Klaus Behling hat einen Krimi verfasst, der sich vom üblichen Thriller nur in einem einzigen Punkt unterscheidet: Alle handelnden Personen sind echt, und ihre oftmals abenteuerlichen Geschichten von Lüge und Verrat, von Liebe und Hoffnung sind nicht erfunden. Es geht um die letzten Wochen der DDR. Wie gelang es der legendären "Hauptverwaltung Aufklärung" von Markus Wolf, in der Wendezeit ihre Spuren zu verwischen? Warum gab es in Erich Mielkes Elitetruppe "Verräter" und was haben sie beim westdeutschen Bundesnachrichtendienst ausgesagt? Weshalb wanderten die Topspione der Stasi im Westen ins Gefängnis, die Schreibtischtäter im Osten aber nur in den Ruhestand? Klaus Behling analysiert dieses Stück deutsch-deutscher Geschichte mit großer Sachlichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003Die Großen und ihre kleinlichen Brüder
Spione, Kundschafter und Verräter aus britischer und ostdeutscher Perspektive
Die Gentlemen vom Secret Intelligence Service (SIS) schwiegen, wie es der Brauch war. Bis in die jüngste Zeit galt deswegen der Bau des legendären Spionagetunnels, in dem vom 11. Mai 1955 bis zum 22. April 1956 vom West-Berliner Bezirk Rudow aus die geheimen Telefonleitungen sowjetischer Dienststellen in der DDR abgehört wurden, als ein Werk amerikanischer Intelligenz. David Stafford, Professor am Centre of Second World War Studies in Edinburgh, belegt nun in einer gänzlich unprofessoral gehaltenen, spannend geschriebenen Darstellung, welche bedeutende Rolle der Geheimdienst Ihrer Majestät bei der Spionageaktion im Berliner Untergrund gespielt hat.
Die beiden Koordinatoren des Projekts auf amerikanischer und britischer Seite hätten unterschiedlicher kaum sein können. Peter Lunn, Operationschef des SIS, war ein Sportsmann vom Scheitel bis zur Sohle. Als Kapitän der britischen Olympiamannschaft nahm er 1936 an den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen teil. Allerdings blieb er demonstrativ der pompösen Eröffnungszeremonie mit Adolf Hitler fern, weil er eine tiefe Abneigung gegen Massenaufmärsche hegte. In Großbritannien machte sich der bekennende Katholik durch mehrere Handbücher über das Skifahren sowie durch einen Roman - "Evil in High Places" - einen Namen. Als Lunn im Jahr 1948 wiederum als Kapitän der britischen Olympiamannschaft an den Winterspielen in St. Moritz teilnahm, ahnte keiner seiner Sportskameraden, daß der glänzende Skifahrer hauptberuflich dem Geheimdienst SIS diente. Unmittelbar nach den Olympischen Spielen übernahm Lunn die Leitung der Wiener SIS-Zentrale. Dort koordinierte er den Bau von insgesamt vier Abhörtunneln, in denen Telefonleitungen der sowjetischen Besatzungsmacht angezapft wurden.
Er verfügte also über einige Erfahrungen auf diesem Gebiet, als er das Kommando beim SIS in West-Berlin übernahm. Sein amerikanischer Partner für das dort geplante Tunnelprojekt war Bill Harvey, ein gänzlich unsportlicher, übergewichtiger und trinkfreudiger CIA-Offizier aus Indiana. Harvey, der immer einen Revolver bei sich zu tragen pflegte, kam Anfang der sechziger Jahre als Planer "exekutiver Aktionen" gegen Fidel Castro und Patrice Lumumba zu zweifelhaftem Ruhm. Bei der Organisation des Berliner Spionagetunnels harmonierten die gegensätzlichen Charaktere Lunn und Harvey jedoch prächtig. Ihr Joint-venture-Unternehmen trug auf britischer Seite den Codenamen "Stopwatch", bei den Amerikanern, die den Löwenanteil des sechs Millionen Dollar teuren Projekts zu tragen hatten, hieß es schlicht "Gold". Der frühzeitig in die gemeinsame Operation "Stopwatch/Gold" eingeweihte CIA-Chef Allen Dulles bezeichnete das Vorhaben hingegen zumeist ironisch als "Harvey's Hole".
