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Missverstanden wurde praktisch alles - das ist das Fazit dieses Buches. In über hundert spannenden, schwergewichtigen oder auch leichteren und launigen Artikeln klärt der Band über vielerlei Missverständnisse kulturgeschichtlicher Art auf: Da geht es z.B. um Heines nächtliches Gedenken an Deutschland, das seit jeher unsinnig zitiert und falsch verstanden wird, um Karl Kraus' Diktum, dass ihm zu Hitler nichts einfiele, oder um die häufig zitierte Äußerung von der Unfähigkeit zu trauern, die ursprünglich ganz anders gemeint war.

Produktbeschreibung
Missverstanden wurde praktisch alles - das ist das Fazit dieses Buches. In über hundert spannenden, schwergewichtigen oder auch leichteren und launigen Artikeln klärt der Band über vielerlei Missverständnisse kulturgeschichtlicher Art auf: Da geht es z.B. um Heines nächtliches Gedenken an Deutschland, das seit jeher unsinnig zitiert und falsch verstanden wird, um Karl Kraus' Diktum, dass ihm zu Hitler nichts einfiele, oder um die häufig zitierte Äußerung von der Unfähigkeit zu trauern, die ursprünglich ganz anders gemeint war.
Autorenporträt
(Hans-)Eckhard Henscheid, 14. 9. 1941 Amberg. H. studierte von 1960 bis 1967 Germanistik und Zeitungswissenschaften in München, war dann Redakteur und Journalist in Regensburg und Frankfurt a. M. und gehörte 1979 zu den Gründern der satirischen Monatsschrift 'Titanic'. Seit 1971 lebt er als freier Schriftsteller in Amberg und Frankfurt. Eckhard Henscheid, Verfasser von Romanen, Satiren, Opernführern, Kulturgeschichten u. a. lebt heute in Amberg, Arosa und Raigering. 2009 erhielt er den Jean-Paul-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.1997

Vom Irrtum zur Wahrheit und wieder zurück
Das macht Effekt: Kronauer, Henschel und Henscheid zur Kulturgeschichte der Mißverständnisse · Von Karl Markus Michel

Das Vorhaben ist gewaltig. Ernst gemacht, das heißt auf gut deutsch: ein dickes Buch gemacht wird hier mit der Hypothese, daß "unsere komplette Kultur und Kulturgeschichte aus (fast) nichts als aus . . . Mißverständnissen sich konstituiert". Parbleu! Drei Seiten später gründet sich, "milde gerechnet", immer noch "die halbe Kulturgeschichte auf Mesalliancen, Fehlprojektionen, Interaktionsdefekte und Mißdeutungen ad infinitesimalum". Aua. Mit dem Küchenlatein soll vermutlich nicht ausgedrückt werden, daß diese ganze Mißkultur infinitesimal und somit négligeable sei, sondern daß es mit ihr ad infinitum so weitergehe und daß das malum sei: von Übel.

Das ist originell. Und es liegt voll im Trend der Dekonstruktion: Kultur als individueller oder kollektiver Selbstbetrug, ja als geistiger Defekt, den die Autoren fröhlich enthüllen. Genauer gesagt: Eckhard Henscheid tut dies, der Tonangeber des Unternehmens, von dem der Löwenanteil der Texte stammt (hundert der hundertfünfundzwanzig Kapitel). Die anderen beiden sind bedächtiger; Brigitte Kronauer wirkt fast fürsorgerisch, Gerhard Henschel ein wenig pedantisch, aber auch er erliegt bisweilen dem totalen Debilitätsverdacht, erkennt wie Henscheid Mißverständnisse, wo man bislang eher Gebrauchsspuren wahrnahm, ganz normale Abnutzungserscheinungen an Worten und Werken, die allen zugänglich sind.

Solche Milde, die nur Schnitzer und Schlampereien sieht oder gar übersieht, macht intellektuell natürlich nichts her. Wenn man hingegen in all jenen Defekten das Werk eines Virus wahrnimmt, der überall sein Unwesen treibt: in unseren Ansichten über Atlantis oder die Hölle, über Onanie oder Humor, über Hitler oder Freud, Herodes oder Nostradamus und so weiter, kreuz und quer durch die abendländische Geschichte und den deutschen Alltag mit seinen Gemeinplätzen des Eingeweiht- und Betroffenseins - das macht Effekt. Und auch Spaß, gelegentlich.

