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"Die Natur erzeugt im ihrem Schoße eine unerschöpfliche Fülle von wunderbaren Gestalten, durch deren Schönheit und Mannigfaltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus übertroffen werden." Der Naturwissenschaftler Ernst Haeckel stellt in seinem Werk ästhetische Formen aus Bereichen der Botanik und der Zoologie zusammen. Zahlreiche Schwarzweiß- und Farbabbildungen. Der Verlag der Wissenschaften verlegt historische Literatur bekannter und unbekannter wissenschaftlicher Autoren. Dem interessierten Leser werden so teilweise längst nicht mehr verlegte Werke wieder zugängig gemacht.…mehr

Produktbeschreibung
"Die Natur erzeugt im ihrem Schoße eine unerschöpfliche Fülle von wunderbaren Gestalten, durch deren Schönheit und Mannigfaltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus übertroffen werden." Der Naturwissenschaftler Ernst Haeckel stellt in seinem Werk ästhetische Formen aus Bereichen der Botanik und der Zoologie zusammen. Zahlreiche Schwarzweiß- und Farbabbildungen.
Der Verlag der Wissenschaften verlegt historische Literatur bekannter und unbekannter wissenschaftlicher Autoren. Dem interessierten Leser werden so teilweise längst nicht mehr verlegte Werke wieder zugängig gemacht.
Das vorliegende Buch ist ein qualitativ hochwertiger Nachdruck der Komplettausgabe von 1904 mit 100 Tafeln und dem "Supplement-Heft" .
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.1998

Kirchenfenster im Theoriegrau
Ernst Haeckels "Kunstformen der Natur" als grandioses Bilderbuch · Von Durs Grünbein

Für Adolf Loos, dem das Ornament als Verbrechen galt, muß dieses Buch ein Verbrecheralbum gewesen sein. Um die Jahrhundertwende war es der Prachtband, dem im deutschen Haushalt der Platz neben der Bibel gebührte, des Bürgers Wunderborn, ein Katalog der schönsten Webmuster von Mutter Natur.

Ernst Haeckels "Kunstformen der Natur" haben Stilgeschichte gemacht. Zuerst in einer Folge von Heften publiziert, brachten sie in einhundert Farbtafeln im Kunstdruck, lange vor Computeranimation und 3-D-Brille, das Naturschöne in kristallinisch reiner Form vor jedermanns Auge. All diese Urnensterne und Stachelstrahlinge, die Knochenpolypen und Faltenquallen bis hinauf zu den Kolibris und Antilopen erfüllten den einen psychedelischen Zweck: Anschauung durch Hypnose zu ersetzen.

Zwei Zeitalter wurden hier überblendet. Goethes denkendes Anschauen, das so lange romantischer Spekulation standgehalten hatte, schien sich endlich in interesseloses Wohlgefallen aufzulösen, in eine Preziosenschau, der man am reinsten im Lotossitz huldigte. Pünktlich mit ihrer industriellen Bändigung erscheint als Wunschbild die dekorative Natur auf der Bildfläche. Die Zauberformel, mit der sie gebannt werden soll, heißt Kristallisation, ihr verblüffender Spiegeleffekt Symmetrie. Die unendliche Reihe der Merkwürdigkeiten in Fauna und Flora zieht sich zusammen zur Arabeske. Das Naturgetreue der Abbildung, das den privaten Naturforscher Goethe noch zu Lobreden auf einen Tierzeichner und Lithographen wie D'Alton hinriß, ist der visuellen Sensation gewichen, mit der die beginnenden Weltausstellungen ihr Publikum einfangen werden.

Dabei stand Haeckel, der lange zwischen einer Laufbahn als Landschaftsmaler oder als Wissenschaftler geschwankt hatte, selbst noch im Bann Goethescher Naturbetrachtung mit ihrer Passion für organische Einheit und Morphologie. Wie der Erfinder der Urpflanze war er früh einer einzigen Vision gefolgt. Seine Habilitationsschrift über das Leben der Radiolarien, eine Monographie vom selben erschöpfenden Umfang wie Darwins Studien über die Regenwürmer und die Korallenriffe, hatte ihn auf den Einfall gebracht. An einzelligen Meeresbewohnern hatte er entdeckt, woran er sein ganzes Leben lang festhielt, das Molekül einer jeden morphologischen Stammreihe, das zum Entwicklungsgedanken führte, diesem letzten großen Spuk im zoologischen Geisterhaus.

Haeckel war selbst so überwältigt von den Formähnlichkeiten auf allen Bildungsstufen der Natur, daß er daraus sein "biogenetisches Grundgesetz" ableitete. Es besagte, daß jedes Individuum einer Gattung wieder das volle Formrepertoire durchgeht, jedes ein Souvenir der Entwicklungsreihe, an deren Ende es selber steht. Die Theorie hatte nur einen Haken: Sie ließ sich zwar illustrieren, aber niemals beweisen. Von Anfang an war hier vergleichende Betrachtung an die Stelle von Erklärung getreten, ästhetische Gesamtschau anstatt stammesgeschichtlicher Kohärenz. Die Evidenz ergab sich aus dem zeichnerischen Geschick des Biologen, der seine Blätter so lange veredelte, bis sich dem Kind im Erwachsenen spontan die Einsicht vermittelte. Evolution zeigt sich, sie rekapituliert ihre Schritte in einer Sprache der Formen. Damit war das Dilemma verdrängt, das Vorzeigen ersetzte jede Begründung.

