Jedes Kunstwerk, und nur im Werk manifestiert sich Kunst, hat einen Doppelcharakter. Einerseits übertüncht es als schöner Schein - oder zumindest als in sich stimmige Formgebung - die elende Wirklichkeit der Gesellschaft. Andererseits aber ist es gerade als gestalteter Ausdruck der Realität dieser enthoben und spricht so das Urteil über eine Gesellschaft, die hinter ihren Gestaltungsmöglichkeiten zurückbleibt.
Herbert Marcuse hat die Beschäftigung mit Kunst und ihrer Theorie zeitlebens als ein Zentrum seines theoretischen Schaffens betrachtet, ja sie scheint ihm im Laufe seiner Entwicklung sogar immer wichtiger geworden zu sein. Je stärker die Sprache der eindimensionalen Gesellschaft zur Sprache von Propaganda und Werbung zu verkommen drohte, desto höher schätzte Marcuse die Bedeutung des unverdinglichten künstlerischen Ausdrucks ein. Trotz des immer auch affirmativen Charakters der Kunst war für Marcuse eine Befreiung der Menschen von gesellschaftlicher Fremdbestimmung ohne den utopischen Gehalt wahrer künstlerischer Produktion undenkbar. In "Kunst und Befreiung" sind Marcuses unveröffentlichte Arbeiten zur Ästhetik von den späten 40er Jahren bis 1978 gesammelt. Inhalt: 1) Kunst und Politik im totalitären Zeitalter2) Kunst in der eindimensionalen Gesellschaft 3) Musik von anderen Planeten4) Kunst als Form der Wirklichkeit5) Zur Kritik an der Politisierung der Kunst6) Kunst und Befreiung7) Notizen zu Proust4) Lyrik nach Auschwitz
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Herbert Marcuse hat die Beschäftigung mit Kunst und ihrer Theorie zeitlebens als ein Zentrum seines theoretischen Schaffens betrachtet, ja sie scheint ihm im Laufe seiner Entwicklung sogar immer wichtiger geworden zu sein. Je stärker die Sprache der eindimensionalen Gesellschaft zur Sprache von Propaganda und Werbung zu verkommen drohte, desto höher schätzte Marcuse die Bedeutung des unverdinglichten künstlerischen Ausdrucks ein. Trotz des immer auch affirmativen Charakters der Kunst war für Marcuse eine Befreiung der Menschen von gesellschaftlicher Fremdbestimmung ohne den utopischen Gehalt wahrer künstlerischer Produktion undenkbar. In "Kunst und Befreiung" sind Marcuses unveröffentlichte Arbeiten zur Ästhetik von den späten 40er Jahren bis 1978 gesammelt. Inhalt: 1) Kunst und Politik im totalitären Zeitalter2) Kunst in der eindimensionalen Gesellschaft 3) Musik von anderen Planeten4) Kunst als Form der Wirklichkeit5) Zur Kritik an der Politisierung der Kunst6) Kunst und Befreiung7) Notizen zu Proust4) Lyrik nach Auschwitz
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.1999Ein Marcuse ist nicht genug
Schafft ein, zwei, viele Vietnams, so lautet ein bekannter Slogan der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Daraus ist zum Glück nichts geworden. Einer ihrer Mentoren aber, Herbert Marcuse, scheint die Parole auf sich selbst bezogen und sich darangemacht zu haben, ein, zwei, viele Marcuses zu schaffen. Und dieses Unternehmen war erfolgreich. Der erste Band, seine nachgelassenen Schriften, der sechs Texte von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren vereint, zeigt eine solche Fülle von Marcuses, dass man Mühe hat, sie alle unter einen Hut zu bekommen (Herbert Marcuse: "Nachgelassene Schriften". Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Peter-Erwin Jansen. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999. 176 S., geb., 38,- DM). Da ist ein Jefferson-Marcuse, der mit beredten Worten beklagt, was aus life, liberty, and the pursuit of happiness in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft geworden ist. Ein William-Morris-Marcuse, der von einer Vervollkommnung der verschandelten Objektwelt nach den Maßgaben der Schönheit träumt. Ein André-Breton-Marcuse, der die kulturrevolutionäre Entsublimierung auf die Tagesordnung setzt. Und ein Malraux-Marcuse, der um die Bestände seines imaginären Museums fürchtet. Ferner treten auf: ein Erbe Husserls und Heideggers, der den wissenschaftlich-technischen "Entwurf" politisch zu deuten versucht. Ein Berater des State Department, der die Chancen für antidemokratische Volksbewegungen im Nachkriegsdeutschland auslotet. Ein erklärter Feind derselben Einrichtung, der die Vereinigten Staaten auf dem geraden Weg in den Faschismus sieht. Ein Prediger des erotischen und des moralischen Fundamentalismus. Ein Platon redivivus, der die Menschheit in die harte Zucht der Philosophen-Könige nehmen möchte. Ein Trittbrettfahrer der Roll-over-Beethoven-Bewegung. Ein idealistischer Ästhetiker Schillerscher Provenienz . . . Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen? Mit psychologischen Kategorien wird man dieser wundersamen Vervielfältigung nicht gerecht. Weiter kommt man, wenn man die genannten Figuren als Masken deutet, in die ein Ritualsubjekt schlüpft. Aus der Religionsethnologie kennt man vergleichbare Vorgänge: Bei den Irokesen beispielsweise gibt es den Bund der "False Faces", dessen Mitglieder in zahlreichen, nach Traum-Vorbildern und Modellen mythischer Geistwesen hergestellten Masken auftreten und allerlei Rituale durchführen. Sobald sie die Masken anziehen, gleichen sie sich dem von ihr dargestellten Geistwesen an, verkörpern es und gehen auf diese Weise eine temporäre Beziehung zu ihm ein, ohne dauerhaft mit ihm zu verschmelzen. Eine Verbindung zu den "False Faces" ist im Fall Marcuses nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen spricht die große Entfernung, die zwischen den Jagdgründen der Irokesen und der kalifornischen Küste liegt. Dagegen spricht auch, dass Marcuse seinen Geist schon aus der Alten Welt mitgebracht hat, genauer: aus Berlin-Reinickendorf. Um 1918 muss er ihm dort zum erstenmal erschienen sein und hat ihn von da an nicht mehr losgelassen: der Geist der Revolution. Ihm folgte er in seiner Zeit als Linksheideggerianer, anschließend als Linkshegelianer im Institut für Sozialforschung und endlich als eine Art intellektueller Hobo, der auf jeden Zug aufsprang, sofern er nur nach links fuhr. Und die Vielheit der Masken? Sie ist vielleicht damit zu erklären, dass sich der Geist der Revolution vor sehr unterschiedliche Aufgaben gestellt sieht. Die Jefferson-Maske eignet sich gut zur Stimulierung des moralischen Fundamentalismus und anschließende Trennungsriten, die eine Herauslösung von Novizen aus der Alltagsordnung bewirken. Die Breton-Maske ist hilfreich bei Schwellen- und Umwandlungsriten. Die Platon-Maske bewährt sich bei Angliederungsriten, die die Initianden des revolutionären Geistes in die Gemeinschaft der "neuen Menschen" inkorporieren. Für jede Aufgabe eine spezielle Maske: Das erinnert nun doch wieder sehr an die False Faces. Die Kritische Theorie, hat kürzlich ein Philosoph behauptet, sei tot. Wenn er damit den Geist der Revolution gemeint haben sollte, so hat er sich geirrt. Geister sterben nie. Sie mögen zwar mit der Zeit ihre Kraft einbüßen und, wie in diesem Fall, zur political correctness abmagern, doch wirklich totzukriegen sind sie nicht. Und so werden wohl auch Marcuses nachgelassene Schriften, von denen noch fünf weitere Bände ins Haus stehen, ihre Leserinnen und Leser finden, auch wenn es immer die gleichen Rituale sind, die in ihnen zelebriert werden.
STEFAN BREUER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schafft ein, zwei, viele Vietnams, so lautet ein bekannter Slogan der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Daraus ist zum Glück nichts geworden. Einer ihrer Mentoren aber, Herbert Marcuse, scheint die Parole auf sich selbst bezogen und sich darangemacht zu haben, ein, zwei, viele Marcuses zu schaffen. Und dieses Unternehmen war erfolgreich. Der erste Band, seine nachgelassenen Schriften, der sechs Texte von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren vereint, zeigt eine solche Fülle von Marcuses, dass man Mühe hat, sie alle unter einen Hut zu bekommen (Herbert Marcuse: "Nachgelassene Schriften". Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Peter-Erwin Jansen. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999. 176 S., geb., 38,- DM). Da ist ein Jefferson-Marcuse, der mit beredten Worten beklagt, was aus life, liberty, and the pursuit of happiness in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft geworden ist. Ein William-Morris-Marcuse, der von einer Vervollkommnung der verschandelten Objektwelt nach den Maßgaben der Schönheit träumt. Ein André-Breton-Marcuse, der die kulturrevolutionäre Entsublimierung auf die Tagesordnung setzt. Und ein Malraux-Marcuse, der um die Bestände seines imaginären Museums fürchtet. Ferner treten auf: ein Erbe Husserls und Heideggers, der den wissenschaftlich-technischen "Entwurf" politisch zu deuten versucht. Ein Berater des State Department, der die Chancen für antidemokratische Volksbewegungen im Nachkriegsdeutschland auslotet. Ein erklärter Feind derselben Einrichtung, der die Vereinigten Staaten auf dem geraden Weg in den Faschismus sieht. Ein Prediger des erotischen und des moralischen Fundamentalismus. Ein Platon redivivus, der die Menschheit in die harte Zucht der Philosophen-Könige nehmen möchte. Ein Trittbrettfahrer der Roll-over-Beethoven-Bewegung. Ein idealistischer Ästhetiker Schillerscher Provenienz . . . Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen? Mit psychologischen Kategorien wird man dieser wundersamen Vervielfältigung nicht gerecht. Weiter kommt man, wenn man die genannten Figuren als Masken deutet, in die ein Ritualsubjekt schlüpft. Aus der Religionsethnologie kennt man vergleichbare Vorgänge: Bei den Irokesen beispielsweise gibt es den Bund der "False Faces", dessen Mitglieder in zahlreichen, nach Traum-Vorbildern und Modellen mythischer Geistwesen hergestellten Masken auftreten und allerlei Rituale durchführen. Sobald sie die Masken anziehen, gleichen sie sich dem von ihr dargestellten Geistwesen an, verkörpern es und gehen auf diese Weise eine temporäre Beziehung zu ihm ein, ohne dauerhaft mit ihm zu verschmelzen. Eine Verbindung zu den "False Faces" ist im Fall Marcuses nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen spricht die große Entfernung, die zwischen den Jagdgründen der Irokesen und der kalifornischen Küste liegt. Dagegen spricht auch, dass Marcuse seinen Geist schon aus der Alten Welt mitgebracht hat, genauer: aus Berlin-Reinickendorf. Um 1918 muss er ihm dort zum erstenmal erschienen sein und hat ihn von da an nicht mehr losgelassen: der Geist der Revolution. Ihm folgte er in seiner Zeit als Linksheideggerianer, anschließend als Linkshegelianer im Institut für Sozialforschung und endlich als eine Art intellektueller Hobo, der auf jeden Zug aufsprang, sofern er nur nach links fuhr. Und die Vielheit der Masken? Sie ist vielleicht damit zu erklären, dass sich der Geist der Revolution vor sehr unterschiedliche Aufgaben gestellt sieht. Die Jefferson-Maske eignet sich gut zur Stimulierung des moralischen Fundamentalismus und anschließende Trennungsriten, die eine Herauslösung von Novizen aus der Alltagsordnung bewirken. Die Breton-Maske ist hilfreich bei Schwellen- und Umwandlungsriten. Die Platon-Maske bewährt sich bei Angliederungsriten, die die Initianden des revolutionären Geistes in die Gemeinschaft der "neuen Menschen" inkorporieren. Für jede Aufgabe eine spezielle Maske: Das erinnert nun doch wieder sehr an die False Faces. Die Kritische Theorie, hat kürzlich ein Philosoph behauptet, sei tot. Wenn er damit den Geist der Revolution gemeint haben sollte, so hat er sich geirrt. Geister sterben nie. Sie mögen zwar mit der Zeit ihre Kraft einbüßen und, wie in diesem Fall, zur political correctness abmagern, doch wirklich totzukriegen sind sie nicht. Und so werden wohl auch Marcuses nachgelassene Schriften, von denen noch fünf weitere Bände ins Haus stehen, ihre Leserinnen und Leser finden, auch wenn es immer die gleichen Rituale sind, die in ihnen zelebriert werden.
STEFAN BREUER
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eine weitere Leiche im Keller des Hauses Suhrkamp: die volltönend begonnene Marcuse-Werkausgabe, die sich bald als nur zögerlich fortgesetzte, schlampig gemachte Neuveröffentlichung des Bekannten entpuppte, oder, in den scharfen Worten des Rezensenten Stefan Dornuf, als ein "spektakulärer Ausverkauf der einst vielgepriesenen `Suhrkamp Culture`". Umso verdienstvoller, so Dornuf, nun die im Verlag Dietrich zu Klampen erschienenen zwei Bände mit Schriften aus dem Nachlass (zu dem es, vielleicht eine kleine Marcuse-Renaissance anzeigend, eine amerikanische Parallelaktion mit der Veröffentlichung von "Collected Papers", Routledge, London/New York 2001 gibt). Vor allem aber zeigt sich Dornuf ganz begeistert von dem, was er da zu lesen bekommt, denn Marcuse erweise sich in den versammelten Aufsätzen als "ein großer Denker des 20. Jahrhunderts". Sehr interessant zu beobachten, so Dornuf, dass Marcuse zuletzt, ganz gegen die Tendenz der Neuen Linken zur Verschmelzung von Kunst und Alltag, im Rückgriff auf eine Werk-Ästhetik auf der Irreduzibilität des Kunstwerks bestand (und damit, wäre hinzuzufügen, Adorno näher war, als der wohl glauben wollte). Als vielleicht schönsten Fund der in diesen Bänden veröffentlichten Texte preist Dornuf am Ende "ein paar atemberaubend dichte Blätter zu Proust". Er empfiehlt im übrigen die parallele Lektüre des amerikanischen Bandes, da so Marcuses - in der Enttäuschung über seinen Lehrer Heidegger mitbegründete - entschiedene Abkehr von der deutschen Sprache, seine verblüffende Aneignung des Englischen und die mühsame Rückkehr zum Deutschen nachzuverfolgen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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