Aber reicht das denn für eine "Kulturgeschichte der Mißverständnisse"? Da fehlt doch dies und das und sicher jedem das Wichtigste. Wer so mäkelt, bestätigt nur Henscheids Lehre, daß (fast) alles Mißverständnis sei. Hinterrücks bestätigt würde sie freilich auch durch die von Henscheid schon erwartete "naseweise Rechthaberei" des Lesers, nämlich den Hinweis auf Fehler - pardon: Mißverständnisse - im eigenen Text. Der wird dem verkündeten Verdacht durchaus gerecht. Henscheid selber, wenn er bei anderen auf entsprechende Mängel trifft, schimpft und höhnt, daß man meinen könnte, er erwarte alles Heil von der Pflege des Authentischen, des rein Entsprungenen. Das widerspräche jedoch seinem Mißverständnis-Dogma, für welches das zitierte Infinitesimalum das letzte Wort, die gepanschte Quintessenz unserer Kultur zu sein scheint. Oder läßt sich irgendeine Wahrheit nennen, in deren Namen hier auf Mißverständnisse Jagd gemacht wird?

Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die Autoren. Brigitte Kronauer spricht in ihrer Blütenlese "Das Mißverständnis als Muse" von dem "Hintergrund einer eigentlichen Ordnung oder Wahrheit oder Verständlichkeit", von dem sich in der älteren Literatur das Mißverstehen abhebe; erst in der Moderne sei alles mißverständlich geworden. (Aber hatten nicht gerade die Avantgarden der zwanziger Jahre einen fast totalitären Wahrheits- und Ordnungsanspruch? War es nicht die Postmoderne, die jenen Hintergrund oder Zielpunkt schließlich aufgegeben hat?) Für Gerhard Henschel hingegen wird das Wahre weniger durch Tradition bestimmt als durch Forschung ermittelt; er bezieht seine Einsichten deshalb vornehmlich aus besserwissenden Büchern.

Anders Henscheid. Sein Besserwissen ist autogen. So muß er sich, um zum Beispiel philosophische "Mißverständnisse" zu erörtern, auf nichts weiter stützen als auf Störigs "Kleine Weltgeschichte der Philosophie". Ansonsten beruft er sich gern auf Egon Friedell, noch lieber auf Karl Kraus, den er zu seinem Vorfahren befördert hat, und zitiert immer wieder Robert Gernhardt und Hermann L. Gremliza, als bildeten sie zusammen mit ihm eine Troika. In Wahrheit kennt er nur eine Bezugsperson, nur eine Autorität: sich selbst. Und dieses Selbst ist wesentlich durch Streit, ja Haß bestimmt, muß offenbar ständig von neuem erstritten, erhaßt werden, wofür ihm, seit langem schon, vor allem Alexander und Margarete Mitscherlich, Jürgen Habermas und Luise Rinser dienen - es ist eine wahre Obsession, jenseits aller Mißverständnis-Hatz, und soll deshalb hier nicht weiter erörtert werden.

Freilich kommen die anderen, mit denen Henscheid sich anlegt, und das ist potentiell jeder, der etwas äußert, kaum besser weg. Sie sind allzumal Hohl-, Knall-, Schwach- und Wirrköpfe. Aber immerhin Köpfe, was im Zeitalter des Unterleibhaftigen fast altmodisch wirkt. Der Kopfjäger genießt seine Aggressivität ganz offen, vollmundig, logo-narzißtisch. Wenn er beispielsweise über Augstein sagt, er bleibe "als sein eigener dummer August ein auch weiterhin unvermeidlich unverbrüchlicher Mitquatscher am allgemeinen Zeitgequake und Herumgegurke", so ist das kaum realitätshaltiger als seine Bemerkung, Hitler sei "von der saudummen Eva Braun ermordet" worden.

Der Leser hat vermutlich schon nach ein paar Dutzend Seiten aufgehört, sich zu fragen, nach welchen Maßstäben hier geurteilt wird, und dürfte nicht überrascht sein, wenn er gegen Ende des Buches erfährt, daß es nicht nur das allgegenwärtige dumpfe "Bedürfnis nach Miß- und Unverstand" gibt, sondern auch die "hohe Kunst des praktisch universellen Mißverstehens". Diese Kunst hat ihm Henscheid mehrmals vor Augen geführt, wie ein diabolischer Jongleur, der - mit Vorliebe am Schluß eines Kapitels - alles durcheinanderwirft. Wenn Wirrnis gestiftet wird, Widersinn blüht, die Besserwisserei in Blödelei aufgeht, so als würde sich der Zeigefinger von Reich-Ranicki mit dem Zeigefinger von Heike Makatsch verhaken, dann ist Henscheid ganz er selbst und ganz einmalig.