Die Bilanz der Spionageaktion war am Ende beeindruckend. Insgesamt zeichneten die CIA- und SIS-Experten während des elfmonatigen Betriebes im Berliner Tunnel 50 000 Magnetspulen auf. In London übertrugen rund dreihundert Geheimdienstmitarbeiter die Tonbänder in Schriftform, in Washington verrichteten noch einmal dreihundertfünfzig russischsprachige CIA-Leute die gleiche Arbeit. Neben 90 000 russischen Telefonaten wurden im Laufe der Spionageaktion auch 17 000 DDR-Dienstgespräche vollständig niedergeschrieben und ausgewertet.
Doch nicht nur die Geheimdienstzentralen von Washington und London wußten, was sich hinter dem Decknamen "Stopwatch/Gold" verbarg. Auch in Moskau war man schon vor Beginn der Operation bestens über das Tunnelprojekt im Bilde. Ein KGB-Agent, der SIS-Offizier George Blake - Deckname "Diamant" -, hatte schon im Dezember 1953 an einem Vorbereitungstreffen zwischen SIS und CIA teilgenommen und die Tunnelpläne aufgezeichnet. Am 18. Januar 1954 übergab er im Oberdeck eines Londoner Linienbusses dem Kulturattaché der sowjetischen Botschaft Sergej Kondraschow das Geheimprotokoll der amerikanisch-britischen Absprachen zum Tunnelbau. Zwei Tage später genehmigte CIA-Chef Allen Dulles in Washington den Beginn der Bauarbeiten.
Wenn der sowjetischen Spionageabwehr aber schon vor Beginn des Unternehmens all seine Einzelheiten bekannt waren, so stellt sich die Frage, warum es am Ende über elf Monate gedauert hat, bis der Tunnel unter dem Ost-Berliner Stadtgebiet entdeckt und geschlossen wurde. David Stafford bietet hierfür zwei Antworten an. Zum einen habe der KGB seinen Spitzenagenten im britischen Geheimdienst nicht gefährden wollen. Bei einer frühzeitigen Entdeckung des Tunnels hätten CIA und SIS unweigerlich die Suche nach einem Maulwurf in den eigenen Reihen aufgenommen.
Die zweite Erklärung des Autors für die Zurückhaltung der sowjetischen Abwehr lautet, der KGB sei "heimlich im Interesse der Entspannung tätig" gewesen. Er habe deswegen die Lauscher von CIA und SIS lange gewähren lassen, um Washington und London davon in Kenntnis zu setzen, daß die Sowjetunion keinen Angriff auf den Westen plane. Zu dieser These paßt auch der Zeitpunkt der Tunnelentdeckung. Als am Sonntagmorgen des 22. April 1956 sowjetische Fernmeldespezialisten an der Schönefelder Chaussee in Berlin mit Hacken und Schaufeln der "anglo-amerikanischen Spionagezentrale" zu Leibe rückten, saßen der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow und sein Ministerpräsident Nikolai Bulganin an einem Frühstückstisch auf dem Landsitz des britischen Premierministers Anthony Eden. Die beiden Sowjetführer weilten nämlich just zum Zeitpunkt der spektakulären Ausgrabung des Berliner Spionagetunnels zu einem mehrtägigen Staatsbesuch in Großbritannien. Die Ostblock-Propaganda richtete bezeichnenderweise alle öffentlichen Anschuldigungen gegen die Amerikaner, obwohl im Tunnel das englische Gerät und die Beteiligung des SIS unübersehbar waren. George Blake, der sowjetische Agent im SIS, wurde 1961 durch einen Überläufer des polnischen Geheimdienstes enttarnt und zu zweiundvierzig Jahren Haft verurteilt. Mit Hilfe des KGB entkam Blake 1966 aus einem Londoner Gefängnis und tauchte in Moskau zu einer triumphalen Pressekonferenz wieder auf.
