2013 wurde infolge einer Beschlagnahme der "Schwabinger Kunstfund" in den Blick der Weltöffentlichkeit katapultiert und damit der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (1895-1956), bei dessen Sohn Cornelius (1935-2014) sich die Werke befunden hatten. Eine Taskforce wurde gegründet, um die Herkunft der Werke aufzuklären, welche man wegen Gurlitts Tätigkeit während des Nationalsozialismus als "Raubkunst" verdächtigte. 2014 tauchten weitere Werke aus dem Besitz Gurlitts auf. Im Fokus der Provenienzrecherche zum Kunstfund stand stets die zügige Aufklärung der Herkunft einzelner Werke, nicht jedoch die Grundlagenforschung. Im Zuge der komplexen Recherchen und des Umgangs mit dem heterogenen schriftlichen Nachlass ergaben sich jedoch zahlreiche weiterführende und für die Provenienzforschung wichtige Erkenntnisse, die hier in einer Auswahl vorgestellt werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Patrick Bahners ärgert sich über diesen vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste herausgegebenen Band mit Zwischenergebnissen zu Forschungen im Fall Gurlitt. Überhaupt kocht bei dem Kritiker nochmal einiges an Wut hoch, wenn er den Fall Gurlitt im Besonderen und die deutsche Restitutionspolitik im Allgemeinen Revue passieren lässt. Schon seit 1945 wurde restituiert, das meiste sei getan und nicht immer wurden private Eigentümer beraubt, schreibt er. Dass in dem Band kein Aufsatz zur Affäre selbst, also dem Umgang mit Cornelius Gurlitt und dem finanziellen Aufwand für die Taskforce, zu finden ist, empört Bahners ebenso wie die Tatsache, dass sich die Herausgeber stattdessen für "Transparenz und Selbstkritik" loben. Die vielen Einzelstudien im Band, etwa zum ehemaligen Wallraff-Richartz-Museumsdirektor Otto Förster oder zu Hildebrand Gurlitts Wirken auf dem niederländischen Kunstmarkt lassen eine Bündelung des Wissens zu Hildebrand Gurlitt vermissen, fährt der Rezensent fort. Viele Spekulationen und zu "kleine" Bilder geben ihm schließlich den Rest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2020Ausmalen nach Zahlen
Spekulative Blase: Im Ergebnisband zum Fall Gurlitt tritt das Problem der Provenienzforschung ans Licht.
Kürzlich bewilligte der Rat der Stadt Köln einen Erweiterungsbau für das Wallraf-Richartz-Museum. Er soll hauptsächlich französische Bilder aufnehmen, die Stiftung des 2017 verstorbenen Sammlers Gérard Corboud. Vor achtzig Jahren, unter dem Direktor Otto Förster, versuchte das Wallraf-Richartz-Museum schon einmal, eine vorherrschende Stellung unter den deutschen Häusern für neuere französische Malerei zu erringen. Am 20. April 1942 legte Förster in einem Brief an den Kölner Stadtdirektor dar, dass die Chance bestehe, Essen zu übertrumpfen.
Das seit 1921 in Essen ansässige Folkwang-Museum war das erste auf die von Frankreich geprägte moderne Malerei spezialisierte Museum in Deutschland. Nach dem Krieg rechtfertigte Förster die Ankaufskampagne der Kriegszeit als Kompensation für die Beschlagnahmen der "Aktion Entartete Kunst". Die alte "bruchstückhafte Sammlung französischer Bilder" sei "1937 durch eine von Hitler autorisierte Kunsthändler-Clique geraubt und in das Ausland verkauft worden", schrieb Förster 1946 an Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der ihn 1945 entlassen hatte.
Ein Museum kann seine Arrondierungsinteressen unabhängig von den Zäsuren des politischen Geschmacks verfolgen. Der 1933 zum Direktor beförderte Förster hatte 1935 die Ausstellung "Deutsch heißt volkstümlich" gezeigt, aber just an Hitlers Geburtstag präsentierte er 1942 der Stadtverwaltung sein Projekt eines kölnischen Folkwang. Allerdings hob er nicht die Modernität der französischen neuen Meister hervor; Courbet und Renoir rühmte er vielmehr als kongeniale Zeitgenossen des aus Köln gebürtigen Wilhelm Leibl. Als Ankäufer in Paris agierte für ihn ausgerechnet ein Mitglied der kleinen Gruppe jener Kunsthändler, denen das Propagandaministerium die Abwicklung des Verkaufs der 1937 als "entartet" konfiszierten Museumswerke übertragen hatte: Hildebrand Gurlitt.
