Was macht den Mensch zum Menschen? Generationen von Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, doch wohl keiner hat sie bislang mit der Leichtigkeit und dem funkelnden Geist eines Terry Eagleton beantworten können. Eagleton macht die Kultur als prägenden Aspekt unseres Menschseins aus und spannt in dieser so scharfsinnigen wie witzigen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Er zeigt den Verfall der Religion und den Aufstieg und die Herrschaft der "unkultivierten" Massen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.
"Eagleton ist ein begnadeter Polemiker und Stilist." Die Zeit
"Eagleton ist ein begnadeter Polemiker und Stilist." Die Zeit
Das Konzept der Höflichkeit ist politischer Natur
Vielfalt hat einen erschreckend hohen Preis: Terry Eagleton meidet akademische Gummibegriffe, wenn er Kultur als gelingende Zivilisation beschreibt.
Von Magnus Klaue
Ein Akademiker, der ein nur zweihundert Seiten umfassendes Bändchen mit dem Titel "Kultur" auf den Markt bringt, muss entweder sehr mutig oder sehr naiv sein. Der vierundsiebzigjährige Literaturtheoretiker Terry Eagleton verkörpert die glückliche Personalunion beider Eigenschaften. Absolvent einer Klosterschule in Manchester und Schüler von Raymond Williams, dem Doyen der Kulturwissenschaften in Großbritannien, bekennt sich Eagleton ebenso selbstverständlich zu seiner Prägung durch den Katholizismus, wie er sich im postkommunistischen Zeitalter als Marxist bezeichnet. Die kindliche Spontaneität, die in solchem Festhalten an historisch überholten Erfahrungen zum Ausdruck kommt, prägt auch seine theoretischen Schriften. Was deutschen Geisteswissenschaftlern in ihrem Bemühen, Popularität und akademischen Konformismus in Einklang zu bringen, regelmäßig zur Peinlichkeit missrät, gelingt Eagleton mit der scheinbaren Leichtigkeit eines Zauberkünstlers.
Schon in früheren Veröffentlichungen über "Ästhetik" (1990), "Ideologie" (1991) und "Die Illusionen der Postmoderne" (1996) hat Eagleton die Fähigkeit bewiesen, einen zugleich überblickshaft-orientierenden und polemisch-urteilenden Blick auf gängige Gummibegriffe des akademischen Betriebs zu werfen. Mit "Kultur" widmet er sich in seinem neuesten Buch dem vielleicht beliebtesten unter ihnen. Seine zentrale These, dass "Kultur" als "eine Art soziales Unbewusstes" fungiere und dass in dieser Irreduzibilität aufs Bewusstsein ebenso das bedrohliche wie das zivilisierende Potential von Kultur liege, entlehnt Eagleton bei Williams. Dabei behält er die Differenz zwischen dem angloamerikanischen Kulturbegriff, der Kultur als alltägliche gesellschaftliche Praxis versteht, und dem deutschen, der sie zum die Gesellschaft transzendierenden Wert stilisiert, im Blick. In Opposition zu "Zivilisation" bezeichne "Kultur", vor allem in der deutschen Tradition, meist vormodern konnotierte "Werte", die vom gesellschaftlichen Fortschritt zerstört zu werden drohten.
Diese Tradition, die in der Kritik der englischen Romantiker am "Industriekapitalismus" fortwirke, wird von Eagleton nicht einfach verworfen. Vielmehr sind seine Referenzautoren - Johann Gottfried Herder, Edmund Burke und T. S. Eliot - in vieler Hinsicht der romantischen Zivilisationskritik verpflichtet. Nur liest Eagleton ihre Kritik nicht nostalgisch, sondern mit historisch-materialistischem Blick. Den aus der romantischen Zivilisationskritik entstandenen "romantischen Nationalismus" lehnt er ab - im Gegensatz zum "bürgerlichen Nationalismus", der die Nation, statt sie der Kultur zu subsumieren, als Agens von Zivilisation ansehe. Zugleich aber macht Eagleton in der Kulturemphase der englischen Romantik, etwa bei Thomas Carlyle und John Ruskin, den Impuls aus, durch "Verbreitung von Freude und Vernunft" die Allianz von Triebunterdrückung und Fortschritt im Namen diesseitigen Glücks zu zerschlagen.
