In kritischer Auseinandersetzung mit der Biologie, insbesondere der Soziobiologie zeigt Walter Burkert an Zeugnissen der alten, vorchristlichen, vorislamischen Religionen, wie die Grundformen religiösen Verhaltens sich aus biologisch vorgegebenen Programmen entfaltet haben könnten. Sein Buch, das zuerst in den Vereinigten Staaten erschien, hat zu kontroversen Urteilen geführt, aber alle Besprechungen bewundern die Sachkenntnis, den Ideenreichtum des Autors und seine Darstellungskunst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Die Superhackordnung
Das Reich Gottes ist nicht von Menschenhand gemacht: Walter Burkert führt es auf die Tierwelt zurück / Von Caroline Neubaur
Die meisten Autoren, die sich mit dem Motiv des Ursprungs befassen, verfallen leicht einer Obsession, die überall nur noch Ursprünge sieht. Dieser Neigung hat der Altphilologe Walter Burkert, der Verfasser von "Homo Necans", nie stattgegeben. Mit Recht jedoch insistiert er darauf, daß wir von den Urfiguren des Lebens, vom "biologischen Unterbau samt dem Wissen, daß es letztlich um das ,Leben' geht", nicht loskommen.
In seinem neuen Buch, "Kulte der Religion", zeigt Burkert die Umrisse einer Phänomenologie der Religion. Es geht darin nicht nur um einen Urmord, nicht nur um das Töten um des Überlebens willen, sondern auch um die Flucht, die Suche, das Nehmen und Geben, das Marcel Mauss als die Sozialstruktur par excellence beschrieben hat. Glenn Most hat über Burkert gesagt, er habe mit seinem Werk die Kluft geschlossen, die die "Cambridge school of anthropology" hinterlassen hatte: die Kluft zwischen Ritus und Mythos, zwischen religiösem Handeln und religiösem Wort.
"Warum und wieso", lautet Burkerts Ausgangsfrage, ist "in der Evolution der Lebensprozesse Religion geschaffen worden"? Gebe es "ein ,natürliches' Fundament der Religion"? In einem fulminanten Einleitungskapitel skizziert er, inwiefern die Überlebensstrategien der Primaten sich in den Überlebensstrategien der Religionen fortsetzen. Burkert schließt an das Konzept der "selbstsüchtigen Gene" des englischen Biologen Richard Dawkins an. "Die Ausbreitung von Religion", schreibt er, lasse sich "als ein soziobiologischer Feldzug darstellen, der über die Auslese zur Ausmerzung der ,anderen' führen mußte". Es wäre zu erwarten gewesen, daß die einzelnen Kapitel den soziobiologischen Ansatz systematisch verfolgen. Davon kann aber nur bedingt die Rede sein.
Das Kapitel über "Opfer der Verfolgten" paßt sich der Fragestellung immerhin nahtlos ein. Wenn die Religion insgesamt, wie Burkert formuliert, "eine Strategie des Lebens auf dem Hintergrund des Todes" ist, dann erscheint ein Pars-pro-toto-Kalkül vernünftig: einen Finger oder die Vorhaut als "Anzahlung" auf das Leben zu geben. Der sogenannten "freiwilligen" Verstümmelung der Menschen entspricht die im genetischen Programm eingeplante Verstümmelung beispielweise der Eidechse, deren Schwanz bei der Flucht abbricht.
Auf die "Schreck-Mauser" der Vögel, die plötzlich ihr Federkleid im Maul des Angreifers lassen, um dann nackt entschlüpfen zu können, spielen zahllose antike Mythen an. Wo, muß man fragen, liegt der Vergleich? Sind diese Anspielungen nur als Analogien zum Tierreich zu verstehen? Und ist der "heilige Schauder" bei Militärparaden wirklich dadurch bestimmt, daß man ihn mit Konrad Lorenz auf die gesträubte Rückenmähne der Tiere zurückführt? Entsteht der heilige Schauder nicht vielmehr aus dem psychologisch entlastenden Gefühl, die eigene Identität in der Gruppe aufgehen zu lassen? Bei aller Subtilität läßt Burkert jeden Ansatz zum dialektischen Denken vermissen. Auch wäre ein bißchen Semiotik bisweilen am Platz gewesen; mit ihrer Hilfe ließe sich erklären, wie Rituale sich von den alten Motiven emanzipiert haben. In der hebräischen Bibel wimmelt es von solchen Transformationsvorgängen.