Britta Olényi von Husen und Marcus Leifeld schildern die Episode in ihrem Beitrag zu dem Aufsatzband, mit dem das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste die Zwischenergebnisse seiner Forschungen zum Fall Gurlitt dokumentiert. Ein "Millionengeschäft" vermerkte der von Hildebrand Gurlitts Ehefrau Helene geführte Taschenkalender unter dem Datum des 8. Dezember 1941. Acht Gemälde konnte Gurlitt nach Köln vermitteln, die eigentlich als Tauschmasse für ein Kreuzigungsbild von Grünewald gedacht waren, dann aber als Grundstock der erweiterten Frankreich-Abteilung in Köln verblieben. Freilich nur bis Kriegsende: Sieben der acht, von Ingres, Corot, Renoir, Degas und Cézanne, wurden an Frankreich restituiert. Sie sind bis heute in französischem Staatsbesitz verblieben, inventarisiert in den "Musées Nationaux Récupération".
Dieser Umstand ist bedeutsam für die Gewichtung der vom deutschen Staat betriebenen Provenienzforschung zur Sammlung Gurlitt, die dadurch möglich, aber in einem gewissen Sinne auch nötig wurde, dass deutsche Behörden 2012 im Zuge einer Steuerangelegenheit den Kunstbesitz von Cornelius Gurlitt, dem Sohn Hildebrand Gurlitts, beschlagnahmten. Restitution war schon 1945 das Gebot der Stunde, und allem Pathos unserer Kulturpolitiker zum Trotz ist keineswegs offenkundig, dass der größere Teil der Arbeit noch getan werden müsste. Dass die sieben ehemaligen Kölner Bilder heute auf den Louvre und französische Provinzmuseen verteilt sind, deutet andererseits die Grenzen dieser Bemühungen an. "Ihre rechtmäßigen Eigentümer konnten bisher nicht ermittelt werden." Diese Formulierung Olényi von Husens und Leifelds ist ungenau. Man muss zwischen der Verbringung nach Deutschland und dem Erwerb in Frankreich unterscheiden. Das alliierte Restitutionsrecht sollte den Kulturbesitz der von Deutschland geschädigten Völker wiederherstellen. Am Anfang der Transaktionsketten, die rückabgewickelt werden sollten, muss nicht in jedem Fall ein beraubter privater Eigentümer gestanden haben.
Dass von den 1566 bei Cornelius Gurlitt sichergestellten Kunstwerken nur neun als Raubkunst identifiziert werden konnten, wurde weithin als kläglich bewertet. Die Berechtigung der unsanften Behandlung des Greises scheint im Nachhinein ebenso zweifelhaft wie der finanzielle Aufwand für die "Taskforce" und deren "Nachfolgeprojekte". Der Skepsis des Publikums begegnen die Herausgeber nicht eben souverän. Man lobt sich für "Transparenz" und "Selbstkritik", aber ein Aufsatz, der die Affäre selbst zum Gegenstand von Forschung macht, fehlt. Die "überhitzte öffentliche Stimmung" wird beklagt, als hätten die Provenienzforscher mit ihren Beschwörungen verdrängter Desiderate gar keinen Anteil an der moralischen Aufheizung gehabt.
Makaber ist die Aufforderung, beim "sympathisch klingenden Narrativ vom Opfer Cornelius Gurlitt" die "eigentlichen Opfer" nicht zu vergessen. Das Fortwirken des NS-Unrechts entschuldigt keine rechtswidrigen Maßnahmen, auch nicht gegen einen Profiteur der zweiten Generation. Der Buchtitel "Kunstfund Gurlitt" schreibt die Verharmlosung der Maßnahmen fort. Müssten bürokratische Euphemismen, die Zurechnung verwischen, sich nicht bei diesem Thema von selbst verbieten? Einen Fund in einer Privatwohnung machen Beamte nicht zufällig - der Schatten, zur nachträglichen Rechtfertigung behördlichen Zwangs gebraucht worden zu sein, verbleibt über der Arbeit der Forscher, die sich den Finderlohn auszahlen ließen.