Damit diene der romantische Kulturbegriff zwar "ganz unverhohlen der Verhinderung des Klassenkampfes", indem er mit dem ebenfalls auf Versagung beruhenden Fortschrittsbegriff der Arbeiterbewegung im Widerspruch stehe. Zugleich erinnere er jedoch daran, dass Zivilisation nur gelingt, wenn sie sich nicht in verordneten politischen Regeln erschöpft, sondern den Individuen zum selbstverständlichen Gestus wird.
Festgehalten ist dieser Überschuss des Kulturbegriffs für Eagleton in der "Höflichkeit", die einer spezifischen historischen Konstellation entsprungen sei: "Der Impuls, der dem Konzept der Höflichkeit zugrunde lag, war politischer Natur. Das postrestaurative England war bestrebt, eine neue öffentliche Sphäre als Gegengewicht zu Kirche und Hof zu schaffen. Auf diesem Schauplatz sollten traditionelle aristokratische Tugenden (Noblesse, Umgänglichkeit, Eleganz, verfeinerte Umgangsformen) der entstehenden städtischen Mittelschicht vermittelt werden." In den Clubs, Parks, Theatern und Zeitschriften, die im England des achtzehnten Jahrhunderts zu "Austragungsorten eines aufgeklärten Mittelschichtsdiskurses" wurden, habe sich die Höflichkeit vom aristokratischen Privileg zum demokratischen Habitus emanzipiert.
Jener Habitus, der die bürgerliche Gesellschaft jenseits ihrer ökonomischen und juristischen Form auszeichne, fasse sich im Begriff der Kultur zusammen. Indem Eagleton "Kultur" als Ergebnis gelungener Zivilisation bestimmt, nimmt er dem Begriff das Pathos, das ihm vor allem in der deutschen Tradition innewohnt und das Eagleton im Ethnopluralismus der Postmoderne fortleben sieht. Als Symptom dieser Tendenz erkennt er die Neigung, "kulturelle Diversität zu preisen, ohne über ihren erschreckenden Preis zu reden". Begegnet werden könne dem Kulturalismus freilich nur im Beharren darauf, dass Kultur auch die glückliche Kehrseite der Zivilisation, Zweckfreiheit und sinnliche Erfüllung, verkörpere. Es ist die überraschendste Pointe von Eagletons Essay, dass er diesen Gehalt des Kulturbegriffs vor allem in irischstämmigen Briten wie Edmund Burke und Oscar Wilde verkörpert sieht, die in ihrem Alltag zwischen der von ihnen geliebten irischen "Kultur" und britischen "Zivilisation" zu vermitteln gezwungen waren.
Wildes zwischen Ironie und Identifikation schwankende Fähigkeit als "geschickter Imitator" hat für Eagleton größeres kritisches Potential als jede Klassenkampfrhetorik. Dass er dessen Schrift "Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus" ein eigenes Kapitel widmet, ist insofern konsequent. Es erinnert daran, dass die radikalsten Gedanken oft am Rand der bürgerlichen Gesellschaft entstehen.
Terry Eagleton: "Kultur".
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Ullstein Verlag, Berlin 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vielfalt hat einen erschreckend hohen Preis: Terry Eagleton meidet akademische Gummibegriffe, wenn er Kultur als gelingende Zivilisation beschreibt.