Spannend ist das Kapitel über Handlungsprogramm und Erzählstruktur, in dem Burkert sich auf Theorien von V. Propp, einem Spezialisten für Narrationsformen, bezieht. Die große Abenteuersuche der Heroen sei in der Futtersuche der Primaten vorgebildet. Hätten die Primaten ein Lagerfeuer gekannt, hätten sie sich schon mit Grunzern über heroische Geschichten ihrer Artgenossen verständigen können, jedoch seien - bei aller Verstandeskraft der Primaten - neunzig Prozent ihrer Zeit mit Futtersuche ausgefüllt gewesen. Erst in dem Augenblick, wo die Futtersuche ihren Anlaß transzendiere, könne die Suche frei flottieren, könnten sich Heldengeschichten ausbilden. Die biologische Grundlage des Handlungsprogramms der (männlichen) Erzählstruktur ist also die Futtersuche der Primaten.
An dieser Stelle erwartet man so etwas wie einen biologisch-anthropologischen Grundmotivschatz: Wenn sich das Opfer des Verfolgten als erfolgreiche Flucht beschreiben läßt und wenn sich die Erzählstruktur als erfolgreiche Suche beschreiben läßt, müßte das nicht zu der Frage führen, ob Flucht und Suche vielleicht die beiden entscheidenden biologischen Konstanten seien? Aber Burkert äußert sich dazu nicht. Im Hierarchie-Kapitel heißt es lediglich, Rangordnungen seien im Tierreich ebenso vorhanden wie im Menschenreich. Es gibt eine Hackordnung hier wie dort, und dann gibt es die Superhackordnung, das ist die Götterwelt darüber. Wiederum wird nicht reflektiert, daß es Vermittlungen geben kann, in denen das Unten zum Oben wird und umgekehrt. Das Kapitel über Hierarchie ist dementsprechend spannungslos.
Im Kapitel "Schuld und Kausalität" wäre ein Auftritt der Biologie zu erwarten. Und tatsächlich: Auch Tiere, heißt es da etwas platt, wollten von Schmerz freikommen. Die biologische Grundlage wird ex negativo definiert, denn bis auf hohe Primaten, die die "kleine Ursache des Leidens", den Dorn, entdecken und entfernen, ist diese Fähigkeit im Tierreich nicht vorgebildet: Natürlich empfinden Tiere Schmerz; aber daß Heilmittel ersonnen werden, die gleichsam die Wunden der Zeit heilen, geschieht nur im Menschenreich. Nach Schuld und Kausalität forschen heißt in der Zeit forschen, Tiere aber haben kein Zeitbewußtsein.
Anschließend erörtert Burkert den Begriff der Befleckung und konstatiert: "Offensichtlich hat die universelle Sorge, die auf Beschmutzung und Reinigung gerichtet ist, ihre biologischen Wurzeln. Sich sauber zu halten ist eine grundlegende Notwendigkeit für alle höheren Lebewesen." Jede Katze würde das bestätigen. Burkert müßte aber beweisen, daß zwischen moralischer Reinigung und körperlicher Hygiene nicht nur eine Analogie, sondern ein Abstammungsverhältnis besteht. Trotzdem sind Burkerts Bemerkungen über Schuld und Kausalität spannend. Der Autor zeigt, was er als Gräzist alles vermag. Souverän überblickt er die weitläufige Landschaft spätantiker Reinigungs- und Entsühnungskulte.
Im Kapitel über die Wurzeln von "Nehmen und Geben" werden Beuteverteilen und Zugriff als zentrale gesellschaftsstiftende Tätigkeiten ausgemacht. Tatsächlich lernen ja schon Gymnasiasten im Lateinunterricht, daß der princeps so heißt, weil er als erster zulangen durfte. Das fällt jedoch in die kulturelle Sphäre. Ausgerechnet dort verzichtet Burkert bedauerlicherweise darauf, Analogien zwischen der Kultur und dem Tierreich zu ziehen, wo sie naheliegen: Wenn die Lieblingsfrau eines alten Affen einen Leckerbissen von ihm gebracht bekommt und ihn dafür hingebungsvoll krault, kann man diesen Vorgang doch wohl auch unter "Geben und Nehmen" subsumieren.
