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Die erfolgreiche englische Autorin Jeanette Winterson legt einen Roman vor, in dem es um Kunst, Liebe und Lüge geht. Drei ungewöhnliche Protagonisten treten auf: Händel, Picasso und Sappho. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, die der Wissenschaft, der Musik, der Malerei. Von ganz anderem Kaliber ist dagegen Doll Sneerpiece, eine resolute Bordellmutter mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Sie liebt den Edelmann Ruggiero, der seinerseits, so scheint es, dem eigenen Geschlecht zugetan ist.

Produktbeschreibung
Die erfolgreiche englische Autorin Jeanette Winterson legt einen Roman vor, in dem es um Kunst, Liebe und Lüge geht. Drei ungewöhnliche Protagonisten treten auf: Händel, Picasso und Sappho. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, die der Wissenschaft, der Musik, der Malerei. Von ganz anderem Kaliber ist dagegen Doll Sneerpiece, eine resolute Bordellmutter mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Sie liebt den Edelmann Ruggiero, der seinerseits, so scheint es, dem eigenen Geschlecht zugetan ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.1995

Die Barbarei des eigentlichen Lebens
Wie man Kater zu Katzen machen kann: Jeanette Winterson ist phantastisch wütend · Von Katharina Rutschky

Im nachhinein ist man ja immer klüger. Die erste Veröffentlichung von Jeanette Winterson war ein großer Erfolg. "Orangen sind nicht die einzige Frucht", der deutlich autobiographische Bericht über eine exzentrische Kindheit und Jugend im Sektenmilieu der englischen Provinz, wurde mit einem angesehenen Literaturpreis bedacht und, was heute fast noch mehr zählt, vom Fernsehen aufgegriffen und verfilmt. Es folgten seit 1985 im Abstand von zwei Jahren - angelsächsische Autoren sind fleißig und diszipliniert - drei weitere Romane. Nummer zwei und drei wurden ebenfalls preisgekrönt, der letzte immerhin in sechzehn Sprachen übersetzt, selbstverständlich auch wiederum in die deutsche.

Der Erfolg von Nummer eins stellte sich zunehmend weniger ein. Ebensowenig wie Orangen heutzutage die einzige Frucht sind, auf die vitaminbedürftige Kinder winters hierzulande angewiesen sind, können Umsatz und Massenmedienecho der Maßstab sein, nach dem literarische Beiträge zum Geistesleben der Gegenwart gemessen werden. Sonst würde ich in dieser Spalte ja die Nachfolger von Courths-Mahler und eben nicht Jeanette Winterson besprechen, die der frische Berlin Verlag in seinem ersten Programm präsentiert.

Wozu der verständnisheischende Vorlauf bei der Besprechung einer der vielen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs? Nach bestem Wissen und Gewissen kann ich nicht umhin, einen Verriß zu liefern. Nicht daß es mein erster wäre, aber diesmal trifft es eine lesbische Frau und Feministin dazu. Nach amerikanischem Vorbild hat in Berlin vor kurzem eine Rächerinnentruppe ihre Arbeit aufgenommen, die mit harter "Action" die Diskriminierung von Frauen und Lesben ins massenmediale Licht der Öffentlichkeit rücken will. Ein Kritiker des vorliegenden Buches von Winterson hat in England schon zu spüren bekommen, wie ernst er sein Gewerbe zu nehmen hat. Wenn es an der Tür klingelt, muß es nicht der Nachbar oder der Postbote sein, sondern die Autorin, von der Freundin begleitet, steht vor ihm und verlangt Rechenschaft.

