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Keine andere Epoche hat die abendländische Kultur in so starkem Maße geprägt wie die griechisch-römische Antike. Den tiefgreifenden Einfluß ihrer bildenden Kunst und deren bedeutungsreiche Rezeptionsgeschichte in den Künsten und der Literatur zeichnet dieses Buch in seinen einzelnen Abschnitten durch die Jahrhunderte nach - von der frühchristlichen Epoche bis in die Gegenwart.

Produktbeschreibung
Keine andere Epoche hat die abendländische Kultur in so starkem Maße geprägt wie die griechisch-römische Antike. Den tiefgreifenden Einfluß ihrer bildenden Kunst und deren bedeutungsreiche Rezeptionsgeschichte in den Künsten und der Literatur zeichnet dieses Buch in seinen einzelnen Abschnitten durch die Jahrhunderte nach - von der frühchristlichen Epoche bis in die Gegenwart.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.1996

Winckelmanns ewige Jugend
Hellmut Sichtermann verteidigt das Klassische in der Archäologie

Hellmut Sichtermann, Jahrgang 1915, hat sich zeit seines Lebens mit dem Klassizismus auseinandergesetzt. Noch vor dem Krieg begann er sein Studium in Berlin bei Gerhart Rodenwaldt, der die klassizistische Tradition der Stadt auch in der Archäologie weiterführte. Die berufliche Tätigkeit führte Sichtermann an das Deutsche Archäologische Institut in Rom, das nicht weit vom Wohnsitz Winckelmanns in der Villa Albani gelegen ist. Seine Veröffentlichungen galten zum großen Teil Kunstwerken, die den Klassizisten teuer waren, und diesen selbst. Namen wie Winckelmann, Lessing, Heinse, Goethe und ihre Zeitgenossen kommen in seinen Schriften immer wieder vor. Es sind die gleichen Namen, die mit der Entstehung und den Anfängen einer kunsthistorisch ausgerichteten Archäologie eng verbunden sind.

Im vorliegenden Buch zieht Sichtermann eine Art Fazit seiner Lebens- und Leseerfahrung. Der paradoxe, vom Verlag zu verantwortende Titel "Kulturgeschichte der Klassischen Archäologie" vermag seine Absicht allerdings nicht zu umschreiben. Es geht dem Verfasser nicht um eine Geschichte der Disziplin, vielmehr will er die Rezeption der antiken Kunst im Wechselspiel von Archäologie und allgemeinem Geistesleben, besonders aber der Literatur schildern. Die Sehweise des Archäologen wurzelt in den künstlerischen Anschauungen seiner Zeit, der Dichter und Schriftsteller geht nicht unbeeinflußt von archäologischen Erfahrungen an sein Thema. Grob gesagt, handelt es sich also um eine Geschichte der Vorstellungen, die Schriftsteller und Archäologen in gegenseitigem Austausch über griechische Kunst entwickelt haben.

Die Aufgabe setzt geistesgeschichtliche Kenntnisse voraus, die niemand jemals vereinen wird. Wenn das Buch trotzdem einigermaßen geschlossen wirkt, so beruht das auf zwei Beschränkungen. Die frühen Epochen von der Spätantike bis ins siebzehnte Jahrhundert, mit denen der Verfasser weniger vertraut ist, sind vorwiegend durch lose Aufzählung bedeutender Persönlichkeiten vertreten, die jeweils eine kurze Charakteristik erhalten. Zum andern werden alle im engeren Sinne historischen Aspekte ausgeklammert. Es geht lediglich um ästhetische Fragen, und zwar um den allgemeinen Charakter antiker Kunst überhaupt. Einzelne Kunstwerke werden nur beispielsweise erwähnt.

In sein eigentliches Element kommt Sichtermann mit dem ausführlichen Kapitel über Winckelmann. Dieses und der Rest des Buches, etwa vier Fünftel des Ganzen, zeigen deutlichere Konturen und könnten überschrieben werden "Die klassizistischen Anfänge der Archäologie und ihr Fortwirken bis in die Gegenwart", der vom Autor geplante ursprüngliche Titel "Winckelmanns Wissenschaft" hätte das gut zum Ausdruck gebracht. Die Klassizismuskritik wird berücksichtigt, etwa im Abschnitt über Nietzsche oder in Äußerungen Adornos, tritt aber insgesamt zurück. Die Stimmen, die seit den siebziger Jahren die griechische Klassik als rassistisch, imperialistisch, phallokratisch, inhuman und überhaupt "unheimlich" verdächtigen, kommen nicht mehr zu Wort.

Trotz dieser Einschränkungen entwirft Sichtermann ein eindrucksvolles Panorama seines Gegenstandes. Seine erstaunlichen literarischen Kenntnisse befähigen ihn, seinen Autoren bis in die individuellen, menschlichen Bedingtheiten ihrer Aussagen zu folgen (sehr überzeugend etwa bei Wilhelm von Humboldt). Dabei läßt er Zitate sprechen. Da die Kunstwerke, um die es in den literarischen Diskussionen geht, im Text selbst kaum in Erscheinung treten, wird das Spiel der Meinungen zum Selbstzweck. Gerade diese Einseitigkeit schärft aber den Blick für Abhängigkeiten und läßt Eigenständiges um so schärfer hervortreten. Insgesamt ist eine gewisse Monotonie nicht zu verkennen, mit der immer dieselben, meist auf Winckelmann zurückgehenden Stereotypen variiert werden.