Der Bilderatlas wurde, ganz im lateinischen Doppelsinn des Wortes, zur Demonstration. Bis heute spricht die Brillanz dieser Graphiken für sich. Aber man lernt den Coup erst richtig schätzen, wenn man die Abbildungen genauso akribisch betrachtet wie ihr Autor die Originale. Die Kunstformen der Natur sind ein Meisterwerk visueller Täuschung. Abgesehen davon, daß überhaupt nur Lebewesen einer bestimmten plastischen Güteklasse Aufnahme fanden, ist jedes Exemplar noch einmal aufs Archetypische und stiltechnisch Allgemeine reduziert. Herausgehoben aus ihrer natürlichen Umwelt, sind aus den Organismen Kronjuwelen geworden, der Bildrahmen ist ihre Fassung. Raffiniert wird das Schema der Höherentwicklung in der Abfolge der Tafeln vermieden. Das Buch ist, ganz im Dienste des Augenscheins, kaleidoskopisch arrangiert. Beim Umblättern sortiert der Blick des Betrachters die Elemente jedesmal neu, wobei Verdoppelung und serielle Anordnung ihm auf vielerlei Sprünge helfen. Das Verfahren verführt zu einer Art alliterierendem Sehen. Dem Laien soll über den wunderbar kristallinen Formen ein Licht aufgehen: die Meditation führt vom Regulären zum Absoluten. Was als Vexierbild hinter allen Verwandlungen aufscheint, sind ein paar biogeometrische Grundformen, die sich unmerklich zu einem System fügen, das Haeckel selbst organische Stereometrie nannte. Dabei kam ihm das Zweideutige mancher Tier- und Pflanzenformen sehr weit entgegen. Je nachdem, von welcher Seite man blickt, erscheint ein Stück unbelebter oder belebter Materie. Doch was, fragt man sich, haben die Gesichter von Fledermäusen mit den Gehäusen der Spiralkiemer wirklich gemein? Offenbar ebensoviel oder sowenig wie ein Säuglingsrachen mit dem Blütenkelch eines Löwenmäulchens. Was haben die Schuppen der Kofferfische mit den sogenannten Schachtellingen zu schaffen? Vielleicht kaum mehr als mit der Pracht byzantinischer Mosaike. Und die Schaumstrahlinge, was haben sie mit den Igelsternen zu tun? Sind die Schneekristalle am Ende nicht die entfernten Verwandten beider?

Was sie alle verbindet, ist die Fiktion eines Gestaltensehers. Sie alle sind Bruchstücke desselben euklidischen Traums, der die Gestalten entlang gedachter Achsen spiegelt, sie radiär entfächert, rotieren läßt, zu Spiralen verschraubt, parallel verschiebt, von einer Gattung zur nächsten, kreuz und quer durch das gesamte Tier- und Pflanzenreich. Das Phantastische entspringt unmittelbar der zum Ornament stilisierten Form.

Zum letzten Mal zeigt naturphilosophischer Idealismus hier mit der Macht der Bilder seinen Gesamtentwurf. Unter dem Namen Monismus setzt er mit imperialer Geste seinen Stempel auf jede Naturerscheinung, allgegenwärtig wie die gußeisernen Rückgratknochen in den Konstruktionen der Gründerzeit. Haeckel springt mit der Natur um wie der Künstler des Jugenstils mit seinen Stoffen, im Dekor sind beide sich einig. Der Einfluß, das ließ sich kunstgeschichtlich belegen, war durchaus gegenseitig, eine zeitgenössische Inspiration, die viele Bereiche erfaßte, Architektur, Malerei, Mobiliar, Haute Couture, Literatur. Man ermißt den Gestaltungswillen aber erst ganz, wenn man bedenkt, daß all die verführerischen Naturdarstellungen der Haeckel und Brehm letzte Versuche waren, bevor die Fotografie endgültig das Feld mit ihren Techniken besetzte. Es sind strahlende Kirchenfenster im Theoriegrau, das nach ihnen zu dämmern begann. Noch einmal geht es um Anschauung, doch wie zum Abschied ist sie sich selbst nun genug, scheint sie, in einem großartigen Finale, im Gesamtkunstwerk stillgestellt.

Es vergißt sich leicht, wenn man von Haeckels bildnerischem Geschick spricht, daß die meisten der in den Kunstformen abgebildeten niederen Lebewesen von ihm selbst erstmals beschrieben wurden. Klassifizierung und Kurzcharakteristik sind wirklich sein Werk. Was ihn zu einer Zeitfigur machte, infektiös wie Karl Marx oder Theodor Herzl, weit herausragend über die Termitenbauer in seinem Fach, war der Entschluß, das Gefundene dem ganz großen Leserkreis zugänglich zu machen. Die auflagenstarke Naturpropaganda korrespondierte dabei seltsam mit der massenhaften Verbreitung seiner mikroskopischen Exzellenzen.