Von Magnus Klaue
Ein Akademiker, der ein nur zweihundert Seiten umfassendes Bändchen mit dem Titel "Kultur" auf den Markt bringt, muss entweder sehr mutig oder sehr naiv sein. Der vierundsiebzigjährige Literaturtheoretiker Terry Eagleton verkörpert die glückliche Personalunion beider Eigenschaften. Absolvent einer Klosterschule in Manchester und Schüler von Raymond Williams, dem Doyen der Kulturwissenschaften in Großbritannien, bekennt sich Eagleton ebenso selbstverständlich zu seiner Prägung durch den Katholizismus, wie er sich im postkommunistischen Zeitalter als Marxist bezeichnet. Die kindliche Spontaneität, die in solchem Festhalten an historisch überholten Erfahrungen zum Ausdruck kommt, prägt auch seine theoretischen Schriften. Was deutschen Geisteswissenschaftlern in ihrem Bemühen, Popularität und akademischen Konformismus in Einklang zu bringen, regelmäßig zur Peinlichkeit missrät, gelingt Eagleton mit der scheinbaren Leichtigkeit eines Zauberkünstlers.
Schon in früheren Veröffentlichungen über "Ästhetik" (1990), "Ideologie" (1991) und "Die Illusionen der Postmoderne" (1996) hat Eagleton die Fähigkeit bewiesen, einen zugleich überblickshaft-orientierenden und polemisch-urteilenden Blick auf gängige Gummibegriffe des akademischen Betriebs zu werfen. Mit "Kultur" widmet er sich in seinem neuesten Buch dem vielleicht beliebtesten unter ihnen. Seine zentrale These, dass "Kultur" als "eine Art soziales Unbewusstes" fungiere und dass in dieser Irreduzibilität aufs Bewusstsein ebenso das bedrohliche wie das zivilisierende Potential von Kultur liege, entlehnt Eagleton bei Williams. Dabei behält er die Differenz zwischen dem angloamerikanischen Kulturbegriff, der Kultur als alltägliche gesellschaftliche Praxis versteht, und dem deutschen, der sie zum die Gesellschaft transzendierenden Wert stilisiert, im Blick. In Opposition zu "Zivilisation" bezeichne "Kultur", vor allem in der deutschen Tradition, meist vormodern konnotierte "Werte", die vom gesellschaftlichen Fortschritt zerstört zu werden drohten.
Diese Tradition, die in der Kritik der englischen Romantiker am "Industriekapitalismus" fortwirke, wird von Eagleton nicht einfach verworfen. Vielmehr sind seine Referenzautoren - Johann Gottfried Herder, Edmund Burke und T. S. Eliot - in vieler Hinsicht der romantischen Zivilisationskritik verpflichtet. Nur liest Eagleton ihre Kritik nicht nostalgisch, sondern mit historisch-materialistischem Blick. Den aus der romantischen Zivilisationskritik entstandenen "romantischen Nationalismus" lehnt er ab - im Gegensatz zum "bürgerlichen Nationalismus", der die Nation, statt sie der Kultur zu subsumieren, als Agens von Zivilisation ansehe. Zugleich aber macht Eagleton in der Kulturemphase der englischen Romantik, etwa bei Thomas Carlyle und John Ruskin, den Impuls aus, durch "Verbreitung von Freude und Vernunft" die Allianz von Triebunterdrückung und Fortschritt im Namen diesseitigen Glücks zu zerschlagen.
Damit diene der romantische Kulturbegriff zwar "ganz unverhohlen der Verhinderung des Klassenkampfes", indem er mit dem ebenfalls auf Versagung beruhenden Fortschrittsbegriff der Arbeiterbewegung im Widerspruch stehe. Zugleich erinnere er jedoch daran, dass Zivilisation nur gelingt, wenn sie sich nicht in verordneten politischen Regeln erschöpft, sondern den Individuen zum selbstverständlichen Gestus wird.