Soll der prätentiöse Untertitel "Wege der Forschung" auf die Buchreihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft anspielen, in der klassische Aufsätze zu gut erforschten Problemen nachgedruckt wurden? Eher sind Umwege und Seitenwege der Forschung gemeint. Denn eine Bündelung der Einzelstudien fehlt. Was weiß man denn nun über Hildebrand Gurlitt?
Der entlastende Beschluss im Spruchkammerverfahren wurde damit begründet, dass die Kriegsprofite auf die "Konjunktur im Kunsthandel zurückzuführen" seien. Gurlitt selbst zeigte sich "froh, dass ich die Konjunktur benutzt habe". Dieses Narrativ mag unsympathisch klingen, aber in der Sache wird es von den Forschern nicht widerlegt. Der Direktor des Wallraf-Richartz-Museums erhielt im März 1941 vom Kölner Oberbürgermeister die frohe Nachricht, dass die Stadt zwei Millionen Reichsmark für Kunstkäufe zur Verfügung stellte. Begründung: Im Krieg gab es wenig andere Möglichkeiten, städtisches Geld zu investieren. Diese finanzpolitische Erklärung einer Wende zur aktiven Kulturpolitik ist für uns vielleicht sogar noch überraschender als Försters Hinwendung zur Kunst der Unterlegenen just im Moment des Sieges.
Pieter W. Kievit berichtet, dass sich der niederländische Kunstmarkt von der Weltwirtschaftskrise lange nicht erholte. Diese Erholung bewirkte erst, so Kievit ausdrücklich, die deutsche Besetzung im Mai 1940. Der Begriff der Konjunktur ist hier also nicht nur auf die persönliche Lage Gurlitts anwendbar, der von der gewaltsamen Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz profitierte, sondern im lehrbuchmäßigen Sinne auf den gesamten Markt.
In Gurlitts Büchern ist als ein holländischer Geschäftspartner ein gewisser Dr. A. Bosch verzeichnet - ein Phantom. Kievit hat für das Rätsel eine Lösung wie aus dem Kriminalroman zu bieten: Bosch war der Deckname eines niederländischen Agenten der deutschen Abwehr, der Gurlitt in Paris als Strohmann gedient haben könnte. Zu diesem Teilergebnis sagte Andrea Baresel-Brand, die Leiterin des Magdeburger Projektteams, im MDR: "Das sagt auch etwas über den Kunstmarkt vielleicht." Immerhin war dieser Satz einmal ein Versuch, eine Schlussforderung aus dem Konvolut der Einzelbefunde zu ziehen. Aber die Formulierung war wieder typisch ungenau. Was sagt das Mitmischen eines Spions und Hochstaplers über den Kunstmarkt? Und über welchen Kunstmarkt? Den im deutsch beherrschten Europa oder den Kunstmarkt überhaupt?
Der Erwerb einer Zeichnung von Millet stellt sich laut Olényi von Husen und Leifeld "als Bestandteil eines überaus komplexen Kettentausches" dar. Solche Komplexität der Geschäftsanbahnung ist im Kunstmarkt immer noch Alltag, die Honorierung von Strohmännern inklusive. Ob die Spruchkammer den Anteil von Krieg und Terror unter den für Gurlitt günstigen Konjunkturfaktoren zu niedrig ansetzte, ist letztlich eine moralische Frage, zu der die Forschung wenig sagen kann. Sie hat es mit Quellenproblemen zu tun, die nicht aus der besonderen kriminellen Energie von NS-Tätern erwachsen, sondern aus ganz normalem Geschäftsgebaren. Gurlitt ging als Kölner Mittelsmann so diskret vor "wie ohnehin im Kunsthandel üblich". Die Autoren präsentieren ihre schmalen Studien als den Anfang weiterer Forschungen. Doch welche naturgemäß schlecht dokumentierten Kunstkäufe sollen alle noch auf Staatskosten rekonstruiert werden, und zu welchem Zweck?
