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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.1998

Rede, Forscher, bilde nicht
Barbara Maria Stafford über Aufstieg und Fall des gelehrten Wortes

Zu spät, zu akademisch, zu teuer, aber trotzdem ein interessantes Buch. Inwiefern kommt "Kunstvolle Wissenschaft" von Barbara Maria Stafford zu spät? Das Werk handelt zwar vom achtzehnten Jahrhundert, aber es zieht auch Parallelen zur Gegenwart. Und das amerikanische Original ist 1994 erschienen, als noch kein Friseur das Wort Internet buchstabieren konnte und der "CD-ROM-Leser" (wie er im Text genannt wird) tausend Mark kostete. Jedes Buch hat seine Halbwertszeit, und gerade wenn es Nutzanwendungen für das "Computer- und Medienzeitalter" (Klappentext) liefern will, ist diese besonders kurz.

Barbara Maria Stafford lehrt Kunstgeschichte an der University of Chicago. Ihr Buch richtet sich leider in erster Linie an Spezialisten. Nichts gegen Professoren, aber manchmal sind sie für unsereinen doch etwas schwer verständlich. Solange es sich nur um die Evolution des Maulwurfs handelt, ist dagegen ja auch nichts einzuwenden, aber diesmal geht es um einen wesentlichen Aspekt unserer Kultur. Es geht um den Gegensatz von Bild und Wort bei der Information des Volkes über naturwissenschaftliche Sachverhalte. Dargestellt wird dieser für den Epochenwechsel vom Barock zur Aufklärung, aber letztlich erleben wir heute die gleiche Konfrontation: Fernsehen gegen Zeitung, "Focus" gegen "Spiegel" und Mickymaus gegen Lederstrumpf. Nur ist es diesmal so, daß das Pendel in die andere Richtung ausschlägt.

Im ersten Kapitel - "Die Entlastung des Denkens" - geht es um den Wandel "von einer mündlichen und aristokratischen Sehkultur zu einer marktorientierten demokratischen Schrift- und Buchkultur" in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Dieser Wandel war ein Sieg des Nordens über den Süden, des Protestantismus über den Katholizismus. Die Alphabetisierung der Bevölkerung war ganz im Sinne der pietistischen Reformer, für die allein das geschriebene Wort zählte. Das Lesen, das zunächst noch hauptsächlich ein lautes Vorlesen, ein Gemeinschaftserlebnis war, wurde zur solitären Beschäftigung. Die sogenannte Unterhaltungsmathematik, bei der es sich nach heutigen Maßstäben eher um Unterhaltungsphysik handelte, entwickelte sich vom nutzlosen Zeitvertreib zur pädagogisch wertvollen rationalen Beschäftigung.

Das zweite Kapitel "Das sichtbare Unsichtbare" behandelt Gaukelei und Betrug. Die Autorin führt vor, wie die Aufklärung gegen jede Art von Täuschung kämpfte. Das beste Mittel gegen die Hochstapler, Zauberkünstler, Quacksalber und Falschmünzer schien die umfassende Verbreitung von naturwissenschaftlicher Bildung zu sein. Dazu zählte auch die Einführung von einheitlichen Maßen und Gewichten, deren Fehlen die Betrüger weidlich ausgenützt hatten.

"Laboratoriumsspiele", so der Titel des dritten Kapitels, wurden in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts populär. Es entstand der Beruf des selbständigen Vorführers von naturwissenschaftlichen Experimenten. Beliebt war alles, was mit Elektrizität zu tun hatte. Damals konnte man das Publikum noch beeindrucken, wenn einem durch elektrostatische Aufladung die Haare zu Berge standen. Für die seinerzeitigen Zuschauer unterschied sich eine solche Demonstration wohl gar nicht so sehr vom Auftritt des Magiers, der einen Vogel aus dem Zylinderhut zieht, aber es war eben keine Taschenspielerei. Ebenso aufsehenerregend waren Roboter: künstliche Menschen und künstliche Tiere.

Die Forscher begannen damals, ethische Regeln für die Laborarbeit zu entwickeln. Die Autorin entdeckt sogar Wirkungen auf die Malerei. Nach ihrer Auffassung ist der Klassizismus nichts anderes als eine Abwendung von einer "katholischen" oder "südlichen" Form des Aberglaubens hin zu einer "protestantischen" oder "nördlichen" Malweise ohne Zuhilfenahme illusionistischer Tricks. Das vierte Kapitel "Zurschaustellung" schließlich befaßt sich mit der Organisation von Sammlungen in Museen und anderswo. Während die Exponate früher in der Regel nach visuellen Gesichtspunkten geordnet waren, wurde nun die sprachliche Reihenfolge des Katalogs modern. Analog ersetzten trockene und systematische spezialisierte Werke immer mehr die bildlich-anschaulichen Lehrbücher.

Soviel zum achtzehnten Jahrhundert. In der Gegenwart scheint sich der Trend umzukehren. Überall verdrängt das Bild den Text. Das Fernsehen ersetzt die Tageszeitung als wichtigste Informationsquelle. Die Zeitungen reagieren auf den resultierenden Auflageverlust mit viel Farbe, mehr Bildern und Graphiken. Barbara Maria Stafford vertritt die These, daß wir im Begriff stehen, zur mündlich und optisch orientierten Kultur der frühen Neuzeit zurückzukehren. Wir leben heute nicht mehr in einer vor-, sondern in einer nachschriftlichen Kultur, sagt sie. Man kann verstehen, daß sie als Kunsthistorikerin daran nichts Schlechtes finden kann. Sie fordert auch nur dazu auf, die Situation zur Kenntnis zu nehmen und die Konsequenzen zu ziehen. "Es ist kaum noch vorstellbar, daß Studenten und Schüler jemals wieder zu alten Schreibtechniken zurückkehren könnten."

Man kann die Entwicklung aber auch anders interpretieren. Vielleicht handelt es sich ja weniger um eine zunehmende Visualisierung als um eine Infantilisierung der Welt. Kinder hatten schon immer ihre Bilderbücher. Und wer sich eine Viertelstunde vor den Fernseher setzt, durch die Programme zappt und das Niveau der Sendungen mit dem Niveau der Abbildungen im vorliegenden Buch vergleicht, wird feststellen, daß unsere Vorfahren uns intellektuell weit überlegen waren. Eine kleine Beobachtung am Rande: Der Typ Erwachsener, der früher in der U-Bahn konzentriert "Perry Rhodan" (falls männlich) oder einen Arztroman (falls weiblich) gelesen hat, greift heutzutage eher zu "Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern".

Es entbehrt nicht der Ironie, daß das Buch selbst ein perfektes Beispiel für unsere traditionelle Schriftkultur ist. Der Text ist umfangreich, sorgfältig formuliert, ordentlich übersetzt und besitzt eine hohe Fremdwortdichte. Französischkenntnisse werden selbstverständlich vorausgesetzt. Die vielen Abbildungen sind liebevoll ausgesucht und im abstrakten Schwarzweiß gehalten. Manchmal kommt es vor, daß ein Bild so stark verkleinert ist, daß man Details nicht erkennt. Dann muß man der verbalen Beschreibung der Autorin vertrauen. Ob die oben erwähnten Studenten mit den neuen Schreibtechniken so ein Werk wohl noch begreifen können? ERNST HORST

Barbara Maria Stafford: "Kunstvolle Wissenschaft". Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung. Aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein. Verlag der Kunst, Dresden 1998. 383 S., 200 Abb., br., 78,- DM.

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