Festgehalten ist dieser Überschuss des Kulturbegriffs für Eagleton in der "Höflichkeit", die einer spezifischen historischen Konstellation entsprungen sei: "Der Impuls, der dem Konzept der Höflichkeit zugrunde lag, war politischer Natur. Das postrestaurative England war bestrebt, eine neue öffentliche Sphäre als Gegengewicht zu Kirche und Hof zu schaffen. Auf diesem Schauplatz sollten traditionelle aristokratische Tugenden (Noblesse, Umgänglichkeit, Eleganz, verfeinerte Umgangsformen) der entstehenden städtischen Mittelschicht vermittelt werden." In den Clubs, Parks, Theatern und Zeitschriften, die im England des achtzehnten Jahrhunderts zu "Austragungsorten eines aufgeklärten Mittelschichtsdiskurses" wurden, habe sich die Höflichkeit vom aristokratischen Privileg zum demokratischen Habitus emanzipiert.
Jener Habitus, der die bürgerliche Gesellschaft jenseits ihrer ökonomischen und juristischen Form auszeichne, fasse sich im Begriff der Kultur zusammen. Indem Eagleton "Kultur" als Ergebnis gelungener Zivilisation bestimmt, nimmt er dem Begriff das Pathos, das ihm vor allem in der deutschen Tradition innewohnt und das Eagleton im Ethnopluralismus der Postmoderne fortleben sieht. Als Symptom dieser Tendenz erkennt er die Neigung, "kulturelle Diversität zu preisen, ohne über ihren erschreckenden Preis zu reden". Begegnet werden könne dem Kulturalismus freilich nur im Beharren darauf, dass Kultur auch die glückliche Kehrseite der Zivilisation, Zweckfreiheit und sinnliche Erfüllung, verkörpere. Es ist die überraschendste Pointe von Eagletons Essay, dass er diesen Gehalt des Kulturbegriffs vor allem in irischstämmigen Briten wie Edmund Burke und Oscar Wilde verkörpert sieht, die in ihrem Alltag zwischen der von ihnen geliebten irischen "Kultur" und britischen "Zivilisation" zu vermitteln gezwungen waren.
Wildes zwischen Ironie und Identifikation schwankende Fähigkeit als "geschickter Imitator" hat für Eagleton größeres kritisches Potential als jede Klassenkampfrhetorik. Dass er dessen Schrift "Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus" ein eigenes Kapitel widmet, ist insofern konsequent. Es erinnert daran, dass die radikalsten Gedanken oft am Rand der bürgerlichen Gesellschaft entstehen.
Terry Eagleton: "Kultur".
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Ullstein Verlag, Berlin 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Das Konzept der Höflichkeit ist politischer Natur
Vielfalt hat einen erschreckend hohen Preis: Terry Eagleton meidet akademische Gummibegriffe, wenn er Kultur als gelingende Zivilisation beschreibt.
Von Magnus Klaue
Ein Akademiker, der ein nur zweihundert Seiten umfassendes Bändchen mit dem Titel "Kultur" auf den Markt bringt, muss entweder sehr mutig oder sehr naiv sein. Der vierundsiebzigjährige Literaturtheoretiker Terry Eagleton verkörpert die glückliche Personalunion beider Eigenschaften. Absolvent einer Klosterschule in Manchester und Schüler von Raymond Williams, dem Doyen der Kulturwissenschaften in Großbritannien, bekennt sich Eagleton ebenso selbstverständlich zu seiner Prägung durch den Katholizismus, wie er sich im postkommunistischen Zeitalter als Marxist bezeichnet. Die kindliche Spontaneität, die in solchem Festhalten an historisch überholten Erfahrungen zum Ausdruck kommt, prägt auch seine theoretischen Schriften. Was deutschen Geisteswissenschaftlern in ihrem Bemühen, Popularität und akademischen Konformismus in Einklang zu bringen, regelmäßig zur Peinlichkeit missrät, gelingt Eagleton mit der scheinbaren Leichtigkeit eines Zauberkünstlers.
