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Produktdetails
  • Werke in zehn Lieferungen Lief.2/2
  • Verlag: Kontext
  • Seitenzahl: 336
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 384g
  • ISBN-13: 9783931337346
  • ISBN-10: 3931337340
  • Artikelnr.: 07848823
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die feinen Hände der Muttergottes
Fern der unmelodischen Reflexionen: Pawel Florenskij im Sergei-Kloster / Von Lorenz Jäger

Ein weiterer Band in der Ausgabe der Schriften Pawel Florenskijs liegt vor, und damit eine neue Möglichkeit, Einblick in eines der erregendsten philosophischen und theologischen Werke zu nehmen, das seit gut einem Jahrzehnt auf deutsch erschienen ist. Jeder, der auch nur eine Seite liest, ist frappiert von der geistigen Kraft, der einzigartigen Konzentration, die er hier am Werk sieht, mag sie sich einmal als strenge wissenschaftliche Überlegung äußern, ein anderes Mal als spekulativer Entwurf einer inneren, religiös-politischen Geschichte Rußlands, ein drittes Mal in der Form einer platonischen Ideenlehre.

Damit ist schon gesagt, daß Florenskijs Werk, bei aller echten Wissenschaftlichkeit, außerhalb der neuzeitlich-westlichen philosophischen Voraussetzungen steht. Die Geschichte geht hier den Weg von der griechischen Antike über das christliche Byzanz nach Rußland, und es ist die Geschichte einer Religion, die von der jungfräulichen Artemis und der Großen Mutter, fast ohne Schwellen, in das Bild der Gottesmutter fließt. Die Geschichte eines Denkens zudem, das an wahren Urbildern festhält. Dem Mitteleuropäer tritt hier eine fremde geistige Welt entgegen, und er hat die Möglichkeit, den wahren Abstand auszumessen, der ihn von der Ostkirche und ihren Lehren trennt - oder er kann das ungebrochen ontolgische Philosophieren als Herausforderung nehmen, die eigenen rationalistisch-skeptischen Voraussetzungen zu überprüfen. So stellt sich Florenskijs Philosophie als eine Rechtfertigung Rußlands dar, die zu einer Zeit entstand, als das, was die "russische Idee" zu nennen sich Florenskij wohl nicht gescheut hätte, seine schwerste, an den Rand der Vernichtung führende Krisis durchmachte: in der Zeit unmittelbar nach der Oktoberrevolution.

Das Exil scheint Florenskij nicht erwogen zu haben. Während der zwanziger Jahre war er wissenschaftlich tätig, und noch im Lager unternahm er geologische Forschungen. Wie sehr er an seinem Land festhielt, erweisen die ersten der hier versammelten Aufsätze, die nach einem Weg suchen, an der erkannten Wahrheit unter den neuen Verhältnissen festzuhalten. Die Studie zum Dreifaltigkeits-Sergei-Kloster und seiner Bedeutung für die russische Geschichte eröffnet den Band. Sie erschien 1919, wurde aber aufgrund eines denunziatorischen Artikels alsbald eingestampft. Florenskij hatte sich damals der Staatlichen Kommission zur Verfügung gestellt, die über die künftige Nutzung des Klosters zu beraten hatte.

Vom Dreifaltigkeits-Sergei-Kloster hatte der Patriarch von Antiochien bei einem Besuch 1655 geäußert, es sei der schönste Ort der ganzen Erde. Die Kirche der heiligen Dreifaltigkeit sei derart schön, "daß man sie nicht verlassen möchte". Damit beginnt Florenskij, um dann den Gründen dieser Schönheit nachzugehen. Der subtile Zauber des Ortes und seiner Anlagen wird Schritt für Schritt erschlossen. Die Ästhetik ist die Vorschule, die zur wahren, politisch-staatlichen Bedeutung des Klosters führt: "Hier wird das Urteil der Geschichte gefällt, hier wird über alle Fragen des russischen Lebens Gericht gehalten. Dieses Gericht ist das des gesamten Volkes und damit zugleich das absolute Gericht. Es ist jene allseitige, lebendige Einheit des Klosters als Mikrokosmos und Mikrogeschichte, als eine Art Seinsentwurf unserer Heimat, die diesem Kloster den Charakter des Noumenalen verleiht. Hier schlägt, deutlicher spürbar als anderswo, der Puls der russischen Geschichte, hier sind die empfindsamsten und beweglichsten Nervenenden versammelt, hier spürt man Rußland als Ganzes."

