Heute stehen islamische Gelehrte vor der Frage "Modernisierung oder Verwestlichung?". Von der Möglichkeit eines eigenständigen Weges der Modernisierung hängt die Zukunft des Islam und seines Verhältnisses zum Westen ab.Lewis untersucht in seinen Vorlesungen das traumatische Verhältnis zwischen der muslimischen und der westlichen Welt. Einst eine politische Macht und eine Kultur, die ihren Nachbarn in fast jeder Hinsicht überlegen war, befindet sich der Islam seit dem Ende des 17. Jahrhunderts kulturell auf dem Rückzug. Lewis geht den Leitfragen nach, die sich die muslimischen Reformer im Laufe der Geschichte angesichts dieses Problems stellten - der nach den eigenen Fehlern: "Was haben wir falsch gemacht?", der nach den Stärken des Gegners: "Was ist das Geheimnis des westlichen Erfolgs?".Bernard Lewis gilt international als einer der besten Kenner des Nahen Ostens und der komplexen Beziehungen zwischen Orient und Okzident.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Wie machen die Ungläubigen das nur?
Bernard Lewis befragt den Islam / Von Johannes Twardella
Glaubt man dem zuletzt in Princeton lehrenden Orientalisten Bernard Lewis, so wissen die Menschen im Nahen Osten selbst nicht, warum ihre Lage so desaströs ist. Was sie jedoch wissen, ist, daß es in der Vergangenheit einmal anders aussah, daß die islamische Zivilisation einst groß und der westlichen Welt weit überlegen war. Und natürlich haben sie in der Vergangenheit immer wieder versucht, die alten Verhältnisse wiederherzustellen - oder zumindest mit dem Westen gleichzuziehen. In den mehr als dreihundert Jahren, die Lewis behandelt, scheint die ganze Palette von Modernisierungsmöglichkeiten ausprobiert worden zu sein, von der militärischen über die wirtschaftliche und verwaltungstechnische bis zur politischen. Alle Versuche, so bilanziert Lewis, haben nur einen mäßigen oder auch gar keinen Erfolg gezeitigt. Es ist nicht gelungen, den Nahen Osten wieder zu dem "großartigen Zentrum schöpferischer Kultur" zu machen, das er einmal war. "Zum ersten Mal in der Geschichte ist Innovation hauptsächlich eine Sache des Westens."
Warum aber waren all diese Modernisierungsbemühungen so wenig fruchtbar? Die Ratlosigkeit, die Lewis bei den Menschen im Nahen Osten konstatiert, scheint er zu teilen - auch er hat auf diese Frage keine Antwort. Zwar macht er nicht nur deutlich, wie seit dem Beginn der Krise, der erstmaligen Erfahrung der "Überlegenheit" der westlichen Welt, die Suche nach den Ursachen und das Bemühen aufkamen, die Malaise zu überwinden, sondern er zeigt auch, daß enorme Widerstände bestanden: Widerstände allein schon gegen die Wahrnehmung und Anerkennung der "Überlegenheit" des Westens und erst recht gegen die verschiedenen Modernisierungsmaßnahmen. Angesichts der Überwindung, die es gekostet haben muß, sich gegenüber denen, auf die man in der Vergangenheit mit Desinteresse oder sogar Verachtung reagiert hatte, zu öffnen und sich von ihnen belehren zu lassen, muß die Enttäuschung besonders groß gewesen sein, als die vielfältigen Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg erbrachten. Aber die entscheidende Ursache für diese negative Bilanz können die psychologischen, zum Teil auch religiös fundierten Widerstände nicht gewesen sein.
