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Produktdetails
  • Hannoversche Studien Bd.5
  • Verlag: Hahnsche Buchhandlung
  • 1998.
  • Seitenzahl: 782
  • Deutsch
  • Abmessung: 248mm x 239mm
  • Gewicht: 2376g
  • ISBN-13: 9783775249553
  • ISBN-10: 3775249559
  • Artikelnr.: 07397882
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.1999

Hannover nahm schon in den zwanziger Jahren die Pille
Erschöpfende Neulandvermessung: Ines Katenhusen kartographiert einen Nebenwirkungsschauplatz der Moderne

Obwohl es keine Universalgeschichte zum Thema Kunst und Politik bietet, sondern nur eine Stadt und einen begrenzten Zeitraum ins Blickfeld rückt: Ines Katenhusen ist es gelungen, zunächst die Auseinandersetzungen mit der Moderne, die im Hannover der Weimarer Republik schwere Kämpfe mit sich brachten, nahezu erschöpfend darzustellen und dann - einen Verleger für ihr Buch zu finden, das 782 großformatige und eng bedruckte Seiten umfasst. Wer bislang mit der Stadt an der Leine eine Keksfabrik und allenfalls Schwitters oder "die abstrakten Hannover" verband, kann sich nun bis ins Letzte darüber informieren, welche Funktion und welchen Stellenwert hier zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus Kultur hatte - Theater, Bildende Kunst, Literatur - und was man darunter verstand.

Obwohl Hannover bekanntlich jenseits selbst sanfter Hügel gelegen ist, tun sich tiefe Abgründe auf und Berge - von dreckiger Wäsche. Im Spannungsfeld zwischen "Unsittlicher Literatur und Deutscher Republik", so eine in Hannover verlegte Schrift zum Pornographie-Paragraphen 184, zwischen Heimatbund und modernem Ausdruckstanz, Volksbühne und Merz-Kunst spricht Katenhusen zu Recht Animositäten, Intrigen, Amouren und anderen Klüngel an. Sie sind Motive für Entscheidungen, die bisweilen das Klima einer Gesellschaft vergiften oder verbessern, oft über Jahre hinweg. Die Autorin macht zwar deutlich, dass diese 1920 neuntgrößte deutsche Stadt, die sich auf vielen Feldern am Vorbild der Reichshauptstadt orientierte, teils durch lokale Traditionen oder Besonderheiten der Kommunalpolitik geprägt waren. Debatten, die etwa in München, Berlin oder Köln bereits geführt waren, wurden hier mit Verzögerung ausgetragen, so gut hatten Abwehrmechanismen lange wirken können. Sie hätte jedoch auch Frankfurt oder Dresden untersuchen können. Denn trotz der zahlreichen und nicht zu unterschätzenden Spezifika würde man nicht zu absolut, so aber doch zu annähernd ähnlichen Ergebnissen kommen: Hannover liegt mitten in Deutschland.

Im Mittelpunkt stehen die städtische Kunst- und Kulturpolitik, einerseits den Umgang mit dem Theater, andererseits Erwerbungen bildender Kunst, und Künstlerförderung, schließlich die Kunst- und Kulturpublizistik. Jeweils relativiert wird die Beschränkung obrigkeitlicher Aktionen durch den Blick auf Initiativen Einzelner, durch die Berücksichtigung sowohl privater Theater als auch des Mäzenatentums und bürgerlicher Anstrengungen zur Förderung der bildenden Kunst.

Der Stadtdirektor und Kunstsammler Heinrich Tramm gibt ein Beispiel dafür, wie die öffentliche Förderung bestimmter Künstler wie Ferdinand Hodler auf Entscheidungen einer einzigen Person zurückgehen kann. Gemäßigt modern sollte Kunst in Hannover sein, was den Einzug von Expressionismus und Dadaismus in die Gefilde kommunaler Förderung ausschloss. Als Stadtdirektor amtierte Tramm von 1891 bis 1918, doch die Hannoveraner Weichen waren damit gestellt, zumal er auch noch in den zwanziger Jahren in entscheidenden Positionen kommunalpolitisch aktiv blieb. Gleichfalls machen die Kämpfe um die Übernahme des preußischen Hoftheaters und um die Spielpläne nach 1918 deutlich, dass den Stadtoberen in Hannover an einer "gediegenen Mittellinie" gelegen war. Die Bürgerlichen konnten dabei auf die ihnen grundsätzlich im Vorigen suspekte Sozialdemokratie zählen, deren Verständnis für extreme Äußerungen nicht unbegrenzt war. Zur Sprache kommt dabei auch, inwiefern es Rückhalt in der Bevölkerung bei der Eindämmung des Progressiven gab, etwa bei den Theaterzuschauern.