Erledigt wäre damit wohl auch die leidige Frage, die schon den Ideologiekritiker traf: wieso denn gerade er sich dem von ihm behaupteten universellen Verblendungszusammenhang, dem notwendig falschen Verstehen entwinden könne. Für Henscheid ist Verstehen im Grunde nur ein Gesellschaftsspiel, so etwas wie Blindekuh. Damit vollendet sich das Werk, das der ideologiekritische Hammer der weiland Frankfurter Schule begonnen hatte und das in den siebziger Jahren fortgesetzt wurde von der Psychohistorie genannten Bloßstellung namhafter Toter, die in den Achtzigern einmündete in die Selbstentblößung, in das große Outing eines fin de siècle, das nunmehr, da es nichts mehr zu entlarven gibt, die öffentlichen Bedeutungen abgeräumt, die privaten Geheimnisse ausgepackt sind, seinen Kehraus feiert in unserer Spaß- und Quatschkultur, deren Kosename Dekonstruktion lautet.

Wenn man die "Kulturgeschichte der Mißverständnisse" in diesen Rahmen stellt, muß man jedoch hinzufügen, daß Henscheid schon seit einem Vierteljahrhundert die heutige Spaßmacherei antizipiert hat. Der laufende Schwachsinn ist mittlerweile läufig geworden. Eine mächtige, nicht nur papierene Welle von Kalauerei und Wortpanscherei bricht über uns herein. Was tut der Spaßmacher, wenn rund um ihn plötzlich die Witzelsucht wütet? Er setzt auf einen Schalk anderthalbe. Mindestens. Insbesondere dann, wenn es um den Ausdruck von Spott und Häme geht. Ein Beispiel für Hunderte: Das treffliche Wort "begriffsstutzig" meidend, schreibt Henscheid "schwervonbegrifflicher Unverstand". Also wenn das Schule macht - wenn demnächst etwa Mittel für schweraufdrahtige Fitneß oder gegen schlechtzufußige Behinderung angeboten werden! Henscheids Lesergemeinde erwartet freilich, daß er mit der Sprache Schlitten fährt, und die Verächter seiner Schreib-Art erwarten es auch. So werden beide Seiten zufriedengestellt. Und beide weben mit am großen Schleier des totalen Mißverstehens: die einen, weil sie nicht verstehen wollen, die anderen, weil sie zuverstehen wähnen. Anders gesagt: Henscheids Zwangsdeutungssystem behält immer recht - Kultur heißt Mißverstehen.

Schade aber, daß die Kehrseite dieser Münze höchstens in den Beiträgen von Brigitte Kronauer aufscheint: das Mißverständnis als Kulturleistung. Dies weniger im Sinne der von Henscheid als Modell bezeichneten Kannitverstan-Geschichte Johann Peter Hebels, in der ein Handwerksbursche "durch den Irrtum zur Wahrheit" kommt, aber nur zu einer gemeinplätzigen, einer Kalendergeschichtenwahrheit.

Spannender ist das Modell einer anderen Geschichte, die Lessing im Rahmen seines Streits mit Hauptpastor Goeze erzählt: Ein deutscher Prediger wird Anfang des siebzehnten Jahrhunderts samt den Seinen und einem Exemplar von Luthers Katechismus auf eine unbewohnte Insel des Bermuda-Dreiecks verschlagen. Gut hundertfünfzig Jahre später kommt ein anderer Prediger auf die Insel, findet dort ein fröhliches nacktes Völkchen, das ein Deutsch voller Wendungen aus Luthers Katechismus spricht und einem etwas verwilderten lutherischen Glauben anhängt. Vom Katechismus selbst sind nur die Einbandbretter übriggeblieben. "In diesen Bretterchen, sagten sie, steht das alles, was wir wissen. - Hat es gestanden, meine Lieben! sagte der Feldprediger. - Steht noch, steht noch! sagten sie. Wir können zwar selbst nicht lesen, wissen auch kaum, was Lesen ist: aber unsere Väter haben es ihre Väter daraus herlesen hören. Und diese haben den Mann gekannt, der die Bretterchen geschnitten. Der Mann hieß Luther und lebte kurz nach Christo." Die Fabel gibt zu denken: über Worte und Werke, die, aus ihrem kulturellen Kontext gelöst, ein zweites Leben beginnen. Als Mißverständnis? Vielleicht. Aber als ein produktives.

Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel, Brigitte Kronauer: "Kulturgeschichte der Mißverständnisse. Studien zum Geistesleben". Philipp Reclam jun., Stuttgart 1997. 590 S., geb., 49,80DM.

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