Das Musiktheater des zwanzigsten Jahrhunderts wurde wesentlich von Kurt Weill (1900-1950) geprägt, am berühmtesten ist seine kongeniale Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, aus der eine der bis heute meistgespielten Opern der Welt hervorging: die Dreigroschenoper.
1933 musste der jüdische Komponist fliehen, zunächst nach Frankreich, 1935 emigrierte er dann in die USA, wo er am Broadway große Erfolge feiern konnte.
Stephen Hinton betrachtet in dieser ersten umfassenden Monografie Weills Entwicklung, seine Experimente mit den unterschiedlichsten Genres und Stilmitteln - von Einaktern und Theaterstücken mit Musik bis hin zum Broadway-Musical. Es zeigen sich »zwei Weills« - der europäische und der amerikanische: Europa und Amerika als die beiden Pole seines Lebens und Wirkens. Berlin wird am Broadway hörbar und in Berlin, Paris, London, Kiew und anderswo in Europa ein amerikanisch verwandelter Kurt Weill.
1933 musste der jüdische Komponist fliehen, zunächst nach Frankreich, 1935 emigrierte er dann in die USA, wo er am Broadway große Erfolge feiern konnte.
Stephen Hinton betrachtet in dieser ersten umfassenden Monografie Weills Entwicklung, seine Experimente mit den unterschiedlichsten Genres und Stilmitteln - von Einaktern und Theaterstücken mit Musik bis hin zum Broadway-Musical. Es zeigen sich »zwei Weills« - der europäische und der amerikanische: Europa und Amerika als die beiden Pole seines Lebens und Wirkens. Berlin wird am Broadway hörbar und in Berlin, Paris, London, Kiew und anderswo in Europa ein amerikanisch verwandelter Kurt Weill.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2024Eine theatralische Sendung
Da bleibt noch manches wieder auf die Spielpläne zu bringen: Stephen Hintons exzellente Darstellung von Kurt Weills musikalischem Theater.
Kurt Weill, der 1900 in Dessau zur Welt kam und 1950 in New York starb, gehörte zu den vielseitigsten Komponisten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Lebensweg führt von der Weimarer Republik, in der er zu den prägenden Vertretern des modernen musikalischen Theaters wurde, über die erzwungene Flucht nach Frankreich ins Exil und zu einer erfolgreichen Fortsetzung der Karriere in den USA; sein Werk ist eine wahre Fundgrube an Ideen, Experimenten und vielseitigen Antworten auf die Herausforderungen kreativen Theaterschaffens in einem Zeitalter nachhaltiger gesellschaftlicher, kultureller und politischer Veränderung. Dabei erscheinen zwei Grundpfeiler in Weills musikalischer und theatraler Zielsetzung durch alle Schaffensperioden hinweg ungebrochen, die seine Musik bis heute aktuell und besonders machen: ein radikal-egalitäres Konzept musikalischer Ästhetik und Produktion auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Prämisse, Musik und musikalisches Theater solle den Menschen der Gegenwart schonungslos so zeigen, wie er ist.
Während etwa "Die sieben Todsünden" oder "Die Dreigroschenoper" ihren Platz im Theaterrepertoire und im kulturellen Gedächtnis behaupten, warten bis heute einige seiner stärksten Stücke - genannt seien hier beispielhaft "Die Bürgschaft" und "Love Life" - noch immer auf öffentliche Würdigung und den Platz im Spielplan, den sie verdient hätten.
Grundlegendes leistet Stephen Hintons jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Monographie. Sie setzt den Fokus auf das Schaffen für das musikalische Theater. Das Buch ist keine weitere Weill-Biographie und will keine sein. Nichtsdestoweniger setzt es sich mit den vorliegenden Weill-Biographien umfassend auseinander und befragt zugleich das in ihnen gezeichnete Bild des Komponisten. Im Kontrast zur gängigen Vorstellung von zwei Schaffensperioden - getrennt nicht nur durch Flucht und Exil, sondern auch durch den gelungenen und für Weill unumkehrbaren Wechsel von der europäischen Moderne in die Welt des amerikanischen Broadway-Theaters - blickt Hinton auf die großen Linien und Zusammenhänge des kompositorischen Arbeitens. Er zeichnet Entstehung, Konzeption und ästhetische, gegebenenfalls auch (kultur-)politische Zielsetzung der Werke nach, betrachtet die Wechselbeziehungen unter ihnen und die in ihnen erkennbare Entwicklung und wachsende Erfahrung des Komponisten und Theaterpraktikers. Dabei schließt Hinton neben den Bühnenwerken auch Ballette, Kantaten und Filme sowie unvollendet gebliebene Werke ein.