Tatsächlich sind für die Selbstbehauptung des christlichen Rußland gegen die Tataren im späten Mittelalter das Kloster und das Wirken des heiligen Sergei kaum zu überschätzen. Im dritten Beitrag dieses Bandes schildert und analysiert Florenskij die Gebetsikonen des Heiligen. So entfaltet sich ein Zusammenhang von religiösem Leben, Staatsbildung und künstlerischer Praxis. Zu den schönsten Partien gehört dabei die physiognomische, ja chirognomische Deutung von Antlitz und Händen der Ikonenfiguren. Denn von den Händen glaubt Florenskij, sie seien, nach dem Gesicht, das wichtigste "Instrument des Ausdrucks und der Synthese charakterologischer Merkmale". Von den Händen der Gottesmutter, wie sie die Gebetsikone des Heiligen zeigt, schreibt er, sie seien "innerlich rhythmisch, durchdrungen von Musikalität und enormer Sensibilität. Die langen, schlanken Finger sind mit ihrer sich zu den Spitzen hin verjüngenden, sogenannten konischen Form, mit ihren sehr zart angedeuteten Gelenken und den völlig fehlenden Knoten und Unebenheiten, die Zeichen von innerem Stocken und Reflexion wären, ein charakteristischer Ausdruck der innerlich gefestigten, melodischen und reinen Seele der Gottesmutter."

Wie anders, geradezu entgegengesetzt, das Bild, das die Ikone des heiligen Nikolaus zeigt: das Gesicht bestimmt vom durchdringenden Blick, den Florenskij, mit Berufung auf indische Weisheitslehren, als Andeutung des "dritten Auges" versteht. Und die Hand: hager und knochig, "mit deutlich hervorgehobenen Knoten und zylinderförmigen, nicht spitz, sondern rechteckig auslaufenden Fingern, mithin die Hand eines Denkers, eines diskursiven Denkers, eines Menschen, bei dem der Verstand vor der Intuition und die Anstrengung des Geistes vor der unmittelbaren Einsicht kommen". Die beiden Gebetsikonen hatte der Heilige also bewußt gewählt, sie bedeuteten eine notwendige Polarität des geistlichen Lebens. Wo anthropologische Einsichten und theologisch-politische in solcher Intensität zusammentreffen wie hier, überkommt den Leser bei aller Freude eine gewisse Melancholie, daß man dafür achtzig Jahre zurückblättern muß.

In den letzten beiden Aufsätzen dieses Batendes lernt man Florenskij als einen Denker der Ökumene kennen. Es verwundert nicht, daß er mit scharfen Worten vor einer globalistischen Ökumene warnt, die eine Vereinigung der "gesamten Menschheit in einer Art humanistischen Leere" bedeuten würde. Einige Jahrzehnte zuvor hatte der russische Religionsphilosoph in solchen Utopien sogar die aktuelle Form des Antichristen sehen wollen. Dennoch überrascht es, daß Florenskijs Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit anderen christlichen Gruppen sehr weit geht und sogar eine britische protestantische Sekte mit Wohlwollen betrachtet wird; vielleicht, weil der große Wissenschaftlter Faraday ihr zeitweise vorstand. Florenskij hatte eine eigene Theorie der Unduldsamkeit. Nicht der Fanatismus sei dafür verantwortlich, sondern gerade die neuzeitliche Unfähigkeit, die Religion wirklich von innen her und nicht als ein abgestorbenes Museumsstück aufzufassen. Niemals aus dem geistig erfaßten Bekenntnis könnten die Zwistigkeiten entstehen, sondern nur aus einer veräußerlichten Betrachtung.

Pawel Florenskij: "Christentum und Kultur". Aus dem Russischen von Anett Jubara, Fritz Mierau, Jörg Milbradt und Ulrich Werner. Hrsg. von Christian Hufen. Kontext Verlag, Berlin 2004. 336 S., br., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der mitteleuropäische Leser stößt in den Untersuchungen Pawel Florenskijs auf eine "fremde geistige Welt" - möglich wird so eine, glaubt man dem Rezensenten Lorenz Jäger, aufregende Begegnung mit einem der "erregendsten philosophischen und theologischen Werke" des 20. Jahrhunderts. Entstanden ist es in den Jahren nach der Oktoberrevolution, noch unter schwierigsten Umständen hielt Florenskij an seinen Untersuchungen der orthodox-christlichen Tradition fest. Im ersten Beitrag des Bandes arbeitet der Autor die Bedeutung des "Dreifaltigkeits-Sergei-Klosters" heraus, das er als "eine Art Seinsentwurf unserer Heimat" begreift und beschreibt. Nicht weniger überzeugend findet Jäger die in einem anderen Aufsatz vorgenommene "physiognomische, ja chirognomische Deutung von Antlitz und Händen der Ikonenfiguren". Für diesen wie für andere Texte des Bandes gilt, dass der Rezensent "frappiert ist von der geistigen Kraft, der einzigartigen Konzentration", die er hier am Werk sieht.

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