Wenn es mit einer Diskussion getan werden kann, mag es noch angehen. Was aber, wenn man beim arglosen Öffnen der Tür, beim Abnehmen des Telefonhörers oder beim Spaziergang mit dem Hund im Kiez erwischt und ohne Gesprächsangebot nur angegriffen wird? Natürlich kann man aus solchen Vorkommnissen schließen, daß Literatur und Kunst sowie ihre kritische Rezeption dabei sind, in vitalen Bereichen die Zivilisiertheit des bloßen Gewerbes mit der Barbarei des eigentlichen Lebens zu vertauschen. Für Winterson als peu à peu scheiternde Schriftstellerin spricht nur eins, daß sie nämlich angeschlossen ist, als Person, an unübersehbare Quellen von Energie, von Haß, Wut und Ressentiment, die überall sprudeln, auch wenn sie bislang literarisch oder filmisch und musikalisch nirgends zu einer plausiblen, nicht geradewegs peinlichen Ausdrucksform gefunden haben. Das ideelle Substrat ihrer letzten Publikation - eine unbekömmliche Mischung aus feministischen Gemeinplätzen, konservativer Kulturkritik an der Konsumgesellschaft und arglos wiederaufbereiteter Kunstreligion aus der Lebensreform der (letzten) Jahrhundertwende - vermag dem Leser die Strapaze der länglichen Lektüre auch nicht zu versüßen.

Die Autorin hat diesmal versucht, ihren Text ganz außerhalb der Genres zu plazieren, deren Erfüllung man ihr im einzelnen vielleicht zutrauen möchte. Der Untertitel kündigt ein "Stück für drei Stimmen und eine Bordellwirtin" an. Die eine gehört Händel, einem Expriester und Arzt, von dem wir am Schluß erfahren, daß seine Weltweisheit und Güte wohl darauf zurückzuführen sind, daß er sich als Zwölfjähriger aus Liebe zu einem kunstenthusiastischen Kardinal hat kastrieren lassen. Ist das ein ernst gemeinter Vorschlag zur sittlichen Verbesserung des männlichen Humankapitals? Auch Frauen dürften wohl Probleme damit haben, im zeugungsunfähigen Mann den sexuellen Dimorphismus und seine soziale Ausgestaltung in Männer und Frauen transzendiert zu sehen. Aus Katern kann man keine Katzen machen, und Katzen sind, so wenig wie übrigens Frauen, Wesen, denen etwas fehlt, das Winterson für überflüssig erklärt.

Mit dieser Phantasie - auch in der abgemilderten Form der Androgynität jedes Individuums, der Winterson in einem früheren Roman den Vorzug gab - würde denn doch Freuds skandalöser Penisneid wieder zur Geltung gebracht, obgleich mit umgekehrtem Vorzeichen. Vielleicht habe ich die Autorin buchstäblich interpretiert, wo es einen tieferen Sinn zu entdecken gälte, der sich berufeneren Lesern ohne weiteres enthüllt. Wintersons Textsorte, die Mixtur von erzählerischer Fiktion, dogmatischer Rede und drastischer Phantastik (die Bordellwirtin), der Wechsel von Traktat, Rollenprosa, lesbischer Liebeslyrik und sozialer Anklage, läßt einem Leser eben nur die unbefriedigende Wahl zwischen vollständiger Unterwerfung und der Angst, aus Dummheit vom Verständnis ausgeschlossen zu sein.

In diese wenig schmeichelhafte Position begibt sich niemand gern, und so kommt es wohl, daß sinnlose Texte, die den Komplexitätsverdacht durch ihr Bildungsniveau und eine gewisse sprachliche Energie nicht von vornherein ausschließen, das Licht der literarischen Öffentlichkeit überhaupt erblicken.

Die zweite Stimme gehört Picasso, einer jungen Malerin mit bösem Familienhintergrund, sexuellen Mißbrauch durch den Bruder, zwangsläufige Psychiatrisierung und einen Selbstmord eingeschlossen, der nicht in den Tod, sondern in die Freiheit führt - mag man das nun glauben oder für eine symbolische Veranstaltung halten. Nummer drei ist Sappho, auch sie keine Stimme, sondern das Gefäß, in das sich die Autorin mit ihren vielen Meinungen, Empörungen und Tagträumen ergießt. Wo schiere Phantastik und nackte Wut nur im literarischen Amok enden könnten, rettet sich Winterson für diesmal noch in die Beschwörung von wahrer Schönheit und echter Kunst, wie sie die Griechen hatten.

Jeanette Winterson: "Kunst und Lügen". Berlin Verlag, Berlin 1995. 277 S., geb., 39,80 DM.

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