Eine der besonderen Qualitäten des Buchs ist, dass es auf der Basis kaum überbietbarer Vorarbeiten aufsatteln kann. Dazu zählt zum einen das reiche Archiv der Kurt Weill Foundation in New York sowie Sammlungen zu den wichtigsten Arbeitspartnern der Komponisten Bertolt Brecht, Maxwell Anderson und vielen mehr - ein Materialschatz, von dem Hinton umfassend Gebrauch macht und so Prozesse der Werkkonzeption und -entstehung minutiös nachvollzieht. Dazu zählt zum anderen die internationale Forschungstätigkeit zu Weill, die Hinton für sein Buch aufgearbeitet hat und sie zugleich für die am Weiterlesen Interessierten erschließt, wobei sowohl die englisch- als auch die deutschsprachigen Studien wahrgenommen werden. Bemerkenswert daran ist, dass bei aller wissenschaftlichen Akkuratesse und aller Umsicht ein angenehm lesbarer, stets klar erläuternder Text entsteht, der nicht abhebt oder sich im analytischen Detail verliert - obwohl bisweilen durchaus musikanalytisch und manchmal mit konkreten Musikbeispielen argumentiert wird.
Ein weiterer Fundus, auf den Hinton aufbauen kann, sind seine eigenen, bis zu seiner Dissertation zurückgehenden Forschungen zu Weills Musiktheaterwerken. So hat er sich intensiv mit einzelnen Werken wie der "Dreigroschenoper" oder "Happy End" beschäftigt. Weills Leitlinien - von der prägenden Opernästhetik des Kompositionslehrers Ferruccio Busoni über Vorbilder wie Mozarts "Zauberflöte", der musikdramatischen Entwicklungen im Team mit Brecht bis zum Experimentieren mit "Zwischengattungen" und "Urformen" - bilden das Zentrum von Vorarbeiten, die Hinton in seinem Buch weiterdenkt, etwa in Ausführungen über die Begriffe Musical, Musical Play, American Opera.
Nicht gelungen erscheint dem Rezensenten in diesem Zusammenhang die Eindeutschung von Gattungsnamen. Die Musical Comedy ist ein fester Terminus, der eine britisch-amerikanische Produktionskonvention beschreibt und nicht als Musikalische Komödie übersetzbar ist, sowie auch die Ballad Opera durchaus keine Balladenoper ist und Musical Theater nicht (wie bereits im Titel) Musiktheater. Weill selbst spricht im englischen bewusst nicht von Music Theater, sondern von Musical Theater, Hinton übersetzte 1995 in seiner Ausgabe der Schriften Weills treffend: "musikalisches Theater".
In seinen ausführlichen Werkbetrachtungen behält Hinton weitgehend eine hermeneutische Argumentationsrichtung bei, erzählt die Geschichte der Konzeption und Entstehung zumeist aus der Perspektive Weills; die oft zahlreichen anderen Akteure treten dabei in den Hintergrund. Indem er damit an die Mehrheit der Studien zu Weill anschließt, macht er indirekt die Herausforderungen deutlich, die Weill und seine Zeitgenossen noch für die Forschung bereithalten. Dazu gehört etwa die Beschäftigung mit der performativen Seite seiner Musik. Von den vielen Aufführenden, die Weills Musik singend, darstellend und inszenierend auf die Bühne brachten und bringen, werden von Hinton zwar eine ganze Reihe genannt, die Performance selbst, für die ja zahlreiche Ton- und Filmquellen vorliegen, tritt aber ganz in den Hintergrund. Die Rezeption der Werke wird durch Kritiken aus Weills Lebzeiten, aber auch durch größere, meistens akademische Rezeptionszeugnisse (Theodor W. Adorno, Carl Dahlhaus und andere) in den Blick genommen. Über das kulturelle Fortleben und die Weiterentwicklung von Weills Musik, ob nun auf der Bühne oder in der populären Kultur, bleibt aber noch viel zu sagen. Die musiksoziologischen und kulturpolitischen Implikationen seiner ästhetischen Schriften sind noch immer aufschlussreich und anregend.