In der Vergangenheit wurde nicht nur von Soziologen marxistischer Provenienz wie Maxime Rodinson auf die Übermacht der westlichen Staaten verwiesen, die der Entwicklung der islamischen Welt im Weg gestanden hätte. Als ein am Detail interessierter Historiker scheint Lewis diese These nicht nur als zu pauschal abzulehnen; zudem sind Modernisierungsprozesse in anderen nichtwestlichen Ländern durchaus mit Erfolg durchgeführt worden. Folglich muß es auch interne Gründe geben, die für die geringen Erfolge in den islamischen Staaten verantwortlich sind - zumal nach dem Ende der Kolonialzeit die äußeren Faktoren an Bedeutung verloren. Die ebenso pauschale These, es mangele diesen Gesellschaften an dem, was für Max Weber von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der Moderne im Okzident war, an einer methodischen Lebensführung, die in der Religion auf der Basis eines durch Heilsunsicherheit gekennzeichneten Bewährungsmodells entstand, überzeugt ebensowenig. Zwar läßt sich zeigen, daß der Islam schwerlich in ähnlicher Weise zu einem ruhelosen Streben veranlaßt hat wie das christliche beziehungsweise calvinistische Bewährungsmodell, doch ist auch dies nur ein - wenn auch wichtiger - Grund in einem Ensemble von Faktoren.
Als Lewis seine Gedanken 1999 in Wien vortrug, sah er die Länder des Nahen Ostens vor einer großen Entscheidung: Entweder sie schlagen den Weg der Modernisierung ein, wie ihn die Türkei gegangen ist, oder sie übernehmen das vom Iran praktizierte Modell einer Islamisierung der Gesellschaft. Lewis sah damals die Gefahr, daß diese Wahlfreiheit wieder eingeschränkt werden könnte, doch glaubte er, dies werde durch einen neuen "großen Machtpoker" geschehen. Gleichwohl könnte sich seine Befürchtung jetzt bestätigen. Wenn der "Feldzug" gegen den Terrorismus nicht zielgenau geführt und die islamischen Staaten nicht konsequent eingebunden werden, dann könnte er einen Solidarisierungsschub auslösen, der ihren Entscheidungsspielraum zerstört und sie auf den Weg der Islamisierung drängt.
Bernard Lewis: "Kultur und Modernisierung im Nahen Osten". Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Passagen Verlag, Wien 2001. 90 S., br., 25,40 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernard Lewis befragt den Islam / Von Johannes Twardella
Glaubt man dem zuletzt in Princeton lehrenden Orientalisten Bernard Lewis, so wissen die Menschen im Nahen Osten selbst nicht, warum ihre Lage so desaströs ist. Was sie jedoch wissen, ist, daß es in der Vergangenheit einmal anders aussah, daß die islamische Zivilisation einst groß und der westlichen Welt weit überlegen war. Und natürlich haben sie in der Vergangenheit immer wieder versucht, die alten Verhältnisse wiederherzustellen - oder zumindest mit dem Westen gleichzuziehen. In den mehr als dreihundert Jahren, die Lewis behandelt, scheint die ganze Palette von Modernisierungsmöglichkeiten ausprobiert worden zu sein, von der militärischen über die wirtschaftliche und verwaltungstechnische bis zur politischen. Alle Versuche, so bilanziert Lewis, haben nur einen mäßigen oder auch gar keinen Erfolg gezeitigt. Es ist nicht gelungen, den Nahen Osten wieder zu dem "großartigen Zentrum schöpferischer Kultur" zu machen, das er einmal war. "Zum ersten Mal in der Geschichte ist Innovation hauptsächlich eine Sache des Westens."
Warum aber waren all diese Modernisierungsbemühungen so wenig fruchtbar? Die Ratlosigkeit, die Lewis bei den Menschen im Nahen Osten konstatiert, scheint er zu teilen - auch er hat auf diese Frage keine Antwort. Zwar macht er nicht nur deutlich, wie seit dem Beginn der Krise, der erstmaligen Erfahrung der "Überlegenheit" der westlichen Welt, die Suche nach den Ursachen und das Bemühen aufkamen, die Malaise zu überwinden, sondern er zeigt auch, daß enorme Widerstände bestanden: Widerstände allein schon gegen die Wahrnehmung und Anerkennung der "Überlegenheit" des Westens und erst recht gegen die verschiedenen Modernisierungsmaßnahmen. Angesichts der Überwindung, die es gekostet haben muß, sich gegenüber denen, auf die man in der Vergangenheit mit Desinteresse oder sogar Verachtung reagiert hatte, zu öffnen und sich von ihnen belehren zu lassen, muß die Enttäuschung besonders groß gewesen sein, als die vielfältigen Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg erbrachten. Aber die entscheidende Ursache für diese negative Bilanz können die psychologischen, zum Teil auch religiös fundierten Widerstände nicht gewesen sein.