Der "Abschluß" des Buches beginnt mit Burkerts Definition von Religion: "Religion erscheint in dieser Studie als uralte Tradition einer ernsthaften Kommunikation mit unsichtbaren Partnern und einer indirekten Kommunikation mit Hilfe eben dieser. Die mächtigen Bundesgenossen, die unsere Vorfahren gewinnen wollten, scheint Burkert für die Gegenwart nicht mehr zu sehen. Seine Periodisierung läuft auf ein Ende der Religion hinaus. Wäre es auch noch biologisch zu erklären? Derzeit ist schwer voraussehbar, wie sich die Globalisierung der Informationen anthropologisch auswirken wird. Welche Gruppen profitieren von ihr, welche werden ausgeschlossen? Solche Verdrängungskämpfe machen die Geschichte des Tierreichs aus. Dieses Moment des Streits kommt in Burkerts harmonistisch-systemtheoretischem Ansatz zu kurz. Karl Kerényi spricht vom "Urbild des unzerstörbaren Lebens" und steht damit im Bann eines bestimmten Kultes: der Dionysoskult beziehe sein Heilsversprechen daraus, daß das unzerstörbare Leben in jedem zum Tode verurteilten Einzelleben beschworen wird. Auch Burkert geht es "um das Leben". Er will das Universalbild einer Religion bieten, das sie von ihrer Verwurzelung in den Strategien des Lebens nicht trennt. Aber weil er keine Brüche sieht, gibt es für ihn keine Neuanfänge.
Bei aller Detailkritik ist das Buch ein so sympathisches wie erstaunliches Dokument: In seiner Insistenz auf der Biologie hat es etwas Freudianisches, in seiner Betonung des Physiognomischen - "Religion folgt noch immer den Urstromtälern einer biologischen Landschaft" - etwas Romantisches. Nehmt alles nur in allem, sagt Burkert wie Freud im "Unbehagen der Kultur": Der Mensch ist nicht human, wir können nur die leise Hoffnung hegen, daß er einmal aus seinen Zwängen herauskommt. Was die Weite des Horizonts betrifft, ist das Buch "typisch deutsch" und hebt sich stark ab von der "französischen Schule", die nur die Polis als Kultmatrix gelten läßt. Angesichts so einer Verengung kann ein Blick auf unsere Brüder Schimpansen und die "selbstsüchtigen Gene" nicht schaden.
Walter Burkert: "Kulte des Altertums". Biologische Grundlagen der Religion. Verlag C. H. Beck, München 1998. 279 S., geb., 58,- DM.
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Das Reich Gottes ist nicht von Menschenhand gemacht: Walter Burkert führt es auf die Tierwelt zurück / Von Caroline Neubaur
Die meisten Autoren, die sich mit dem Motiv des Ursprungs befassen, verfallen leicht einer Obsession, die überall nur noch Ursprünge sieht. Dieser Neigung hat der Altphilologe Walter Burkert, der Verfasser von "Homo Necans", nie stattgegeben. Mit Recht jedoch insistiert er darauf, daß wir von den Urfiguren des Lebens, vom "biologischen Unterbau samt dem Wissen, daß es letztlich um das ,Leben' geht", nicht loskommen.
In seinem neuen Buch, "Kulte der Religion", zeigt Burkert die Umrisse einer Phänomenologie der Religion. Es geht darin nicht nur um einen Urmord, nicht nur um das Töten um des Überlebens willen, sondern auch um die Flucht, die Suche, das Nehmen und Geben, das Marcel Mauss als die Sozialstruktur par excellence beschrieben hat. Glenn Most hat über Burkert gesagt, er habe mit seinem Werk die Kluft geschlossen, die die "Cambridge school of anthropology" hinterlassen hatte: die Kluft zwischen Ritus und Mythos, zwischen religiösem Handeln und religiösem Wort.
"Warum und wieso", lautet Burkerts Ausgangsfrage, ist "in der Evolution der Lebensprozesse Religion geschaffen worden"? Gebe es "ein ,natürliches' Fundament der Religion"? In einem fulminanten Einleitungskapitel skizziert er, inwiefern die Überlebensstrategien der Primaten sich in den Überlebensstrategien der Religionen fortsetzen. Burkert schließt an das Konzept der "selbstsüchtigen Gene" des englischen Biologen Richard Dawkins an. "Die Ausbreitung von Religion", schreibt er, lasse sich "als ein soziobiologischer Feldzug darstellen, der über die Auslese zur Ausmerzung der ,anderen' führen mußte". Es wäre zu erwarten gewesen, daß die einzelnen Kapitel den soziobiologischen Ansatz systematisch verfolgen. Davon kann aber nur bedingt die Rede sein.