Mit dem vorliegenden Buch liegt ein Referenzwerk zu Weill vor, es repräsentiert den vorliegenden Wissensfundus, erläutert und erschließt bekanntere und weniger bekannte Werke und bezieht differenziert Stellung zu wissenschaftlichen und kulturpolitischen Debatten. Die klare, an ein breites Publikum von Interessierten adressierte Sprache des Originals ist zudem in der Übersetzung gut getroffen. NILS GROSCH
Stephen Hinton: "Kurt Weills Musiktheater".
Aus dem Englischen von Veit Friemert. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 830 S., Abb., geb.,
58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Da bleibt noch manches wieder auf die Spielpläne zu bringen: Stephen Hintons exzellente Darstellung von Kurt Weills musikalischem Theater.
Kurt Weill, der 1900 in Dessau zur Welt kam und 1950 in New York starb, gehörte zu den vielseitigsten Komponisten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Lebensweg führt von der Weimarer Republik, in der er zu den prägenden Vertretern des modernen musikalischen Theaters wurde, über die erzwungene Flucht nach Frankreich ins Exil und zu einer erfolgreichen Fortsetzung der Karriere in den USA; sein Werk ist eine wahre Fundgrube an Ideen, Experimenten und vielseitigen Antworten auf die Herausforderungen kreativen Theaterschaffens in einem Zeitalter nachhaltiger gesellschaftlicher, kultureller und politischer Veränderung. Dabei erscheinen zwei Grundpfeiler in Weills musikalischer und theatraler Zielsetzung durch alle Schaffensperioden hinweg ungebrochen, die seine Musik bis heute aktuell und besonders machen: ein radikal-egalitäres Konzept musikalischer Ästhetik und Produktion auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Prämisse, Musik und musikalisches Theater solle den Menschen der Gegenwart schonungslos so zeigen, wie er ist.
Während etwa "Die sieben Todsünden" oder "Die Dreigroschenoper" ihren Platz im Theaterrepertoire und im kulturellen Gedächtnis behaupten, warten bis heute einige seiner stärksten Stücke - genannt seien hier beispielhaft "Die Bürgschaft" und "Love Life" - noch immer auf öffentliche Würdigung und den Platz im Spielplan, den sie verdient hätten.
Grundlegendes leistet Stephen Hintons jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Monographie. Sie setzt den Fokus auf das Schaffen für das musikalische Theater. Das Buch ist keine weitere Weill-Biographie und will keine sein. Nichtsdestoweniger setzt es sich mit den vorliegenden Weill-Biographien umfassend auseinander und befragt zugleich das in ihnen gezeichnete Bild des Komponisten. Im Kontrast zur gängigen Vorstellung von zwei Schaffensperioden - getrennt nicht nur durch Flucht und Exil, sondern auch durch den gelungenen und für Weill unumkehrbaren Wechsel von der europäischen Moderne in die Welt des amerikanischen Broadway-Theaters - blickt Hinton auf die großen Linien und Zusammenhänge des kompositorischen Arbeitens. Er zeichnet Entstehung, Konzeption und ästhetische, gegebenenfalls auch (kultur-)politische Zielsetzung der Werke nach, betrachtet die Wechselbeziehungen unter ihnen und die in ihnen erkennbare Entwicklung und wachsende Erfahrung des Komponisten und Theaterpraktikers. Dabei schließt Hinton neben den Bühnenwerken auch Ballette, Kantaten und Filme sowie unvollendet gebliebene Werke ein.
Eine der besonderen Qualitäten des Buchs ist, dass es auf der Basis kaum überbietbarer Vorarbeiten aufsatteln kann. Dazu zählt zum einen das reiche Archiv der Kurt Weill Foundation in New York sowie Sammlungen zu den wichtigsten Arbeitspartnern der Komponisten Bertolt Brecht, Maxwell Anderson und vielen mehr - ein Materialschatz, von dem Hinton umfassend Gebrauch macht und so Prozesse der Werkkonzeption und -entstehung minutiös nachvollzieht. Dazu zählt zum anderen die internationale Forschungstätigkeit zu Weill, die Hinton für sein Buch aufgearbeitet hat und sie zugleich für die am Weiterlesen Interessierten erschließt, wobei sowohl die englisch- als auch die deutschsprachigen Studien wahrgenommen werden. Bemerkenswert daran ist, dass bei aller wissenschaftlichen Akkuratesse und aller Umsicht ein angenehm lesbarer, stets klar erläuternder Text entsteht, der nicht abhebt oder sich im analytischen Detail verliert - obwohl bisweilen durchaus musikanalytisch und manchmal mit konkreten Musikbeispielen argumentiert wird.