Der auf glänzendem Papier gedruckte Band mit zu kleinen Bildern ist ein Tätigkeitsnachweis für Geldgeber. Monika Grütters beginnt ihr Geleitwort mit Nelly Sachs - aber wäre im Namen der "jüdisch-deutschen Versöhnung" die Aufarbeitung des Raubs von Grund und Boden nicht ebenso dringlich? Die Mutmaßungen um den sogenannten Schwabinger Kunstschatz nennen die Herausgeber eine "spekulative Blase". Unabsichtlich sprechen sie die Wahrheit über ihr eigenes Unternehmen aus. Kunsthandelsübliche Übertreibungen erklären einiges am Boom der Provenienzforschung. Über Erhard Göpel (der später Kunstkritiken für diese Zeitung schrieb) teilt der Band mit, er habe die Stellung des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete bekleidet. Göpel war aber nur der Vertreter des "Sonderauftrags Linz" beim Reichskommissar. Der Fehler ist verräterisch: Das Großunternehmen Gurlitt-Forschung beruht auf der Überschätzung der Wichtigkeit des Kunstmarktkomplexes für unser Bild des Nationalsozialismus.
PATRICK BAHNERS
"Kunstfund Gurlitt".
Wege der Forschung.
Hrsg. von Nadine Bahrmann,
Andrea Baresel-Brand
und Gilbert Lupfer.
Walter de Gruyter,
Berlin 2020.
188 S., Abb., br., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spekulative Blase: Im Ergebnisband zum Fall Gurlitt tritt das Problem der Provenienzforschung ans Licht.
Kürzlich bewilligte der Rat der Stadt Köln einen Erweiterungsbau für das Wallraf-Richartz-Museum. Er soll hauptsächlich französische Bilder aufnehmen, die Stiftung des 2017 verstorbenen Sammlers Gérard Corboud. Vor achtzig Jahren, unter dem Direktor Otto Förster, versuchte das Wallraf-Richartz-Museum schon einmal, eine vorherrschende Stellung unter den deutschen Häusern für neuere französische Malerei zu erringen. Am 20. April 1942 legte Förster in einem Brief an den Kölner Stadtdirektor dar, dass die Chance bestehe, Essen zu übertrumpfen.
Das seit 1921 in Essen ansässige Folkwang-Museum war das erste auf die von Frankreich geprägte moderne Malerei spezialisierte Museum in Deutschland. Nach dem Krieg rechtfertigte Förster die Ankaufskampagne der Kriegszeit als Kompensation für die Beschlagnahmen der "Aktion Entartete Kunst". Die alte "bruchstückhafte Sammlung französischer Bilder" sei "1937 durch eine von Hitler autorisierte Kunsthändler-Clique geraubt und in das Ausland verkauft worden", schrieb Förster 1946 an Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der ihn 1945 entlassen hatte.
Ein Museum kann seine Arrondierungsinteressen unabhängig von den Zäsuren des politischen Geschmacks verfolgen. Der 1933 zum Direktor beförderte Förster hatte 1935 die Ausstellung "Deutsch heißt volkstümlich" gezeigt, aber just an Hitlers Geburtstag präsentierte er 1942 der Stadtverwaltung sein Projekt eines kölnischen Folkwang. Allerdings hob er nicht die Modernität der französischen neuen Meister hervor; Courbet und Renoir rühmte er vielmehr als kongeniale Zeitgenossen des aus Köln gebürtigen Wilhelm Leibl. Als Ankäufer in Paris agierte für ihn ausgerechnet ein Mitglied der kleinen Gruppe jener Kunsthändler, denen das Propagandaministerium die Abwicklung des Verkaufs der 1937 als "entartet" konfiszierten Museumswerke übertragen hatte: Hildebrand Gurlitt.
Britta Olényi von Husen und Marcus Leifeld schildern die Episode in ihrem Beitrag zu dem Aufsatzband, mit dem das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste die Zwischenergebnisse seiner Forschungen zum Fall Gurlitt dokumentiert. Ein "Millionengeschäft" vermerkte der von Hildebrand Gurlitts Ehefrau Helene geführte Taschenkalender unter dem Datum des 8. Dezember 1941. Acht Gemälde konnte Gurlitt nach Köln vermitteln, die eigentlich als Tauschmasse für ein Kreuzigungsbild von Grünewald gedacht waren, dann aber als Grundstock der erweiterten Frankreich-Abteilung in Köln verblieben. Freilich nur bis Kriegsende: Sieben der acht, von Ingres, Corot, Renoir, Degas und Cézanne, wurden an Frankreich restituiert. Sie sind bis heute in französischem Staatsbesitz verblieben, inventarisiert in den "Musées Nationaux Récupération".
