1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, führt Hitler einen ganz persönlichen Kampf: den Kampf für die Spitzmaus. Biologen, die sich erdreistet hatten, dem irrtümlich als »Maus« bezeichneten Tier einen anderen Namen zu verpassen, drohte er mit einem Arbeitseinsatz an der Ostfront. Um die richtigen Namen für die Natur wird - wenn auch weniger dramatisch - seit jeher gerungen. Entgegen der ausgefeilten Systematik der Tierkategorisierung unterliegt die Namensgebung selbst der Freiheit des Entdeckers und gestaltet sich entsprechend kunstvoll wie kontrovers. Doch wie passt das mit dem Exaktheitsanspruch der Naturwissenschaft zusammen? In einer unterhaltsamen Expedition durch die Geschichte der Naturkunde, durch Museen und Wildnis, eröffnet uns Michael Ohl eine eigentümliche, faszinierende Sprachwelt, die sich von volkstümlichen Bezeichnungen über die Systematisierung bei Linné bis hin zur Genetik stetig weiterentwickelt hat. Er erzählt die Geschichte von waghalsigen Abenteurern und sammelwütigen Sonderlingen und erklärt, warum der Maulwurf sein Maul bei sich behält und das Murmeltier pfeift und nicht murmelt. Mit diesem Verständnis des sinnlichen Wechselspiels von Kultur und Natur können wir begreifen, warum die »Diva unter den Pferdebremsen« mit goldenem Hinterteil den Namen von Beyoncé trägt, und was es mit der merkwürdigen Art »Homo sapiens« auf sich hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2015Nasenschreitling trifft Grubenhund
Millionen von Namen dringend gesucht: Michael Ohl erklärt, wie die Tierarten zu ihren Bezeichnungen kommen. Aber woran erkennt man eigentlich eine neue Art?
Die Schöpfung stand, da führte Gott Adam die Tiere zu, um zu sehen, wie dieser sie benennen würde. So steht es in der biblischen Paradiesgeschichte. Welche Namen Adam wählte, weiß man natürlich nicht, denn die Strafe für den Turmbau von Babel stand ja noch bevor. Daran knüpfte sich eine lange Tradition, in der über die ursprünglichen Benennungen spekuliert wurde, die Namen sein und doch auch irgendwie das Wesen des Benannten treffen sollten.
Natürlich sind solche Namen, die gleichzeitig mehr als bloß Namen sein sollen, eine Schimäre. Das Benennen kam viel später ja auch erst richtig in Fahrt. Schließlich wurden der wissenschaftlich zu benennenden Pflanzen und Tiere seit der Neuzeit immer mehr. Tausende von neuen Arten sind es mittlerweile im Jahr, die nach neuen Namen verlangen. Wie viele noch zu entdecken bleiben, darüber gehen die Vermutungen zwar gewaltig auseinander, aber selbst nach konservativen Schätzungen sind es einige Millionen.
Wie das geht, eine vermutlich neu entdeckte Art zu benennen, das kann man als Laie im Buch des Berliner Biologen und Entomologen Michael Ohl nachlesen. Das Benennen selbst ist nicht schwer, selbst wenn ein paar Regeln zu berücksichtigen sind, um einen - in der Regel bereits etablierten - Gattungsnamen mit einem Epitheton zu verbinden, das die neue Art bezeichnet. Womit dann die latinisierten Namen nach dem binären Schema entstehen, das Carl von Linné zum ersten Mal vor gut zweihundertfünfzig Jahren durchgängig in seinem "Systema naturae" anwendete.
Die Freiheiten für das Art-Epitheton sind bei Einhaltung der einfachen Regeln groß: Es kann sich aus morphologischen oder anderen Eigenschaften herleiten, aber auch aus Wortspielen, Dialektformen, Eigennamen aller Art, gelungenen oder weniger gelungenen Anspielungen und so fort. Michael Ohl gibt für alle diese Varianten Beispiele, löst kryptisch anmutende Prägungen auf und macht mit dahinterstehenden Namengebern und ihren Marotten bekannt.
So unterhaltend dieser Streifzug durch merkwürdige Namen ausfällt, interessanter ist doch noch, was vor der Namengebung kommt und was darüber entscheidet, ob der gewählte Name auch seinen Platz behaupten kann. Denn die Bedingung dafür ist natürlich, dass der Namengeber beim Taufakt wirklich Exemplare einer neuen, nie zuvor benannten Art vor sich hatte. Nur dann besteht die Aussicht, dass sein eigener Name, den er dem binären Artnamen anhängen darf, ergänzt noch um die Jahreszahl der Taufe, taxonomisch gültig verewigt wird.