Ein weiterer Fundus, auf den Hinton aufbauen kann, sind seine eigenen, bis zu seiner Dissertation zurückgehenden Forschungen zu Weills Musiktheaterwerken. So hat er sich intensiv mit einzelnen Werken wie der "Dreigroschenoper" oder "Happy End" beschäftigt. Weills Leitlinien - von der prägenden Opernästhetik des Kompositionslehrers Ferruccio Busoni über Vorbilder wie Mozarts "Zauberflöte", der musikdramatischen Entwicklungen im Team mit Brecht bis zum Experimentieren mit "Zwischengattungen" und "Urformen" - bilden das Zentrum von Vorarbeiten, die Hinton in seinem Buch weiterdenkt, etwa in Ausführungen über die Begriffe Musical, Musical Play, American Opera.
Nicht gelungen erscheint dem Rezensenten in diesem Zusammenhang die Eindeutschung von Gattungsnamen. Die Musical Comedy ist ein fester Terminus, der eine britisch-amerikanische Produktionskonvention beschreibt und nicht als Musikalische Komödie übersetzbar ist, sowie auch die Ballad Opera durchaus keine Balladenoper ist und Musical Theater nicht (wie bereits im Titel) Musiktheater. Weill selbst spricht im englischen bewusst nicht von Music Theater, sondern von Musical Theater, Hinton übersetzte 1995 in seiner Ausgabe der Schriften Weills treffend: "musikalisches Theater".
In seinen ausführlichen Werkbetrachtungen behält Hinton weitgehend eine hermeneutische Argumentationsrichtung bei, erzählt die Geschichte der Konzeption und Entstehung zumeist aus der Perspektive Weills; die oft zahlreichen anderen Akteure treten dabei in den Hintergrund. Indem er damit an die Mehrheit der Studien zu Weill anschließt, macht er indirekt die Herausforderungen deutlich, die Weill und seine Zeitgenossen noch für die Forschung bereithalten. Dazu gehört etwa die Beschäftigung mit der performativen Seite seiner Musik. Von den vielen Aufführenden, die Weills Musik singend, darstellend und inszenierend auf die Bühne brachten und bringen, werden von Hinton zwar eine ganze Reihe genannt, die Performance selbst, für die ja zahlreiche Ton- und Filmquellen vorliegen, tritt aber ganz in den Hintergrund. Die Rezeption der Werke wird durch Kritiken aus Weills Lebzeiten, aber auch durch größere, meistens akademische Rezeptionszeugnisse (Theodor W. Adorno, Carl Dahlhaus und andere) in den Blick genommen. Über das kulturelle Fortleben und die Weiterentwicklung von Weills Musik, ob nun auf der Bühne oder in der populären Kultur, bleibt aber noch viel zu sagen. Die musiksoziologischen und kulturpolitischen Implikationen seiner ästhetischen Schriften sind noch immer aufschlussreich und anregend.
Mit dem vorliegenden Buch liegt ein Referenzwerk zu Weill vor, es repräsentiert den vorliegenden Wissensfundus, erläutert und erschließt bekanntere und weniger bekannte Werke und bezieht differenziert Stellung zu wissenschaftlichen und kulturpolitischen Debatten. Die klare, an ein breites Publikum von Interessierten adressierte Sprache des Originals ist zudem in der Übersetzung gut getroffen. NILS GROSCH
Stephen Hinton: "Kurt Weills Musiktheater".
Aus dem Englischen von Veit Friemert. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 830 S., Abb., geb.,
58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nils Grosch sieht in Stephen Hintons Weill-Monografie ein Referenzwerk. Das liegt für ihn vor allem an Hintons materialreichem, wissenschaftlich genauem Blick auf Weills musikalisches Theaterschaffen. Dass der Band bei aller analytischen Raffinesse lesbar bleibt, wenn der Autor sich von der Entstehung und den großen Linien und Kontexten von Weills Kompositionen sowie ihren politischen Implikationen zu konkreten Musikbeispielen vorarbeitet, findet Grosch außerdem bemerkenswert. Überflüssig erscheint ihm die Eindeutschung von Gattungsnamen im Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Mit dem vorliegenden Buch liegt ein Referenzwerk zu Weill vor, es repräsentiert den vorliegenden Wissensfundus, erläutert und erschließt bekanntere und weniger bekannte Werke und bezieht differenziert Stellung zu wissenschaftlichen und kulturpolitischen Debatten. Die klare, an ein breites Publikum von Interessierten adressierte Sprache des Originals ist zudem in der Übersetzung gut getroffen.« Nils Grosch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240213