Katenhusen fand Belege für diskret und subtil funktionierende Mechanismen, Förderung zu lenken, ohne dass sich die Verantwortlichen öffentlich äußern und also festlegen mussten: durch magere, moderate oder großzügige Schecks. Zwischen den mitunter gegeneinander agierenden Repräsentanten der Stadt und den zumeist privat sich organisierenden Anhängern progressiven Kulturschaffens einerseits und Bürgerschaft und Publikum andererseits standen die Feuilletons, die vermittelten oder Partei ergriffen. Den Redaktionen und ihren Berichterstattern schenkt Katenhusen deshalb große Aufmerksamkeit. Die Biographien einzelner Kritiker weisen recht wenig Gemeinsamkeiten auf. Zwischen 1866 und 1905 geboren, zogen sie unterschiedliche Schlüsse aus den gemeinsamen Erfahrungen Krieg und Revolution. Sie reichen von der radikalen Ablehnung jedweder Bevormundung und dem Eintreten für Libertinage und Boheme, für absolute Freiheit und Individualismus, bis zu völkischen oder (proto-)nationalsozialistischen Idealen von Deutschtum, Führerschaft und Xenophobie. So war "Entartung" manchem lange vor 1933 eine wichtige Vokabel, wobei die Autorin äußerste Vorsicht walten lässt, wenn es gilt, konkrete parteipolitische Richtungen damit zu verbinden, weil die Äußerungen nicht selten von Opportunismus, bizarrem, eigenbrötlerischem Fanatismus oder schlichtweg von Chaos im Kopf zeugten. Jüdische Persönlichkeiten waren lange vor 1933 Ressentiments ausgesetzt; manche wurden aus Ämtern verdrängt. Der Oberbürgermeister und Theaterdezernent Arthur Menge versicherte 1927, eine "Verjudung" des Theaters werde nicht stattfinden; freilich stand er loyal zu Theaterleiter Georg Altmann und verteidigte ihn noch im April 1933.

Diese Studie berücksichtigt die lange Entwicklung seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ihre Schübe, Brüche und Stillstände. Ähnlich reicht der Blick über das Jahr 1933 hinaus. Die zwanziger Jahre dürfen als Blütezeit der Hannoveraner Kulturdiskussion gelten, irritiert zwar, aber nicht dominiert von bisweilen elitären, extreme Standpunkte propagierenden Periodika in kleiner Auflage. Ob man allerdings, etwa um den Kunstverein zu würdigen, bis in das Jahr 1819 zurückgehen muss, mag dahinstehen. Zugute halten kann man Katenhusen allerdings, dass ihr außerordentlich differenzierender Blick auf die Stimmen der Intellektuellen, Reaktionäre und Progressiven Exkurse erfordert. Älteren Erkenntnissen gemäß, denen zufolge von Republikverdrossenheit keinesfalls nur Heimatkünstler oder ihre Befürworter heimgesucht waren, erinnert sie, mit Grosz und Herzfelde gesprochen, daran, dass, wenn einer Kreise male, Kuben oder tiefseelisches Verwirre, dieser noch lange kein Revolutionär sei. Analog ist am Beispiel der sich frech, ja respektlos gebärdenden Zeitschrift "Die Pille" festzustellen, dass mit der Gießkanne geschüttete oder codierte Provokation letztlich ohne anhaltende Wirkung bleibt. Wie überhaupt und bei näherer Betrachtung vieles vage, ambivalent, nur Kontur blieb, was von welcher Seite auch immer geäußert wurde. Dies macht die Lektüre mühsam und gewinnbringend zugleich.

In Details nur scheinbar sich verlierend, wird Katenhusen ihrem Ansinnen, eine Synthese zu liefern, obwohl sie vieles bewusst ausklammert, gerecht. Gleichwohl hätte sie als Pilzesammlerin, wie sie sich deklariert, noch lange nicht jeden Stein umdrehen müssen, jedenfalls manchen still und getrost wieder hinlegen können. So ist sicherlich nicht uninteressant, dass der Serienmörder Fritz Haarmann eine gewisse schmutzige Nebenrolle in der Geschichte der Kestner-Gesellschaft spielte, doch nicht minder nützlich, wenn nicht wichtiger wäre eine revidierte Liste ihrer Ausstellungen, ihrer Exponate und ihrer Publikationen gewesen. Ähnlich unterblieb etwa die Auswertung der für die Rezeption moderner Malerei aufschlussreichen Folkwang-Archivalien, in denen es um Leihgaben geht. Die Autorin hat allerdings zahlreiche andere Archive gründlich ausgewertet und Nachfahren ihrer Protagonisten und weitere Kenner befragt. Register erleichtern gezieltes Nachschlagen, beziehen sich aber leider nicht systematisch auch auf die Anmerkungen, sodass Verdruss programmiert ist. Desgleichen fehlen Verweise von Kapitel zu Kapitel.

Katenhusen hat dennoch ein als Nachschlagewerk äußerst nützliches Buch geliefert. Das Verdienst ihrer interdisziplinär angelegten Studie ist es, durch oftmals einseitig modernistische Perspektiven verdrängte Kulturleistungen zu berücksichtigen und so alle Schwarzweißmalerei zu vermeiden. Die Welt von gestern war komplexer, nuancierter und widersprüchlicher, als vielen anderen Autoren lieb war. Daher kann es geradezu selbstverständlich erscheinen, die Argumentation mit nicht weniger als 5491 Anmerkungen belegt zu sehen.

PETER KROPMANNS

Ines Katenhusen: "Kunst und Politik". Hannovers Auseinandersetzungen mit der Moderne in der Weimarer Republik. Hannoversche Studien. Schriftenreihe des Stadtarchivs Hannover, Band 5. Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1998. 782 S., zahlr. Abb., geb., 48,- DM.

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