Als Nadias verwitweter Vater ihr mitteilt, dass er wieder heiraten will, löst er eine gewaltige Familienkrise aus. Sein neuer Schatz ist eine üppige Blondine, aus der Ukraine wie er auch, mit einer Vorliebe für grüne Satinunterwäsche, Fertiggerichte und hochtechnisierte Kücheneinrichtungen. Nadia ist sofort klar, daß diese Frau vor nichts haltmachen wird, um ihre ehrgeizigen Träume zu verwirklichen ...
Doch etwas Gutes hat die Angelegenheit: Nadia und ihre Schwester Vera sprechen seit Jahren das erste Mal wieder miteinander, verbunden durch das gemeinsame Ziel: ihr Vater muss aus den Klauen der Glücksritterin gerettet werden! Doch auch der alte Mann arbeitet zielstrebig an der Erfüllung seiner Träume. Unter anderem schreibt er an einer 'Geschichte des Traktors auf Ukrainisch', die nicht weniger als die Geschichte der industrialisierten Welt behandelt ...
Doch etwas Gutes hat die Angelegenheit: Nadia und ihre Schwester Vera sprechen seit Jahren das erste Mal wieder miteinander, verbunden durch das gemeinsame Ziel: ihr Vater muss aus den Klauen der Glücksritterin gerettet werden! Doch auch der alte Mann arbeitet zielstrebig an der Erfüllung seiner Träume. Unter anderem schreibt er an einer 'Geschichte des Traktors auf Ukrainisch', die nicht weniger als die Geschichte der industrialisierten Welt behandelt ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Paradieschen von unten betrachtet
Traktoren-Spotting: Die spätberufene Schriftstellerin Marina Lewycka legt einen überraschenden Einwandererroman vor / Von Tobias Döring
Auch dies ist ein Roman vom Zwiebelhäuten, eine zögernde, teilweise ungewollte und doch mit störrischer Beharrlichkeit vorangetriebene Erkundung der schmerzvollen Vergangenheit von Weltkrieg und Vertreibung, ein Roman über sehr ernste Angelegenheiten also, dazu aber - und dies ist das wahrhaft Wunderbare an diesem erstaunlichen Buch - von kalkulierter Komik und durchtriebener Ironie. Es ist das literarische Debüt einer neunundfünfzigjährigen Hochschullehrerin aus der mittelenglischen Provinz, die in den letzten Jahren Kurse in "Creative Writing" absolviert hat und hier eine derart frische und zupackende, dabei stets lakonisch lockere Erzählprosa vorlegt, daß viele hoffnungsvolle Jungtalente dagegen alt aussehen. Ohne Talkshow-Auftritte oder Enthüllungsstories eroberte Marina Lewyckas "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch" letztes Jahr die britischen Bestsellerlisten und wurde in 26 Länder verkauft. Der Erfolg ist hoch verdient. Bald wird so die halbe Welt umfassender, als je geahnt, über die industrielle Entwicklung der Agrikulturtechnik in Osteuropa informiert sein.
Jawohl, dieses Buch enthält tatsächlich viel von dem, was sein skurriler Titel androht. Die Hauptfigur, ein greiser Flugzeugingenieur aus Kiew, der in jungen Jahren vom stalinistischen Regime in die Traktorenproduktion an den Ural abkommandiert wurde, will auf seine alten Tage das gesammelte Weltwissen zu Papier bringen und unterhält daher die Familie gern bei festlichen Gelegenheiten mit Lesungen aus seinem Manuskript. Der Roman gibt einige dieser - offenbar gründlich recherchierten - Technikkapitel in voller Länge wieder, und wer sie unvoreingenommen liest, wird zugeben, daß sich die Weltgeschichte aus Traktorenperspektive wirklich interessant und neu erschließt. Nach ebendem Prinzip verfährt der Roman selbst: Es wählt einen denkbar abseitigen Standpunkt und nimmt von dort die großen Erschütterungen des zwanzigsten Jahrhunderts erneut in den Blick. Und so sehen wir hier mit Erstaunen, wie treffend und zugleich berührend eine bittere ukrainisch-englische Familiengeschichte von Unterdrückung und Überleben, die sich über vier Generationen erstreckt, in der Dramaturgie einer Fernseh-Sitcom erzählt werden kann.
Alles beginnt mit einem Anruf. Der alte Vater, vierundachtzigjährig und seit zwei Jahren verwitwet, eröffnet der Familie telefonisch, daß er neue Heiratspläne hegt. Seine Auserwählte namens Valentina ist, wie er seiner Tochter darlegt, sechsunddreißig, blond, mit Botticelli-Figur und Körbchengröße D, derzeit aus Kiew mit einem Touristenvisum zu Besuch, im Heiratsfall jedoch zu dauerhaftem Aufenthalt in England fähig. Erst pädagogisch-vorsichtige, dann völlig unverblümte Hinweise der konsternierten Tochter, bei dieser Dame handele es sich offensichtlich doch um eine dreiste Eheschwindlerin auf der Suche nach Legalisierung, fegt er vom Tisch. Nur zarte Gefühle und reinste Absichten seien es, was die Liebenden verbinde und was im übrigen auch ihn zu neuer Schaffenskraft beflügelt. Nicht allein seine Geschichte des Traktors macht große Fortschritte, auch die Lyrikproduktion, die er seit Jugendtagen pflegt, floriert. Während er früher zur Einweihung von Wasserkraftwerken Elogen schrieb, handeln seine neuesten Texte jetzt von honigblondem Haar und pfirsichrunden Brüsten und sind Valentina zugeeignet.