Das Kapitel über "Opfer der Verfolgten" paßt sich der Fragestellung immerhin nahtlos ein. Wenn die Religion insgesamt, wie Burkert formuliert, "eine Strategie des Lebens auf dem Hintergrund des Todes" ist, dann erscheint ein Pars-pro-toto-Kalkül vernünftig: einen Finger oder die Vorhaut als "Anzahlung" auf das Leben zu geben. Der sogenannten "freiwilligen" Verstümmelung der Menschen entspricht die im genetischen Programm eingeplante Verstümmelung beispielweise der Eidechse, deren Schwanz bei der Flucht abbricht.
Auf die "Schreck-Mauser" der Vögel, die plötzlich ihr Federkleid im Maul des Angreifers lassen, um dann nackt entschlüpfen zu können, spielen zahllose antike Mythen an. Wo, muß man fragen, liegt der Vergleich? Sind diese Anspielungen nur als Analogien zum Tierreich zu verstehen? Und ist der "heilige Schauder" bei Militärparaden wirklich dadurch bestimmt, daß man ihn mit Konrad Lorenz auf die gesträubte Rückenmähne der Tiere zurückführt? Entsteht der heilige Schauder nicht vielmehr aus dem psychologisch entlastenden Gefühl, die eigene Identität in der Gruppe aufgehen zu lassen? Bei aller Subtilität läßt Burkert jeden Ansatz zum dialektischen Denken vermissen. Auch wäre ein bißchen Semiotik bisweilen am Platz gewesen; mit ihrer Hilfe ließe sich erklären, wie Rituale sich von den alten Motiven emanzipiert haben. In der hebräischen Bibel wimmelt es von solchen Transformationsvorgängen.
Spannend ist das Kapitel über Handlungsprogramm und Erzählstruktur, in dem Burkert sich auf Theorien von V. Propp, einem Spezialisten für Narrationsformen, bezieht. Die große Abenteuersuche der Heroen sei in der Futtersuche der Primaten vorgebildet. Hätten die Primaten ein Lagerfeuer gekannt, hätten sie sich schon mit Grunzern über heroische Geschichten ihrer Artgenossen verständigen können, jedoch seien - bei aller Verstandeskraft der Primaten - neunzig Prozent ihrer Zeit mit Futtersuche ausgefüllt gewesen. Erst in dem Augenblick, wo die Futtersuche ihren Anlaß transzendiere, könne die Suche frei flottieren, könnten sich Heldengeschichten ausbilden. Die biologische Grundlage des Handlungsprogramms der (männlichen) Erzählstruktur ist also die Futtersuche der Primaten.
An dieser Stelle erwartet man so etwas wie einen biologisch-anthropologischen Grundmotivschatz: Wenn sich das Opfer des Verfolgten als erfolgreiche Flucht beschreiben läßt und wenn sich die Erzählstruktur als erfolgreiche Suche beschreiben läßt, müßte das nicht zu der Frage führen, ob Flucht und Suche vielleicht die beiden entscheidenden biologischen Konstanten seien? Aber Burkert äußert sich dazu nicht. Im Hierarchie-Kapitel heißt es lediglich, Rangordnungen seien im Tierreich ebenso vorhanden wie im Menschenreich. Es gibt eine Hackordnung hier wie dort, und dann gibt es die Superhackordnung, das ist die Götterwelt darüber. Wiederum wird nicht reflektiert, daß es Vermittlungen geben kann, in denen das Unten zum Oben wird und umgekehrt. Das Kapitel über Hierarchie ist dementsprechend spannungslos.
Im Kapitel "Schuld und Kausalität" wäre ein Auftritt der Biologie zu erwarten. Und tatsächlich: Auch Tiere, heißt es da etwas platt, wollten von Schmerz freikommen. Die biologische Grundlage wird ex negativo definiert, denn bis auf hohe Primaten, die die "kleine Ursache des Leidens", den Dorn, entdecken und entfernen, ist diese Fähigkeit im Tierreich nicht vorgebildet: Natürlich empfinden Tiere Schmerz; aber daß Heilmittel ersonnen werden, die gleichsam die Wunden der Zeit heilen, geschieht nur im Menschenreich. Nach Schuld und Kausalität forschen heißt in der Zeit forschen, Tiere aber haben kein Zeitbewußtsein.