Da freilich kommen die Schwierigkeiten und Feinheiten ins Spiel: Indizieren die beschriebenen morphologischen Unterschiede wirklich eine neue Art? Oder sind sie doch als innerartliche Abweichungen anzusehen? Und ist ein Exemplar, auf das diese Beschreibung zutrifft, nicht doch schon irgendwann seit 1758 - das Jahr der zehnten Auflage von Linnés "Systema" und die historische Nulllinie der Taxonomik - einmal beschrieben und benannt worden? Weil die Benennung zwar in einer gedruckten Veröffentlichung erfolgen muss, aber kaum weitere Bedingungen daran geknüpft sind, verlangt das in der Regel weitläufige Kenntnisse sowohl der Literatur wie der einschlägigen Sammlungen; und reiche Erfahrung ist natürlich gefragt, um eine neue Art erst einmal als solche zu erkennen.
Michael Ohl macht nicht nur mit taxonomischer Systematik und der Praxis ihrer Erweiterungen bekannt. Er berührt auch Fragen, die an der Systematik hängen: die Diskussionen darüber, was genau eigentlich eine Art ausmacht, und auch die Auseinandersetzungen darüber, ob ihre Namen nun als Eigennamen firmieren sollen oder doch eher als Bezeichnungen von bestimmten, durch Merkmale definierten Klassen. Es sind Fragen, mit denen man schnell auf tiefen Grund gerät, den der Autor aber schnell wieder verlässt, indem er klarmacht: Auch wenn in diesen Debatten keine Einigkeit erzielt wird, die nomenklatorische Praxis erweist sich gegenüber solchen Unschärfen als robuste Angelegenheit.
So wie sie auch das gern gepflegte Spiel mit fiktiven oder auf riskante Weise hypothetischen Arten ohne weiteres aushält. Zumindest dann, wenn man die Sache nicht gnadenlos vertieft, sondern wie der Autor auf den gesunden Menschenverstand zählt, den abenteuerlustige Nomenklatoren zwar etwas schütteln, aber nicht gleich aus den Angeln heben wollen. Wie sollten sie auch nicht hin und wieder die Lust verspüren, der namengeberischen Freiheit ganz ohne Zwang zu folgen, also ohne biologische Vorlage. Und so zeigt Ohl mit diversen Grubenhunden der Taxonomik - zu denen mit Canis fossor auch dieser selbst zählt - die Übergänge zur literarischen Naturgeschichte: von bösen Erfindungen wie dem "Homo perniciosus" bis zur wissenschaftlich liebevoll gepflegten Familie der "Nasenschreitlinge", bei denen ein Gedicht Christian Morgensterns Pate stand, oder Vorgriffen auf einst erst noch evolvierende Arten. Zum Reiz dieses Buchs, nach dessen Lektüre man gleich ins nächstgelegene naturhistorische Museum aufbrechen möchte, tragen sie ihren Teil bei.
HELMUT MAYER
Michael Ohl: "Die Kunst der Benennung". Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015. 318 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Millionen von Namen dringend gesucht: Michael Ohl erklärt, wie die Tierarten zu ihren Bezeichnungen kommen. Aber woran erkennt man eigentlich eine neue Art?
Die Schöpfung stand, da führte Gott Adam die Tiere zu, um zu sehen, wie dieser sie benennen würde. So steht es in der biblischen Paradiesgeschichte. Welche Namen Adam wählte, weiß man natürlich nicht, denn die Strafe für den Turmbau von Babel stand ja noch bevor. Daran knüpfte sich eine lange Tradition, in der über die ursprünglichen Benennungen spekuliert wurde, die Namen sein und doch auch irgendwie das Wesen des Benannten treffen sollten.
Natürlich sind solche Namen, die gleichzeitig mehr als bloß Namen sein sollen, eine Schimäre. Das Benennen kam viel später ja auch erst richtig in Fahrt. Schließlich wurden der wissenschaftlich zu benennenden Pflanzen und Tiere seit der Neuzeit immer mehr. Tausende von neuen Arten sind es mittlerweile im Jahr, die nach neuen Namen verlangen. Wie viele noch zu entdecken bleiben, darüber gehen die Vermutungen zwar gewaltig auseinander, aber selbst nach konservativen Schätzungen sind es einige Millionen.