Schon in früheren Veröffentlichungen über "Ästhetik" (1990), "Ideologie" (1991) und "Die Illusionen der Postmoderne" (1996) hat Eagleton die Fähigkeit bewiesen, einen zugleich überblickshaft-orientierenden und polemisch-urteilenden Blick auf gängige Gummibegriffe des akademischen Betriebs zu werfen. Mit "Kultur" widmet er sich in seinem neuesten Buch dem vielleicht beliebtesten unter ihnen. Seine zentrale These, dass "Kultur" als "eine Art soziales Unbewusstes" fungiere und dass in dieser Irreduzibilität aufs Bewusstsein ebenso das bedrohliche wie das zivilisierende Potential von Kultur liege, entlehnt Eagleton bei Williams. Dabei behält er die Differenz zwischen dem angloamerikanischen Kulturbegriff, der Kultur als alltägliche gesellschaftliche Praxis versteht, und dem deutschen, der sie zum die Gesellschaft transzendierenden Wert stilisiert, im Blick. In Opposition zu "Zivilisation" bezeichne "Kultur", vor allem in der deutschen Tradition, meist vormodern konnotierte "Werte", die vom gesellschaftlichen Fortschritt zerstört zu werden drohten.
Diese Tradition, die in der Kritik der englischen Romantiker am "Industriekapitalismus" fortwirke, wird von Eagleton nicht einfach verworfen. Vielmehr sind seine Referenzautoren - Johann Gottfried Herder, Edmund Burke und T. S. Eliot - in vieler Hinsicht der romantischen Zivilisationskritik verpflichtet. Nur liest Eagleton ihre Kritik nicht nostalgisch, sondern mit historisch-materialistischem Blick. Den aus der romantischen Zivilisationskritik entstandenen "romantischen Nationalismus" lehnt er ab - im Gegensatz zum "bürgerlichen Nationalismus", der die Nation, statt sie der Kultur zu subsumieren, als Agens von Zivilisation ansehe. Zugleich aber macht Eagleton in der Kulturemphase der englischen Romantik, etwa bei Thomas Carlyle und John Ruskin, den Impuls aus, durch "Verbreitung von Freude und Vernunft" die Allianz von Triebunterdrückung und Fortschritt im Namen diesseitigen Glücks zu zerschlagen.
Damit diene der romantische Kulturbegriff zwar "ganz unverhohlen der Verhinderung des Klassenkampfes", indem er mit dem ebenfalls auf Versagung beruhenden Fortschrittsbegriff der Arbeiterbewegung im Widerspruch stehe. Zugleich erinnere er jedoch daran, dass Zivilisation nur gelingt, wenn sie sich nicht in verordneten politischen Regeln erschöpft, sondern den Individuen zum selbstverständlichen Gestus wird.
Festgehalten ist dieser Überschuss des Kulturbegriffs für Eagleton in der "Höflichkeit", die einer spezifischen historischen Konstellation entsprungen sei: "Der Impuls, der dem Konzept der Höflichkeit zugrunde lag, war politischer Natur. Das postrestaurative England war bestrebt, eine neue öffentliche Sphäre als Gegengewicht zu Kirche und Hof zu schaffen. Auf diesem Schauplatz sollten traditionelle aristokratische Tugenden (Noblesse, Umgänglichkeit, Eleganz, verfeinerte Umgangsformen) der entstehenden städtischen Mittelschicht vermittelt werden." In den Clubs, Parks, Theatern und Zeitschriften, die im England des achtzehnten Jahrhunderts zu "Austragungsorten eines aufgeklärten Mittelschichtsdiskurses" wurden, habe sich die Höflichkeit vom aristokratischen Privileg zum demokratischen Habitus emanzipiert.