Auch das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) pflegte Überläufer der westdeutschen Dienste auf Pressekonferenzen zu präsentieren. Hans-Joachim Tiedge, langjähriger Leiter der Spionageabwehr Ost beim Verfassungsschutz, war ein solcher Fall. Er floh 1985 in die DDR. In Tiedges Abwehrabteilung arbeitete Klaus Kuron, der seit 1982 neben seinem westdeutschen Beamtengehalt auch regelmäßig einen beträchtlichen Agentenlohn vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bezog. Kuron und Tiedge verrieten dem MfS Horst Garau, einen Kreisschulrat aus Calau, der im inoffiziellen Dienst von Markus Wolfs HV A stand und sich dem Verfassungsschutz während einer Westreise offenbart hatte. Garau erhielt von der DDR-Justiz eine lebenslange Gefängnisstrafe. Er starb 1988 in der Haftanstalt Bautzen angeblich durch eigene Hand. Seine Familie bezweifelt die Selbstmordversion des MfS bis heute.
Durch Aussagen ehemaliger MfS-Offiziere konnten nach 1990 eine ganze Reihe von MfS-Agenten in der Bundesrepublik überführt und verurteilt werden. Diese Spione haben inzwischen ihre verhältnismäßig milden Haftstrafen abgesessen und leben längst wieder auf freiem Fuß. Westlichen Spionen hingegen, die das MfS zu DDR-Zeiten überführte, war es anders ergangen. Sie erhielten lange Haftstrafen wie Garau oder wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet wie Konteradmiral Winfried Baumann und MfS-Major Gert Trebeljahr 1979 sowie zuletzt MfS-Hauptmann Dr. Werner Teske 1981.
Klaus Behling versucht in seinem Rückblick auf die "Kundschafter a.D." eine Bilanz aus Erfolgen und Niederlagen des Spionageapparates der Stasi zu ziehen. Der Autor, ein ehemaliger DDR-Diplomat, stützt sich dabei recht zutraulich auf Autobiographisches von MfS-Offizieren und ehemaligen Stasizuträgern im Westen. Das färbt ab. So übernimmt Behling eine ganze Reihe von offenkundigen Selbstrechtfertigungen, darunter auch die MfS-Darstellung, am 15. Januar 1990 hätten "eingeschleuste BND-Leute" und nicht Bürgerrechtler die Besetzung der Ost-Berliner Stasizentrale organisiert. Die unrühmliche Rolle des MfS als Freund und Helfer der westdeutschen und internationalen Terrorszene bleibt indes ausgeblendet.
Die "Kundschafter a.D." in den Reihen deutscher und arabischer Untergrundorganisationen lassen sich nun einmal nicht so rührselig verkaufen wie die Geschichte der von fast allen alten Genossen verlassenen Spionin aus Liebe Gabriele Gast. Die ehemalige Topagentin des MfS im BND habe nach ihrer Haftentlassung "erschüttert" die unsolidarische Haltung der PDS erfahren müssen, schreibt Behling. "Eiskalt" sei ihr Gregor Gysi begegnet, "herzlose Ablehnung" habe sie von seiten der SED-Nachfolgepartei erfahren. Nur der letzte Stasispionagechef Werner Großmann nahm keine "pflaumenweiche Haltung" ein und bot ohne Zögern seine Hilfe an.
Ausführlich würdigt der Autor die Argumente jener CDU-Politiker, die 1991 ein Schlußstrichgesetz befürwortet haben. Wolfgang Schäuble gehörte ebenso dazu wie Rainer Eppelmann und Peter Michael Diestel. Doch auch ohne Schlußstrich sei schließlich "die aufwendige Arbeit der Juristen geglückt. Die relativ geringe Zahl von Verurteilungen von Spionen aus Ost und West spricht dafür." Gabriele Gast, die bis zu ihrer Enttarnung als Stasiagentin im Referat Sowjetunion des BND gearbeitet hat, sieht das anders. Behling zitiert die frühere Stasiagentin am Ende seines Buches mit der Klage, der neue gesamtdeutsche Staat habe nicht einmal Anstalten gemacht, jene DDR-Bürger, die für den KGB gearbeitet haben, "zu ermitteln und strafrechtlich zu belangen". Heiliger Sankt Florian!
JOCHEN STAADT
David Stafford: Berlin Underground. Wie der KGB und die westlichen Geheimdienste Weltpolitik machten. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2003. 260 S., 22,- [Euro].
Klaus Behling: Kundschafter a.D. Das Ende der DDR-Spionage. Hohenheim Verlag, Stuttgart/Leipzig 2003. 325 S., 19,90 [Euro].
