist".
Wer die Ordnung stört, wie etwa der ehemalige Präsident des spanischen Fußballverbandes Luis Rubiales, bringe sie ins Wanken. Für Haarkötter ist die "Kuss-Räson" eine Form der Staatsräson. Küssen sei immer "sanktioniert" und zugleich die "am meisten antiautoritäre Kommunikationsart"; "egalitär" sei es insofern, als es keine Rolle spiele, welches Geschlecht der Kusspartner habe, man schließe ja ohnehin die Augen.
Haarkötter vertritt die Ansicht, der Dualog sei inzwischen einigermaßen erledigt, das Küssen komme also zu einem Ende. Dabei bezieht er sich auf die Soziologin Eva Illouz und ihre Überlegungen zum skopischen Kapitalismus, unter dessen Bedingungen Schönheit zur Ware werde und, jetzt wieder Haarkötter, in ein individuelles "Sich-zu-Markte-Tragen" münde. Kurz gesagt: Alle machen nur noch Selfies, statt zu küssen.
Wer das unterkomplex findet, hat noch nicht gelesen, was Haarkötter über Botox vermeldet. Das Protein macht, ungünstig fürs Küssen, die Lippen fest und gummiartig. Schuld an seiner Beliebtheit sei, man ahnt es, unter anderem Hollywood: Aus der Unterhaltungsindustrie sei eine Schönheitsindustrie geworden, "die zum Skalpell greifen lässt, wo jeder Farbtopf nicht mehr auszureichen scheint". Ob man "gemachte" Lippen küssen möchte, ist gleichwohl eher eine Frage der Präferenz als ein Grund dafür, dass das Küssen ein Ende findet.
Küsse im Kino und Fernsehen haben eine lange Tradition. In den Vereinigten Staaten sorgte 1895 der erste Filmkuss für einen Skandal. William Heise stellte in "The Kiss" die Schlussszene des Broadway-Musicals "The Widow Jones" nach. Sie zeigt einen nur wenige Sekunden dauernden Kuss, den Kritiker prompt als "ekelerregend" bezeichneten, manche sollen sogar nach der Polizei verlangt haben. In Deutschland dauerte es noch hundert Jahre länger, bis ein Filmkuss für Aufregung sorgte: Nachdem sich 1990 in der "Lindenstraße" zwei Männer geküsst hatten, erhielt die ARD eine Bombendrohung.
Der Filmkuss hat Haarkötter zufolge seinen Zauber verloren, denn er sei durch Sex verdrängt worden. Gleiches gelte für die Popmusik: "Pop und Kuss, sie matchten lange wie ein Liebespaar. Zweifelsohne können Du und ich feststellen, dass in der aktuellen populären Musik der Zauber des Küssens verflogen ist." Der Autor verabschiedet den Kuss schließlich mit dem Gefühl, dass Liebe und Sexualität "unendlich kompliziert geworden" und die "Leichtigkeit und Libertinage" der 1960er- und 1970er-Jahre dahin seien.
Dieses Gefühl führt er auf "Genderverhältnisse, Missbrauchsängste, Warenförmigkeit und Machtbeziehungen und deren Aufklärung und Bekämpfung" zurück. Das klingt einigermaßen schief, wenn man bedenkt, dass vor fünfzig Jahren nicht nur die sexuelle Revolution stattfand, sondern auch die radikale Kommerzialisierung von Sex ihren Anfang nahm.
Außerdem - und an dieser Stelle wird es richtig abenteuerlich - sei "der Kuss die Entschuldigung des Westens für die Verletzungen, die er der Welt zugefügt hat". Antisemitismus, Fremdenhass und Fake News zeigten, dass "die Kraft dieser Entschuldigung, dass die Energie des Küssens nachlässt". Das Fazit aus all dem gleicht einer argumentativen Selbstdemontage: "Würden wir doch wieder mehr küssen, die Welt wäre ein friedlicherer Ort!" MINA MARSCHALL
Hektor Haarkötter: "Küssen". Eine berührende Kommunikationsart.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 252 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Antiautoritärer kann man nicht kommunizieren: Hektor Haarkötter legt eine Kulturgeschichte des Küssens vor
Siegmund Freud beschrieb ihn einst als "berührende Annäherung an den Eingang des Verdauungskanals". Gemeint ist der Kuss, eine kulturelle Praxis, bei der zwei Menschen miteinander kommunizieren, ohne zu reden, nur indem sie ihre Lippen berühren. Doch damit ist es bald vorbei. Das jedenfalls behauptet Hektor Haarkötter. Der Kommunikationswissenschaftler hat dem Küssen eine kulturhistorische Betrachtung gewidmet, in der er sich von der Antike bis in die Popkultur vorarbeitet.
Heute küssen sich Menschen in sechsundvierzig Prozent aller Kulturen. Aufschluss darüber, wie lange man diese Form des Körperkontakts schon pflegt, könnte eine vor fünftausend Jahren durch engen Lippenkontakt ausgelöste Herpes-Pandemie geben. Im dritten Jahrhundert schon will die Kirche verhindern, dass Männer und Frauen sich küssen. Allein der gleichgeschlechtliche Friedenskuss ist erlaubt, alle anderen Küsse gelten als Sünde.