Dieser Umstand ist bedeutsam für die Gewichtung der vom deutschen Staat betriebenen Provenienzforschung zur Sammlung Gurlitt, die dadurch möglich, aber in einem gewissen Sinne auch nötig wurde, dass deutsche Behörden 2012 im Zuge einer Steuerangelegenheit den Kunstbesitz von Cornelius Gurlitt, dem Sohn Hildebrand Gurlitts, beschlagnahmten. Restitution war schon 1945 das Gebot der Stunde, und allem Pathos unserer Kulturpolitiker zum Trotz ist keineswegs offenkundig, dass der größere Teil der Arbeit noch getan werden müsste. Dass die sieben ehemaligen Kölner Bilder heute auf den Louvre und französische Provinzmuseen verteilt sind, deutet andererseits die Grenzen dieser Bemühungen an. "Ihre rechtmäßigen Eigentümer konnten bisher nicht ermittelt werden." Diese Formulierung Olényi von Husens und Leifelds ist ungenau. Man muss zwischen der Verbringung nach Deutschland und dem Erwerb in Frankreich unterscheiden. Das alliierte Restitutionsrecht sollte den Kulturbesitz der von Deutschland geschädigten Völker wiederherstellen. Am Anfang der Transaktionsketten, die rückabgewickelt werden sollten, muss nicht in jedem Fall ein beraubter privater Eigentümer gestanden haben.
Dass von den 1566 bei Cornelius Gurlitt sichergestellten Kunstwerken nur neun als Raubkunst identifiziert werden konnten, wurde weithin als kläglich bewertet. Die Berechtigung der unsanften Behandlung des Greises scheint im Nachhinein ebenso zweifelhaft wie der finanzielle Aufwand für die "Taskforce" und deren "Nachfolgeprojekte". Der Skepsis des Publikums begegnen die Herausgeber nicht eben souverän. Man lobt sich für "Transparenz" und "Selbstkritik", aber ein Aufsatz, der die Affäre selbst zum Gegenstand von Forschung macht, fehlt. Die "überhitzte öffentliche Stimmung" wird beklagt, als hätten die Provenienzforscher mit ihren Beschwörungen verdrängter Desiderate gar keinen Anteil an der moralischen Aufheizung gehabt.
Makaber ist die Aufforderung, beim "sympathisch klingenden Narrativ vom Opfer Cornelius Gurlitt" die "eigentlichen Opfer" nicht zu vergessen. Das Fortwirken des NS-Unrechts entschuldigt keine rechtswidrigen Maßnahmen, auch nicht gegen einen Profiteur der zweiten Generation. Der Buchtitel "Kunstfund Gurlitt" schreibt die Verharmlosung der Maßnahmen fort. Müssten bürokratische Euphemismen, die Zurechnung verwischen, sich nicht bei diesem Thema von selbst verbieten? Einen Fund in einer Privatwohnung machen Beamte nicht zufällig - der Schatten, zur nachträglichen Rechtfertigung behördlichen Zwangs gebraucht worden zu sein, verbleibt über der Arbeit der Forscher, die sich den Finderlohn auszahlen ließen.
Soll der prätentiöse Untertitel "Wege der Forschung" auf die Buchreihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft anspielen, in der klassische Aufsätze zu gut erforschten Problemen nachgedruckt wurden? Eher sind Umwege und Seitenwege der Forschung gemeint. Denn eine Bündelung der Einzelstudien fehlt. Was weiß man denn nun über Hildebrand Gurlitt?
Der entlastende Beschluss im Spruchkammerverfahren wurde damit begründet, dass die Kriegsprofite auf die "Konjunktur im Kunsthandel zurückzuführen" seien. Gurlitt selbst zeigte sich "froh, dass ich die Konjunktur benutzt habe". Dieses Narrativ mag unsympathisch klingen, aber in der Sache wird es von den Forschern nicht widerlegt. Der Direktor des Wallraf-Richartz-Museums erhielt im März 1941 vom Kölner Oberbürgermeister die frohe Nachricht, dass die Stadt zwei Millionen Reichsmark für Kunstkäufe zur Verfügung stellte. Begründung: Im Krieg gab es wenig andere Möglichkeiten, städtisches Geld zu investieren. Diese finanzpolitische Erklärung einer Wende zur aktiven Kulturpolitik ist für uns vielleicht sogar noch überraschender als Försters Hinwendung zur Kunst der Unterlegenen just im Moment des Sieges.