Jener Habitus, der die bürgerliche Gesellschaft jenseits ihrer ökonomischen und juristischen Form auszeichne, fasse sich im Begriff der Kultur zusammen. Indem Eagleton "Kultur" als Ergebnis gelungener Zivilisation bestimmt, nimmt er dem Begriff das Pathos, das ihm vor allem in der deutschen Tradition innewohnt und das Eagleton im Ethnopluralismus der Postmoderne fortleben sieht. Als Symptom dieser Tendenz erkennt er die Neigung, "kulturelle Diversität zu preisen, ohne über ihren erschreckenden Preis zu reden". Begegnet werden könne dem Kulturalismus freilich nur im Beharren darauf, dass Kultur auch die glückliche Kehrseite der Zivilisation, Zweckfreiheit und sinnliche Erfüllung, verkörpere. Es ist die überraschendste Pointe von Eagletons Essay, dass er diesen Gehalt des Kulturbegriffs vor allem in irischstämmigen Briten wie Edmund Burke und Oscar Wilde verkörpert sieht, die in ihrem Alltag zwischen der von ihnen geliebten irischen "Kultur" und britischen "Zivilisation" zu vermitteln gezwungen waren.
Wildes zwischen Ironie und Identifikation schwankende Fähigkeit als "geschickter Imitator" hat für Eagleton größeres kritisches Potential als jede Klassenkampfrhetorik. Dass er dessen Schrift "Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus" ein eigenes Kapitel widmet, ist insofern konsequent. Es erinnert daran, dass die radikalsten Gedanken oft am Rand der bürgerlichen Gesellschaft entstehen.
Terry Eagleton: "Kultur".
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Ullstein Verlag, Berlin 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vielfalt hat einen erschreckend hohen Preis: Terry Eagleton meidet akademische Gummibegriffe, wenn er Kultur als gelingende Zivilisation beschreibt.
Von Magnus Klaue
Ein Akademiker, der ein nur zweihundert Seiten umfassendes Bändchen mit dem Titel "Kultur" auf den Markt bringt, muss entweder sehr mutig oder sehr naiv sein. Der vierundsiebzigjährige Literaturtheoretiker Terry Eagleton verkörpert die glückliche Personalunion beider Eigenschaften. Absolvent einer Klosterschule in Manchester und Schüler von Raymond Williams, dem Doyen der Kulturwissenschaften in Großbritannien, bekennt sich Eagleton ebenso selbstverständlich zu seiner Prägung durch den Katholizismus, wie er sich im postkommunistischen Zeitalter als Marxist bezeichnet. Die kindliche Spontaneität, die in solchem Festhalten an historisch überholten Erfahrungen zum Ausdruck kommt, prägt auch seine theoretischen Schriften. Was deutschen Geisteswissenschaftlern in ihrem Bemühen, Popularität und akademischen Konformismus in Einklang zu bringen, regelmäßig zur Peinlichkeit missrät, gelingt Eagleton mit der scheinbaren Leichtigkeit eines Zauberkünstlers.
Schon in früheren Veröffentlichungen über "Ästhetik" (1990), "Ideologie" (1991) und "Die Illusionen der Postmoderne" (1996) hat Eagleton die Fähigkeit bewiesen, einen zugleich überblickshaft-orientierenden und polemisch-urteilenden Blick auf gängige Gummibegriffe des akademischen Betriebs zu werfen. Mit "Kultur" widmet er sich in seinem neuesten Buch dem vielleicht beliebtesten unter ihnen. Seine zentrale These, dass "Kultur" als "eine Art soziales Unbewusstes" fungiere und dass in dieser Irreduzibilität aufs Bewusstsein ebenso das bedrohliche wie das zivilisierende Potential von Kultur liege, entlehnt Eagleton bei Williams. Dabei behält er die Differenz zwischen dem angloamerikanischen Kulturbegriff, der Kultur als alltägliche gesellschaftliche Praxis versteht, und dem deutschen, der sie zum die Gesellschaft transzendierenden Wert stilisiert, im Blick. In Opposition zu "Zivilisation" bezeichne "Kultur", vor allem in der deutschen Tradition, meist vormodern konnotierte "Werte", die vom gesellschaftlichen Fortschritt zerstört zu werden drohten.