In der Renaissance feiert der Kuss seine Rückkehr. "Sinnenfreude, Weltzugewandtheit und Humanität sind die Kennzeichen dieser Kulturbewegung, und das Küssen ist die perfekte Ausdrucksform", schreibt Haarkötter. Das ändert sich wieder mit der Aufklärung, die das denkende Subjekt gegen den Körper ausspielt. Für Voltaire hatte das Küssen autoritäre Züge, für Kant war es ein Akt fehlender Rationalität - denn allein durch einen Kuss pflanzen Menschen sich nicht fort.
Dann die nächste Wendung: Die Romantik belebt den Kuss, was Haarkötter nachzuweisen glaubt, indem er Rousseau und dessen Sehnsucht nach einer "reinen Liebe" anführt. So geht es hin und her, und es fragt sich, wie sich das Küssen theoretisch fassen lässt. An dieser Stelle versucht sich der Autor zunächst an einer Wortschöpfung: Ein "Dualog" entstehe wenn zwei Menschen sich küssen, allein gelinge dieser Akt der Kommunikation nicht, zu dritt auch ebenso wenig. Sodann definiert Haarkötter das Küssen als "kulturelle Praxis, die in ein gesellschaftliches Ordnungssystem eingepasst ist".
Wer die Ordnung stört, wie etwa der ehemalige Präsident des spanischen Fußballverbandes Luis Rubiales, bringe sie ins Wanken. Für Haarkötter ist die "Kuss-Räson" eine Form der Staatsräson. Küssen sei immer "sanktioniert" und zugleich die "am meisten antiautoritäre Kommunikationsart"; "egalitär" sei es insofern, als es keine Rolle spiele, welches Geschlecht der Kusspartner habe, man schließe ja ohnehin die Augen.
Haarkötter vertritt die Ansicht, der Dualog sei inzwischen einigermaßen erledigt, das Küssen komme also zu einem Ende. Dabei bezieht er sich auf die Soziologin Eva Illouz und ihre Überlegungen zum skopischen Kapitalismus, unter dessen Bedingungen Schönheit zur Ware werde und, jetzt wieder Haarkötter, in ein individuelles "Sich-zu-Markte-Tragen" münde. Kurz gesagt: Alle machen nur noch Selfies, statt zu küssen.
Wer das unterkomplex findet, hat noch nicht gelesen, was Haarkötter über Botox vermeldet. Das Protein macht, ungünstig fürs Küssen, die Lippen fest und gummiartig. Schuld an seiner Beliebtheit sei, man ahnt es, unter anderem Hollywood: Aus der Unterhaltungsindustrie sei eine Schönheitsindustrie geworden, "die zum Skalpell greifen lässt, wo jeder Farbtopf nicht mehr auszureichen scheint". Ob man "gemachte" Lippen küssen möchte, ist gleichwohl eher eine Frage der Präferenz als ein Grund dafür, dass das Küssen ein Ende findet.
Küsse im Kino und Fernsehen haben eine lange Tradition. In den Vereinigten Staaten sorgte 1895 der erste Filmkuss für einen Skandal. William Heise stellte in "The Kiss" die Schlussszene des Broadway-Musicals "The Widow Jones" nach. Sie zeigt einen nur wenige Sekunden dauernden Kuss, den Kritiker prompt als "ekelerregend" bezeichneten, manche sollen sogar nach der Polizei verlangt haben. In Deutschland dauerte es noch hundert Jahre länger, bis ein Filmkuss für Aufregung sorgte: Nachdem sich 1990 in der "Lindenstraße" zwei Männer geküsst hatten, erhielt die ARD eine Bombendrohung.
Der Filmkuss hat Haarkötter zufolge seinen Zauber verloren, denn er sei durch Sex verdrängt worden. Gleiches gelte für die Popmusik: "Pop und Kuss, sie matchten lange wie ein Liebespaar. Zweifelsohne können Du und ich feststellen, dass in der aktuellen populären Musik der Zauber des Küssens verflogen ist." Der Autor verabschiedet den Kuss schließlich mit dem Gefühl, dass Liebe und Sexualität "unendlich kompliziert geworden" und die "Leichtigkeit und Libertinage" der 1960er- und 1970er-Jahre dahin seien.
Dieses Gefühl führt er auf "Genderverhältnisse, Missbrauchsängste, Warenförmigkeit und Machtbeziehungen und deren Aufklärung und Bekämpfung" zurück. Das klingt einigermaßen schief, wenn man bedenkt, dass vor fünfzig Jahren nicht nur die sexuelle Revolution stattfand, sondern auch die radikale Kommerzialisierung von Sex ihren Anfang nahm.
Außerdem - und an dieser Stelle wird es richtig abenteuerlich - sei "der Kuss die Entschuldigung des Westens für die Verletzungen, die er der Welt zugefügt hat". Antisemitismus, Fremdenhass und Fake News zeigten, dass "die Kraft dieser Entschuldigung, dass die Energie des Küssens nachlässt". Das Fazit aus all dem gleicht einer argumentativen Selbstdemontage: "Würden wir doch wieder mehr küssen, die Welt wäre ein friedlicherer Ort!" MINA MARSCHALL
Hektor Haarkötter: "Küssen". Eine berührende Kommunikationsart.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 252 S., geb., 24,- Euro.
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Hektor Haarkötter erforscht den Kuss als Kommunikationsform. Er tut dies als erster und in betörender Vollständigkeit. NDR Kultur 20240509