Pieter W. Kievit berichtet, dass sich der niederländische Kunstmarkt von der Weltwirtschaftskrise lange nicht erholte. Diese Erholung bewirkte erst, so Kievit ausdrücklich, die deutsche Besetzung im Mai 1940. Der Begriff der Konjunktur ist hier also nicht nur auf die persönliche Lage Gurlitts anwendbar, der von der gewaltsamen Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz profitierte, sondern im lehrbuchmäßigen Sinne auf den gesamten Markt.
In Gurlitts Büchern ist als ein holländischer Geschäftspartner ein gewisser Dr. A. Bosch verzeichnet - ein Phantom. Kievit hat für das Rätsel eine Lösung wie aus dem Kriminalroman zu bieten: Bosch war der Deckname eines niederländischen Agenten der deutschen Abwehr, der Gurlitt in Paris als Strohmann gedient haben könnte. Zu diesem Teilergebnis sagte Andrea Baresel-Brand, die Leiterin des Magdeburger Projektteams, im MDR: "Das sagt auch etwas über den Kunstmarkt vielleicht." Immerhin war dieser Satz einmal ein Versuch, eine Schlussforderung aus dem Konvolut der Einzelbefunde zu ziehen. Aber die Formulierung war wieder typisch ungenau. Was sagt das Mitmischen eines Spions und Hochstaplers über den Kunstmarkt? Und über welchen Kunstmarkt? Den im deutsch beherrschten Europa oder den Kunstmarkt überhaupt?
Der Erwerb einer Zeichnung von Millet stellt sich laut Olényi von Husen und Leifeld "als Bestandteil eines überaus komplexen Kettentausches" dar. Solche Komplexität der Geschäftsanbahnung ist im Kunstmarkt immer noch Alltag, die Honorierung von Strohmännern inklusive. Ob die Spruchkammer den Anteil von Krieg und Terror unter den für Gurlitt günstigen Konjunkturfaktoren zu niedrig ansetzte, ist letztlich eine moralische Frage, zu der die Forschung wenig sagen kann. Sie hat es mit Quellenproblemen zu tun, die nicht aus der besonderen kriminellen Energie von NS-Tätern erwachsen, sondern aus ganz normalem Geschäftsgebaren. Gurlitt ging als Kölner Mittelsmann so diskret vor "wie ohnehin im Kunsthandel üblich". Die Autoren präsentieren ihre schmalen Studien als den Anfang weiterer Forschungen. Doch welche naturgemäß schlecht dokumentierten Kunstkäufe sollen alle noch auf Staatskosten rekonstruiert werden, und zu welchem Zweck?
Der auf glänzendem Papier gedruckte Band mit zu kleinen Bildern ist ein Tätigkeitsnachweis für Geldgeber. Monika Grütters beginnt ihr Geleitwort mit Nelly Sachs - aber wäre im Namen der "jüdisch-deutschen Versöhnung" die Aufarbeitung des Raubs von Grund und Boden nicht ebenso dringlich? Die Mutmaßungen um den sogenannten Schwabinger Kunstschatz nennen die Herausgeber eine "spekulative Blase". Unabsichtlich sprechen sie die Wahrheit über ihr eigenes Unternehmen aus. Kunsthandelsübliche Übertreibungen erklären einiges am Boom der Provenienzforschung. Über Erhard Göpel (der später Kunstkritiken für diese Zeitung schrieb) teilt der Band mit, er habe die Stellung des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete bekleidet. Göpel war aber nur der Vertreter des "Sonderauftrags Linz" beim Reichskommissar. Der Fehler ist verräterisch: Das Großunternehmen Gurlitt-Forschung beruht auf der Überschätzung der Wichtigkeit des Kunstmarktkomplexes für unser Bild des Nationalsozialismus.
PATRICK BAHNERS
"Kunstfund Gurlitt".
Wege der Forschung.
Hrsg. von Nadine Bahrmann,
Andrea Baresel-Brand
und Gilbert Lupfer.
Walter de Gruyter,
Berlin 2020.
188 S., Abb., br., 39,95 [Euro].
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"Alle Beiträge sind material- und detailreich. Gerade in den drei Einzelfallstudien werden die Ergebnisse bis in kleinste Einzelheiten ausgebreitet." (Ulrike Schmiegelt-Rietig, Schlösser und Sammlungen, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten in H-Soz-Kult, 04.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50372)