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Spione, Kundschafter und Verräter aus britischer und ostdeutscher Perspektive
Die Gentlemen vom Secret Intelligence Service (SIS) schwiegen, wie es der Brauch war. Bis in die jüngste Zeit galt deswegen der Bau des legendären Spionagetunnels, in dem vom 11. Mai 1955 bis zum 22. April 1956 vom West-Berliner Bezirk Rudow aus die geheimen Telefonleitungen sowjetischer Dienststellen in der DDR abgehört wurden, als ein Werk amerikanischer Intelligenz. David Stafford, Professor am Centre of Second World War Studies in Edinburgh, belegt nun in einer gänzlich unprofessoral gehaltenen, spannend geschriebenen Darstellung, welche bedeutende Rolle der Geheimdienst Ihrer Majestät bei der Spionageaktion im Berliner Untergrund gespielt hat.
Die beiden Koordinatoren des Projekts auf amerikanischer und britischer Seite hätten unterschiedlicher kaum sein können. Peter Lunn, Operationschef des SIS, war ein Sportsmann vom Scheitel bis zur Sohle. Als Kapitän der britischen Olympiamannschaft nahm er 1936 an den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen teil. Allerdings blieb er demonstrativ der pompösen Eröffnungszeremonie mit Adolf Hitler fern, weil er eine tiefe Abneigung gegen Massenaufmärsche hegte. In Großbritannien machte sich der bekennende Katholik durch mehrere Handbücher über das Skifahren sowie durch einen Roman - "Evil in High Places" - einen Namen. Als Lunn im Jahr 1948 wiederum als Kapitän der britischen Olympiamannschaft an den Winterspielen in St. Moritz teilnahm, ahnte keiner seiner Sportskameraden, daß der glänzende Skifahrer hauptberuflich dem Geheimdienst SIS diente. Unmittelbar nach den Olympischen Spielen übernahm Lunn die Leitung der Wiener SIS-Zentrale. Dort koordinierte er den Bau von insgesamt vier Abhörtunneln, in denen Telefonleitungen der sowjetischen Besatzungsmacht angezapft wurden.
Er verfügte also über einige Erfahrungen auf diesem Gebiet, als er das Kommando beim SIS in West-Berlin übernahm. Sein amerikanischer Partner für das dort geplante Tunnelprojekt war Bill Harvey, ein gänzlich unsportlicher, übergewichtiger und trinkfreudiger CIA-Offizier aus Indiana. Harvey, der immer einen Revolver bei sich zu tragen pflegte, kam Anfang der sechziger Jahre als Planer "exekutiver Aktionen" gegen Fidel Castro und Patrice Lumumba zu zweifelhaftem Ruhm. Bei der Organisation des Berliner Spionagetunnels harmonierten die gegensätzlichen Charaktere Lunn und Harvey jedoch prächtig. Ihr Joint-venture-Unternehmen trug auf britischer Seite den Codenamen "Stopwatch", bei den Amerikanern, die den Löwenanteil des sechs Millionen Dollar teuren Projekts zu tragen hatten, hieß es schlicht "Gold". Der frühzeitig in die gemeinsame Operation "Stopwatch/Gold" eingeweihte CIA-Chef Allen Dulles bezeichnete das Vorhaben hingegen zumeist ironisch als "Harvey's Hole".
Die Bilanz der Spionageaktion war am Ende beeindruckend. Insgesamt zeichneten die CIA- und SIS-Experten während des elfmonatigen Betriebes im Berliner Tunnel 50 000 Magnetspulen auf. In London übertrugen rund dreihundert Geheimdienstmitarbeiter die Tonbänder in Schriftform, in Washington verrichteten noch einmal dreihundertfünfzig russischsprachige CIA-Leute die gleiche Arbeit. Neben 90 000 russischen Telefonaten wurden im Laufe der Spionageaktion auch 17 000 DDR-Dienstgespräche vollständig niedergeschrieben und ausgewertet.