Wie das geht, eine vermutlich neu entdeckte Art zu benennen, das kann man als Laie im Buch des Berliner Biologen und Entomologen Michael Ohl nachlesen. Das Benennen selbst ist nicht schwer, selbst wenn ein paar Regeln zu berücksichtigen sind, um einen - in der Regel bereits etablierten - Gattungsnamen mit einem Epitheton zu verbinden, das die neue Art bezeichnet. Womit dann die latinisierten Namen nach dem binären Schema entstehen, das Carl von Linné zum ersten Mal vor gut zweihundertfünfzig Jahren durchgängig in seinem "Systema naturae" anwendete.
Die Freiheiten für das Art-Epitheton sind bei Einhaltung der einfachen Regeln groß: Es kann sich aus morphologischen oder anderen Eigenschaften herleiten, aber auch aus Wortspielen, Dialektformen, Eigennamen aller Art, gelungenen oder weniger gelungenen Anspielungen und so fort. Michael Ohl gibt für alle diese Varianten Beispiele, löst kryptisch anmutende Prägungen auf und macht mit dahinterstehenden Namengebern und ihren Marotten bekannt.
So unterhaltend dieser Streifzug durch merkwürdige Namen ausfällt, interessanter ist doch noch, was vor der Namengebung kommt und was darüber entscheidet, ob der gewählte Name auch seinen Platz behaupten kann. Denn die Bedingung dafür ist natürlich, dass der Namengeber beim Taufakt wirklich Exemplare einer neuen, nie zuvor benannten Art vor sich hatte. Nur dann besteht die Aussicht, dass sein eigener Name, den er dem binären Artnamen anhängen darf, ergänzt noch um die Jahreszahl der Taufe, taxonomisch gültig verewigt wird.
Da freilich kommen die Schwierigkeiten und Feinheiten ins Spiel: Indizieren die beschriebenen morphologischen Unterschiede wirklich eine neue Art? Oder sind sie doch als innerartliche Abweichungen anzusehen? Und ist ein Exemplar, auf das diese Beschreibung zutrifft, nicht doch schon irgendwann seit 1758 - das Jahr der zehnten Auflage von Linnés "Systema" und die historische Nulllinie der Taxonomik - einmal beschrieben und benannt worden? Weil die Benennung zwar in einer gedruckten Veröffentlichung erfolgen muss, aber kaum weitere Bedingungen daran geknüpft sind, verlangt das in der Regel weitläufige Kenntnisse sowohl der Literatur wie der einschlägigen Sammlungen; und reiche Erfahrung ist natürlich gefragt, um eine neue Art erst einmal als solche zu erkennen.
Michael Ohl macht nicht nur mit taxonomischer Systematik und der Praxis ihrer Erweiterungen bekannt. Er berührt auch Fragen, die an der Systematik hängen: die Diskussionen darüber, was genau eigentlich eine Art ausmacht, und auch die Auseinandersetzungen darüber, ob ihre Namen nun als Eigennamen firmieren sollen oder doch eher als Bezeichnungen von bestimmten, durch Merkmale definierten Klassen. Es sind Fragen, mit denen man schnell auf tiefen Grund gerät, den der Autor aber schnell wieder verlässt, indem er klarmacht: Auch wenn in diesen Debatten keine Einigkeit erzielt wird, die nomenklatorische Praxis erweist sich gegenüber solchen Unschärfen als robuste Angelegenheit.
So wie sie auch das gern gepflegte Spiel mit fiktiven oder auf riskante Weise hypothetischen Arten ohne weiteres aushält. Zumindest dann, wenn man die Sache nicht gnadenlos vertieft, sondern wie der Autor auf den gesunden Menschenverstand zählt, den abenteuerlustige Nomenklatoren zwar etwas schütteln, aber nicht gleich aus den Angeln heben wollen. Wie sollten sie auch nicht hin und wieder die Lust verspüren, der namengeberischen Freiheit ganz ohne Zwang zu folgen, also ohne biologische Vorlage. Und so zeigt Ohl mit diversen Grubenhunden der Taxonomik - zu denen mit Canis fossor auch dieser selbst zählt - die Übergänge zur literarischen Naturgeschichte: von bösen Erfindungen wie dem "Homo perniciosus" bis zur wissenschaftlich liebevoll gepflegten Familie der "Nasenschreitlinge", bei denen ein Gedicht Christian Morgensterns Pate stand, oder Vorgriffen auf einst erst noch evolvierende Arten. Zum Reiz dieses Buchs, nach dessen Lektüre man gleich ins nächstgelegene naturhistorische Museum aufbrechen möchte, tragen sie ihren Teil bei.
HELMUT MAYER
Michael Ohl: "Die Kunst der Benennung". Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015. 318 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
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