Anschließend erörtert Burkert den Begriff der Befleckung und konstatiert: "Offensichtlich hat die universelle Sorge, die auf Beschmutzung und Reinigung gerichtet ist, ihre biologischen Wurzeln. Sich sauber zu halten ist eine grundlegende Notwendigkeit für alle höheren Lebewesen." Jede Katze würde das bestätigen. Burkert müßte aber beweisen, daß zwischen moralischer Reinigung und körperlicher Hygiene nicht nur eine Analogie, sondern ein Abstammungsverhältnis besteht. Trotzdem sind Burkerts Bemerkungen über Schuld und Kausalität spannend. Der Autor zeigt, was er als Gräzist alles vermag. Souverän überblickt er die weitläufige Landschaft spätantiker Reinigungs- und Entsühnungskulte.
Im Kapitel über die Wurzeln von "Nehmen und Geben" werden Beuteverteilen und Zugriff als zentrale gesellschaftsstiftende Tätigkeiten ausgemacht. Tatsächlich lernen ja schon Gymnasiasten im Lateinunterricht, daß der princeps so heißt, weil er als erster zulangen durfte. Das fällt jedoch in die kulturelle Sphäre. Ausgerechnet dort verzichtet Burkert bedauerlicherweise darauf, Analogien zwischen der Kultur und dem Tierreich zu ziehen, wo sie naheliegen: Wenn die Lieblingsfrau eines alten Affen einen Leckerbissen von ihm gebracht bekommt und ihn dafür hingebungsvoll krault, kann man diesen Vorgang doch wohl auch unter "Geben und Nehmen" subsumieren.
Der "Abschluß" des Buches beginnt mit Burkerts Definition von Religion: "Religion erscheint in dieser Studie als uralte Tradition einer ernsthaften Kommunikation mit unsichtbaren Partnern und einer indirekten Kommunikation mit Hilfe eben dieser. Die mächtigen Bundesgenossen, die unsere Vorfahren gewinnen wollten, scheint Burkert für die Gegenwart nicht mehr zu sehen. Seine Periodisierung läuft auf ein Ende der Religion hinaus. Wäre es auch noch biologisch zu erklären? Derzeit ist schwer voraussehbar, wie sich die Globalisierung der Informationen anthropologisch auswirken wird. Welche Gruppen profitieren von ihr, welche werden ausgeschlossen? Solche Verdrängungskämpfe machen die Geschichte des Tierreichs aus. Dieses Moment des Streits kommt in Burkerts harmonistisch-systemtheoretischem Ansatz zu kurz. Karl Kerényi spricht vom "Urbild des unzerstörbaren Lebens" und steht damit im Bann eines bestimmten Kultes: der Dionysoskult beziehe sein Heilsversprechen daraus, daß das unzerstörbare Leben in jedem zum Tode verurteilten Einzelleben beschworen wird. Auch Burkert geht es "um das Leben". Er will das Universalbild einer Religion bieten, das sie von ihrer Verwurzelung in den Strategien des Lebens nicht trennt. Aber weil er keine Brüche sieht, gibt es für ihn keine Neuanfänge.
Bei aller Detailkritik ist das Buch ein so sympathisches wie erstaunliches Dokument: In seiner Insistenz auf der Biologie hat es etwas Freudianisches, in seiner Betonung des Physiognomischen - "Religion folgt noch immer den Urstromtälern einer biologischen Landschaft" - etwas Romantisches. Nehmt alles nur in allem, sagt Burkert wie Freud im "Unbehagen der Kultur": Der Mensch ist nicht human, wir können nur die leise Hoffnung hegen, daß er einmal aus seinen Zwängen herauskommt. Was die Weite des Horizonts betrifft, ist das Buch "typisch deutsch" und hebt sich stark ab von der "französischen Schule", die nur die Polis als Kultmatrix gelten läßt. Angesichts so einer Verengung kann ein Blick auf unsere Brüder Schimpansen und die "selbstsüchtigen Gene" nicht schaden.
Walter Burkert: "Kulte des Altertums". Biologische Grundlagen der Religion. Verlag C. H. Beck, München 1998. 279 S., geb., 58,- DM.
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