Doch nicht nur die Geheimdienstzentralen von Washington und London wußten, was sich hinter dem Decknamen "Stopwatch/Gold" verbarg. Auch in Moskau war man schon vor Beginn der Operation bestens über das Tunnelprojekt im Bilde. Ein KGB-Agent, der SIS-Offizier George Blake - Deckname "Diamant" -, hatte schon im Dezember 1953 an einem Vorbereitungstreffen zwischen SIS und CIA teilgenommen und die Tunnelpläne aufgezeichnet. Am 18. Januar 1954 übergab er im Oberdeck eines Londoner Linienbusses dem Kulturattaché der sowjetischen Botschaft Sergej Kondraschow das Geheimprotokoll der amerikanisch-britischen Absprachen zum Tunnelbau. Zwei Tage später genehmigte CIA-Chef Allen Dulles in Washington den Beginn der Bauarbeiten.
Wenn der sowjetischen Spionageabwehr aber schon vor Beginn des Unternehmens all seine Einzelheiten bekannt waren, so stellt sich die Frage, warum es am Ende über elf Monate gedauert hat, bis der Tunnel unter dem Ost-Berliner Stadtgebiet entdeckt und geschlossen wurde. David Stafford bietet hierfür zwei Antworten an. Zum einen habe der KGB seinen Spitzenagenten im britischen Geheimdienst nicht gefährden wollen. Bei einer frühzeitigen Entdeckung des Tunnels hätten CIA und SIS unweigerlich die Suche nach einem Maulwurf in den eigenen Reihen aufgenommen.
Die zweite Erklärung des Autors für die Zurückhaltung der sowjetischen Abwehr lautet, der KGB sei "heimlich im Interesse der Entspannung tätig" gewesen. Er habe deswegen die Lauscher von CIA und SIS lange gewähren lassen, um Washington und London davon in Kenntnis zu setzen, daß die Sowjetunion keinen Angriff auf den Westen plane. Zu dieser These paßt auch der Zeitpunkt der Tunnelentdeckung. Als am Sonntagmorgen des 22. April 1956 sowjetische Fernmeldespezialisten an der Schönefelder Chaussee in Berlin mit Hacken und Schaufeln der "anglo-amerikanischen Spionagezentrale" zu Leibe rückten, saßen der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow und sein Ministerpräsident Nikolai Bulganin an einem Frühstückstisch auf dem Landsitz des britischen Premierministers Anthony Eden. Die beiden Sowjetführer weilten nämlich just zum Zeitpunkt der spektakulären Ausgrabung des Berliner Spionagetunnels zu einem mehrtägigen Staatsbesuch in Großbritannien. Die Ostblock-Propaganda richtete bezeichnenderweise alle öffentlichen Anschuldigungen gegen die Amerikaner, obwohl im Tunnel das englische Gerät und die Beteiligung des SIS unübersehbar waren. George Blake, der sowjetische Agent im SIS, wurde 1961 durch einen Überläufer des polnischen Geheimdienstes enttarnt und zu zweiundvierzig Jahren Haft verurteilt. Mit Hilfe des KGB entkam Blake 1966 aus einem Londoner Gefängnis und tauchte in Moskau zu einer triumphalen Pressekonferenz wieder auf.
Auch das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) pflegte Überläufer der westdeutschen Dienste auf Pressekonferenzen zu präsentieren. Hans-Joachim Tiedge, langjähriger Leiter der Spionageabwehr Ost beim Verfassungsschutz, war ein solcher Fall. Er floh 1985 in die DDR. In Tiedges Abwehrabteilung arbeitete Klaus Kuron, der seit 1982 neben seinem westdeutschen Beamtengehalt auch regelmäßig einen beträchtlichen Agentenlohn vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bezog. Kuron und Tiedge verrieten dem MfS Horst Garau, einen Kreisschulrat aus Calau, der im inoffiziellen Dienst von Markus Wolfs HV A stand und sich dem Verfassungsschutz während einer Westreise offenbart hatte. Garau erhielt von der DDR-Justiz eine lebenslange Gefängnisstrafe. Er starb 1988 in der Haftanstalt Bautzen angeblich durch eigene Hand. Seine Familie bezweifelt die Selbstmordversion des MfS bis heute.