Sichtermann kann das Nachwirken des Klassizismus in unerwarteten Zusammenhängen aufdecken, wie bei dem großen Münchner Archäologen Ernst Buschor (1886 bis 1961). Seit Nietzsche war es üblich, die Antike Winckelmanns und Goethes mit dem disqualifizierend gebrauchten Adjektiv "klassizistisch" abzutun. Auch Buschor, den man als einen der ästhetischen Entdecker der frühgriechischen Kunst bezeichnet hat, war überzeugt, diese Tradition hinter sich gelassen zu haben. Sichtermann zeigt demgegenüber, daß Buschors Sprache und Vorstellungswelt noch stark klassizistisch geprägt sind. Buschor entwickelte, wieder unter dem Einfluß Nietzsches, eine Vision des Künstlers und Naturforschers Goethe, der alle klassizistischen Maßstäbe sprengte. Ablehnung des Klassizismus und Inspiration durch Goethe bedeuteten deshalb für Buschor keinen Widerspruch. Buschors älterer Zeitgenosse Ludwig Curtius (1874 bis 1954) büßt in der Rückschau manches von dem Ansehen ein, das ihm in den Nachkriegsjahren reichlich zuteil wurde. Sichtermann zeigt, daß der auf seine Geltung bedachte Mann selbst im Klassizismus nicht wirklich zu Hause war, als dessen Fortsetzer er sich betrachtete.

Sichtermanns Hauptthema ist die erotische Wurzel der antiken Kunst. Damit ist vor allem "die besondere griechische Erotik" gemeint, nämlich die gleichgeschlechtliche. Die bis heute nachwirkende Prüderie vergangener Jahrhunderte, die die Sache nicht beim Namen zu nennen wagte, habe daran gehindert, diese Tatsache zu würdigen. Daß homoerotische Empfindungen in der griechischen Kunst und Kultur eine große Rolle spielten, daß sie eine Art allgegenwärtiges Fluidum vor allem der athenischen, spartanischen, kretischen Gesellschaft waren, wird heute jeder auch ohne Platon glauben. Und ebenso, daß, besonders markant bei Winckelmann, diese Disposition die Sensibilität für griechische Kunst erhöhen kann.

Leider nennt aber auch Sichtermann die Sache nicht wirklich beim Namen, weshalb man nicht erkennt, wo in seiner Sicht die Grenzen zwischen der sogenannten Knabenliebe und der Homosexualität allgemein liegen (für Winckelmann waren sie offenbar fließend). Die Griechen machten bekanntlich einen großen Unterschied, indem Knabenliebe bei aller Sinnlichkeit einen starken ethisch-pädagogischen Aspekt hatte, während Homosexualität unter Erwachsenen als ausgesprochen schändlich galt. Sichtermann fordert nun - wie kürzlich schon Tonio Hölscher -, daß man auch bei der sogenannten idealen Nacktheit die homoerotische Seite berücksichtigen müsse. Darunter wird die alte künstlerische Konvention verstanden, einen bedeutenden Mann dadurch über die alltägliche Wirklichkeit zu erheben, daß man ihn gegen die Realität nackt darstellt. Dieser Absicht entsprechend ist sie auch als "heroische" Nacktheit bekannt.

Sind wir also aufgefordert, an "heroisch" nackten Figuren in Zukunft Züge homoerotischen Empfindens zu entdecken? Da unter anderem Vatergottheiten, Kriegerheroen, gefallene Krieger, hellenistische Könige, römische Generale und selbst römische Kaiser so dargestellt werden, scheint das ziemlich abwegig. Dagegen spricht auch, daß die Darstellungsweise auf homerische Zeit zurückgeht, in der sie zunächst Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters bezeichnet. Die Helden der beiden homerischen Epen unterhalten keine homoerotischen Verhältnisse. Natürlich gibt es Zusammenhänge, die den Gesichtspunkt rechtfertigen, ja verlangen, wie etwa päderastische Gruppen auf Vasen oder, auf höherer Ebene, Gestalten wie Ganymedes, Hyakinthos und selbst Apollon. Aber nicht jede Art männlicher Nacktheit läßt sich erotisch verstehen, so werden auch schwitzende Handwerkerbanausen und keuchende Lastenträger so wiedergegeben.

Der Gedanke, auch in der idealen Nacktheit ein homoerotisches Element zu finden, erinnert an eine aufschlußreiche Erscheinung in der Antike selbst. Späthellenismus und Kaiserzeit bieten massenhaft Beispiele dafür, wie man klassische Vorbilder nachträglich erotisierte, indem man etwa in Statuen reifer Athleten knabenhafte oder feminine Züge einschmuggelte. So wurde Polyklets Diadumenos zum anzüglichen "zarten Jüngling" und diente als Vorbild für Mädchenfiguren. Der Speerträger des gleichen Meisters konnte, entsprechend aufgeweicht, zur Porträtstatue von Hadrians Liebling Antinous werden. In die Nachbarschaft dieser Erscheinungen wird man aber die ideale Nacktheit der klassischen Kunst nicht bringen wollen.

Als Vision der Antike ist der Klassizismus ein schöpferisches Mißverständnis, aber eines, das in einer vorher nie dagewesenen Nähe zur Antike entstand. Ob er wirklich "überwunden" wurde, ist nach Sichtermanns Buch noch zweifelhafter als früher. Die Auseinandersetzung mit seinem Erbe ist immer noch lohnend und wird durch Kulturkonzepte anderer Herkunft nicht ersetzt. Sichtermanns Werk hat das Verständnis für den Klassizismus und seine Tragweite in ungewöhnlichem Maße vertieft. Es ist die würdige Krönung einer lebenslangen Bemühung, ein Mittler zwischen Archäologie und Literatur zu sein. NIKOLAUS HIMMELMANN

Hellmut Sichtermann: "Kulturgeschichte der Klassischen Archäologie". C. H. Beck Verlag, München 1996. 438 S., 40 Abb., geb., 78,- DM.

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