Überhaupt konnte erst das neunzehnte Jahrhundert, dank verbesserter optischer Geräte, sich so detailverliebt mit dem unendlich Kleinen befassen. Erst dem bewaffneten Auge erschien, was die Niederungen bevölkerte, die Masse der Einzeller, in regelmäßig gebildeten Individuen. Derselbe Drang zur Monumentalisierung und Illumination machte aus den einzelligen Protisten, wie Haeckel sie nannte, die Protagonisten eines neuen Weltanschauungskults. Es war, als wollte der zoologische Reichsgründer seinem Staunen die maximale Aufmerksamkeit sichern. So esoterikverdächtig wie die Titel seiner publikumswirksamsten Werke, "Die Welträtsel" und "Die Lebenswunder", so populär war dank Volksausgabe und Fortsetzungsdruck bald sein biologisches Weltbild. Kein Zufall, daß man in typischen haeckelschen Namensgebungen wie Vereins-Strahlinge oder Soziale Radiolarien eine Zeit heraushört, als in Deutschland Vereine aller Art aus dem Boden schossen und die Arbeiterbewegung in Parteien ihr Organisationsmonopol fand. Keine Frage wohl auch, wem die neuen Ehren gebühren. Fürst Bismarck, jenem anderen Reichsgründer, ist bezeichnenderweise ein Urtierchen zugeeignet, das den Namen Festgefügtes Radiolarium trägt.

Es war Haeckel Ernst damit, als er den Kanzler einst, bei einem Empfang auf dem Marktplatz von Jena, scherzhaft begrüßte als den "ersten und größten Doktor der Stammesgeschichte". Die Stammesgeschichte hatte, wiederum ganz entwicklungslogisch, einen ihrer höchsten, wenn nicht den Gipfel in den Deutschen erreicht. Leider war Haeckel, wie mancher politisierende Darwin-Leser, keineswegs gefeit gegen den Hokuspokus von auserlesenen Rassen und minderem Lebenswert der Naturvölker. Spätestens mit der Patentformel von der spartanischen Selektion, einer Art kulturhistorischer Auslese, zeigt sich, wie eng verwandt ein vulgärmorphologisches Denken dem phobischen ist. Für ihn standen die Australneger (die heutigen Aborigines) psychologisch den Hunden näher als jedem hochzivilisierten Europäer.

Jetzt sind die "Kunstformen der Natur" in einer Neuedition erschienen. Der Münchner Verhaltensbiologe Eibl-Eibesfeldt macht in einem Begleitaufsatz die angeborene Phytophilie des Menschen, unsere natürliche Pflanzenliebe, verantwortlich für den Zuspruch, den sie beim Publikum fanden. Daß wir nicht erst überredet werden müssen, das Glasbläserkunststück einer Meduse, das Filigranwerk der Kieselalgen schön zu finden, macht ihren Erfolg aus. Pflanzliche Formen bergen die Aussicht aufs Überleben, und daran schließt das Gespinst unserer gängigsten Schönheitsvorstellungen an.

Kein Wunder, daß sich zu den Balkonpflanzen bald die beliebten Haeckelschen Quallenmuster auf Tapeten und Sofakissen gesellten. Der Meister versäumte nicht, seinen Tafeln Empfehlungen zur Verschönerung von Heim und Grabschmuck mitzugeben. Im bürgerlichen Salon der Jahrhundertwende, holzgetäfelt und übermöbliert, kehrte die Höhle des Steinzeitjägers mit ihren Gras- und Kräuternischen wieder. Haeckels Wohnhaus in Jena, die Villa Medusa, war selbst das beste Beispiel dafür: Phylogenese-Ikonen, wohin man sah, als Wandbild und Bucheinband, von der Decke des Speisezimmers bis zur Verzierung der Lampen. Eine Truhe erinnerte mit ihren Perlmuttintarsien an die verstorbene erste Frau. Ihr, der über alles Geliebten, hatte er einst die Qualle Desmonema Annasethe gewidmet.

Heute, im Abstand eines Jahrhunderts, läßt sich nun prüfen, ob das alte Naturkaleidoskop immer noch funktioniert. Es ist keine Frage, einem Publikum, das sich an neuen Mustern ebenso fröhlich ergötzt, können Haeckels Kunstformen nicht völlig fremd sein. Wer an Apfelmännchen und anderen Mandalas der Chaosanbetung seine Freude findet, wird auch diese Darstellungen genießen können. Einem Auge, das von Computeranimationen verwöhnt ist, taugen sie allemal noch als Bildschirmschoner. Wie aber steht es mit Goethes Diktum "Die Natur hat kein System"? Wird man sich seiner vor dem grandiosen Bilderbuch noch erinnern? Sind wir der großen Bescheidenheit ein Stück näher?

Ernst Haeckel: "Kunstformen der Natur". Vollständiger Nachdruck. Prestel Verlag, München 1998. 280 S., 144 Abb., 198,- DM. Die im Textteil gekürzte, broschierte Sonderausgabe kostet 39,80 DM.

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