Durch Aussagen ehemaliger MfS-Offiziere konnten nach 1990 eine ganze Reihe von MfS-Agenten in der Bundesrepublik überführt und verurteilt werden. Diese Spione haben inzwischen ihre verhältnismäßig milden Haftstrafen abgesessen und leben längst wieder auf freiem Fuß. Westlichen Spionen hingegen, die das MfS zu DDR-Zeiten überführte, war es anders ergangen. Sie erhielten lange Haftstrafen wie Garau oder wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet wie Konteradmiral Winfried Baumann und MfS-Major Gert Trebeljahr 1979 sowie zuletzt MfS-Hauptmann Dr. Werner Teske 1981.
Klaus Behling versucht in seinem Rückblick auf die "Kundschafter a.D." eine Bilanz aus Erfolgen und Niederlagen des Spionageapparates der Stasi zu ziehen. Der Autor, ein ehemaliger DDR-Diplomat, stützt sich dabei recht zutraulich auf Autobiographisches von MfS-Offizieren und ehemaligen Stasizuträgern im Westen. Das färbt ab. So übernimmt Behling eine ganze Reihe von offenkundigen Selbstrechtfertigungen, darunter auch die MfS-Darstellung, am 15. Januar 1990 hätten "eingeschleuste BND-Leute" und nicht Bürgerrechtler die Besetzung der Ost-Berliner Stasizentrale organisiert. Die unrühmliche Rolle des MfS als Freund und Helfer der westdeutschen und internationalen Terrorszene bleibt indes ausgeblendet.
Die "Kundschafter a.D." in den Reihen deutscher und arabischer Untergrundorganisationen lassen sich nun einmal nicht so rührselig verkaufen wie die Geschichte der von fast allen alten Genossen verlassenen Spionin aus Liebe Gabriele Gast. Die ehemalige Topagentin des MfS im BND habe nach ihrer Haftentlassung "erschüttert" die unsolidarische Haltung der PDS erfahren müssen, schreibt Behling. "Eiskalt" sei ihr Gregor Gysi begegnet, "herzlose Ablehnung" habe sie von seiten der SED-Nachfolgepartei erfahren. Nur der letzte Stasispionagechef Werner Großmann nahm keine "pflaumenweiche Haltung" ein und bot ohne Zögern seine Hilfe an.
Ausführlich würdigt der Autor die Argumente jener CDU-Politiker, die 1991 ein Schlußstrichgesetz befürwortet haben. Wolfgang Schäuble gehörte ebenso dazu wie Rainer Eppelmann und Peter Michael Diestel. Doch auch ohne Schlußstrich sei schließlich "die aufwendige Arbeit der Juristen geglückt. Die relativ geringe Zahl von Verurteilungen von Spionen aus Ost und West spricht dafür." Gabriele Gast, die bis zu ihrer Enttarnung als Stasiagentin im Referat Sowjetunion des BND gearbeitet hat, sieht das anders. Behling zitiert die frühere Stasiagentin am Ende seines Buches mit der Klage, der neue gesamtdeutsche Staat habe nicht einmal Anstalten gemacht, jene DDR-Bürger, die für den KGB gearbeitet haben, "zu ermitteln und strafrechtlich zu belangen". Heiliger Sankt Florian!
JOCHEN STAADT
David Stafford: Berlin Underground. Wie der KGB und die westlichen Geheimdienste Weltpolitik machten. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2003. 260 S., 22,- [Euro].
Klaus Behling: Kundschafter a.D. Das Ende der DDR-Spionage. Hohenheim Verlag, Stuttgart/Leipzig 2003. 325 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Der ehemalige DDR-Diplomat Klaus Behling bietet in seinem Buch Nahaufnahmen von ehemaligen Stasi-Spitzeln. In mehr als einem Fall jedoch scheint er, so der Rezensent Jochen Staadt, seinem Gegenstand allzu nah. Die "Zutraulichkeit", mit der Behling die Selbstdarstellungen mancher MfS-Mitarbeiter übernehme, ist Staadt jedenfalls alles andere als geheuer. So ist zu lesen, dass BND-Mitarbeiter, nicht Bürgerrechtler 1990 die Stasi-Zentrale besetzten, so bleibt das freundliche Verhältnis zu West-Terroristen unerwähnt, so wird einem die Geschichte der "Spionin aus Liebe" Gabriele Gast ohne Scheu vor "Rührsehligkeit" verkauft. Ein Band also, der mit Vorsicht zu genießen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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