Diese Tradition, die in der Kritik der englischen Romantiker am "Industriekapitalismus" fortwirke, wird von Eagleton nicht einfach verworfen. Vielmehr sind seine Referenzautoren - Johann Gottfried Herder, Edmund Burke und T. S. Eliot - in vieler Hinsicht der romantischen Zivilisationskritik verpflichtet. Nur liest Eagleton ihre Kritik nicht nostalgisch, sondern mit historisch-materialistischem Blick. Den aus der romantischen Zivilisationskritik entstandenen "romantischen Nationalismus" lehnt er ab - im Gegensatz zum "bürgerlichen Nationalismus", der die Nation, statt sie der Kultur zu subsumieren, als Agens von Zivilisation ansehe. Zugleich aber macht Eagleton in der Kulturemphase der englischen Romantik, etwa bei Thomas Carlyle und John Ruskin, den Impuls aus, durch "Verbreitung von Freude und Vernunft" die Allianz von Triebunterdrückung und Fortschritt im Namen diesseitigen Glücks zu zerschlagen.
Damit diene der romantische Kulturbegriff zwar "ganz unverhohlen der Verhinderung des Klassenkampfes", indem er mit dem ebenfalls auf Versagung beruhenden Fortschrittsbegriff der Arbeiterbewegung im Widerspruch stehe. Zugleich erinnere er jedoch daran, dass Zivilisation nur gelingt, wenn sie sich nicht in verordneten politischen Regeln erschöpft, sondern den Individuen zum selbstverständlichen Gestus wird.
Festgehalten ist dieser Überschuss des Kulturbegriffs für Eagleton in der "Höflichkeit", die einer spezifischen historischen Konstellation entsprungen sei: "Der Impuls, der dem Konzept der Höflichkeit zugrunde lag, war politischer Natur. Das postrestaurative England war bestrebt, eine neue öffentliche Sphäre als Gegengewicht zu Kirche und Hof zu schaffen. Auf diesem Schauplatz sollten traditionelle aristokratische Tugenden (Noblesse, Umgänglichkeit, Eleganz, verfeinerte Umgangsformen) der entstehenden städtischen Mittelschicht vermittelt werden." In den Clubs, Parks, Theatern und Zeitschriften, die im England des achtzehnten Jahrhunderts zu "Austragungsorten eines aufgeklärten Mittelschichtsdiskurses" wurden, habe sich die Höflichkeit vom aristokratischen Privileg zum demokratischen Habitus emanzipiert.
Jener Habitus, der die bürgerliche Gesellschaft jenseits ihrer ökonomischen und juristischen Form auszeichne, fasse sich im Begriff der Kultur zusammen. Indem Eagleton "Kultur" als Ergebnis gelungener Zivilisation bestimmt, nimmt er dem Begriff das Pathos, das ihm vor allem in der deutschen Tradition innewohnt und das Eagleton im Ethnopluralismus der Postmoderne fortleben sieht. Als Symptom dieser Tendenz erkennt er die Neigung, "kulturelle Diversität zu preisen, ohne über ihren erschreckenden Preis zu reden". Begegnet werden könne dem Kulturalismus freilich nur im Beharren darauf, dass Kultur auch die glückliche Kehrseite der Zivilisation, Zweckfreiheit und sinnliche Erfüllung, verkörpere. Es ist die überraschendste Pointe von Eagletons Essay, dass er diesen Gehalt des Kulturbegriffs vor allem in irischstämmigen Briten wie Edmund Burke und Oscar Wilde verkörpert sieht, die in ihrem Alltag zwischen der von ihnen geliebten irischen "Kultur" und britischen "Zivilisation" zu vermitteln gezwungen waren.
Wildes zwischen Ironie und Identifikation schwankende Fähigkeit als "geschickter Imitator" hat für Eagleton größeres kritisches Potential als jede Klassenkampfrhetorik. Dass er dessen Schrift "Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus" ein eigenes Kapitel widmet, ist insofern konsequent. Es erinnert daran, dass die radikalsten Gedanken oft am Rand der bürgerlichen Gesellschaft entstehen.
Terry Eagleton: "Kultur".
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Ullstein Verlag, Berlin 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main