In der Vergangenheit wurde nicht nur von Soziologen marxistischer Provenienz wie Maxime Rodinson auf die Übermacht der westlichen Staaten verwiesen, die der Entwicklung der islamischen Welt im Weg gestanden hätte. Als ein am Detail interessierter Historiker scheint Lewis diese These nicht nur als zu pauschal abzulehnen; zudem sind Modernisierungsprozesse in anderen nichtwestlichen Ländern durchaus mit Erfolg durchgeführt worden. Folglich muß es auch interne Gründe geben, die für die geringen Erfolge in den islamischen Staaten verantwortlich sind - zumal nach dem Ende der Kolonialzeit die äußeren Faktoren an Bedeutung verloren. Die ebenso pauschale These, es mangele diesen Gesellschaften an dem, was für Max Weber von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der Moderne im Okzident war, an einer methodischen Lebensführung, die in der Religion auf der Basis eines durch Heilsunsicherheit gekennzeichneten Bewährungsmodells entstand, überzeugt ebensowenig. Zwar läßt sich zeigen, daß der Islam schwerlich in ähnlicher Weise zu einem ruhelosen Streben veranlaßt hat wie das christliche beziehungsweise calvinistische Bewährungsmodell, doch ist auch dies nur ein - wenn auch wichtiger - Grund in einem Ensemble von Faktoren.
Als Lewis seine Gedanken 1999 in Wien vortrug, sah er die Länder des Nahen Ostens vor einer großen Entscheidung: Entweder sie schlagen den Weg der Modernisierung ein, wie ihn die Türkei gegangen ist, oder sie übernehmen das vom Iran praktizierte Modell einer Islamisierung der Gesellschaft. Lewis sah damals die Gefahr, daß diese Wahlfreiheit wieder eingeschränkt werden könnte, doch glaubte er, dies werde durch einen neuen "großen Machtpoker" geschehen. Gleichwohl könnte sich seine Befürchtung jetzt bestätigen. Wenn der "Feldzug" gegen den Terrorismus nicht zielgenau geführt und die islamischen Staaten nicht konsequent eingebunden werden, dann könnte er einen Solidarisierungsschub auslösen, der ihren Entscheidungsspielraum zerstört und sie auf den Weg der Islamisierung drängt.
Bernard Lewis: "Kultur und Modernisierung im Nahen Osten". Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Passagen Verlag, Wien 2001. 90 S., br., 25,40 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Der Rezensent Otto Kallscheuer berichtet über die Vorlesung am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen des bis zu seiner Emeritierung in Princeton lehrenden Briten Bernard Lewis. Dessen Name bürge zwar für Seriosität, seine zahlreichen Bücher über den Islam würden sowohl von Muslim-Brüdern wie auch vom israelischen Verteidigungsministerium publiziert. Aber, bedauert Kallscheuer, das vorliegende Bändchen des "Doyen des angloamerikanischen Orientalismus" sei kein Ersatz für seine zuvor erschienenen Standardwerke, sondern eine "geplauderte Kurzfassung". Die sei zwar besser als manch "orientalistische Dutzendware", aber für einen echten Lewis trotzdem enttäuschend. Lewis zitiert reichlich aus Reiseberichten moslemischer und christlicher Politiker, Diplomaten und Spezialisten, aber eine eigene Hypothese über die Ursachen einer halbierten oder gescheiterten Modernisierung des Islam hat Kallscheuer schmerzlich vermisst. Die hätte er dem Autor allerdings ob seiner ausgewiesenen Kenntnisse zugetraut.
© Perlentaucher Medien GmbH
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