Für derlei pubertären Kitsch hat seine Tochter nur Verachtung übrig. Erst recht, als sie die Angebetete zum erstem Mal erblickt - eine üppige Konsumbraut mit Pelzmantel, grünen Satin-Dessous, Goldgräbernase und unverbesserlichem Hang zu neureichen Statussymbolen -, ist ihr sofort klar, daß sie alles daransetzen wird, eine dauerhafte Bindung des törichten Alten, die obendrein Mutters karge Erbschaft verschlingt, zu verhindern. Dazu ergreift sie eine Reihe drakonischer Maßnahmen, schreibt anonyme Briefe an die Ausländerbehörde und entdeckt auf diese Weise überrascht, wie leicht sie ihr linksliberales Gewissen, das sonst für arme Einwanderer schlägt, zur Verteidigung des eigenen Besitzstands übergeht. Im Zuge dieser Kampagne kommt es mehrfach zu dramatischen und komisch zugespitzten Höhepunkten, vor allem bei gemeinsamen Mahlzeiten am Familientisch, deren Irrsinn ein Ang-Lee-Film nicht besser hätte inszenieren können.
Die eigentlich entscheidenden Entdeckungen aber macht die Tochter und Erzählerin im engsten Familienkreis. Denn hier hat Valentinas Eintreffen Geister aus einer lange beschwiegenen Vergangenheit unerwartet aufgestört: die ukrainische Herkunft der Eltern, ihr Schicksal unter Stalin, im Krieg und im deutschen Arbeitslager. Lange Jahre war die Erzählerin beispielsweise mit ihrer zehn Jahre älteren Schwester strikt verfeindet. "Der Feminismus hat mir beigebracht", wie sie in einem schönen Aperçu bekennt, "alle Frauen als Schwestern zu sehen - das heißt, alle Frauen mit Ausnahme meiner Schwester." Jetzt aber, da sie sich beide gegen Vaters Eskapaden wehren müssen, rücken sie zusammen und stellen bei dieser Gelegenheit erstmals fest, was sie historisch trennt - die ältere ein Kriegskind, die jüngere ein Friedenskind - und was sie innerlich gleichwohl verbindet.
Mit den fortschreitenden Verwicklungen der Heiratsaffäre und den immer aberwitzigeren Drehungen, die ihr Scheitern schließlich nimmt, dringt die Geschichte daher immer tiefer in verborgene Schichten des Familienlebens vor und legt Geheimnisse frei, die im sorgsam gehüteten Provinzalltag eines Immigrantenlebens nie zur Sprache kommen durften. So wechselt auch der Roman ständig die Register und schlägt von slapstickhafter Komik in wirklich anrührende Szenen und Erinnerungen um, deren Sentimentalität wiederum durch Ironie im Zaum gehalten wird. "Ursprünglich hatte ich gedacht, diese Geschichte sei eine Farce, doch inzwischen begreife ich, daß sie sich mehr und mehr zu einer Tragödie hin entwickelt", heißt es an einer Stelle (im englischen Text noch plastischer mit "knockabout farce" und "knockabout tragedy" beschrieben), die zugleich die unvermutete Entwicklung dieser Traktorengeschichte charakterisiert. Vor allem läßt Lewycka sämtlichen Figuren bei allem Hang zum Karikieren doch ihre Würde, sogar der reichlich drastisch dargestellten Valentina und ihren unseligen Liebhabern, so daß sie für uns glaubwürdig erscheinen. Damit aber gelingt eine erstaunliche Balance zwischen Distanz und Nähe - vielleicht das Schwierigste bei einem Thema, das so günstiges Pointenfutter bietet.
Vor genau fünfzig Jahren schuf der Trinidader Samuel Selvon mit "The Lonely Londoners" Englands ersten großen Einwandererroman, zugleich ein zutiefst komisches Epos von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens. In jüngerer Zeit hat sich daraus bis hin zu Zadie Smith und Monica Ali ein bunter Reigen aus allerlei Erfolgsromanen entwickelt, die das fehlende Einverständnis mit dem Mainstream der Gesellschaft für Zwecke von Kritik und Unterhaltung nutzen. Mit Marina Lewycka, selbst Tochter ukrainischer Einwanderer, die übrigens in einem deutschen Flüchtlingslager zur Welt kam, gewinnt diese Tradition nun einen neuen Höhepunkt und nimmt eine interessante Wende. Nicht nur, daß mit der ukrainischen Erfahrung - ähnlich wie in Jonathan Safran Foers "Alles ist erleuchtet" - eine bislang unbeachtete Geschichte in den Blick kommt; alte und junge Generation, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, Überlegenssorgen und Konsumstreben, eiserner Anpassungswille und dreiste Überbietungsgesten stehen einander gegenüber und nötigen auch die zu einer neuen Positionsbestimmung, die sich im Mainstream bestens eingerichtet glaubten.
Das Traktoren-Spotting also lohnt - auch und erst recht für Leser ohne technisches Interesse. "Denn obwohl der Traktor ursprünglich die Menschen von der eigenhändigen Plackerei in der Erde befreien sollte", wie es an einer Stelle heißt, "hat er uns auch durch Leichtsinn und falschen und übertriebenen Einsatz schon des öfteren an den Rand des Ruins gebracht." Diese warnenden Worte zeigen, wie hier die späte Leidenschaft des alten Mannes keine Angstblüten hervortreibt, sondern guten Boden für ertragreiche Erkenntnis schafft. Wie ein richtig eingesetzter Traktor eben.
Marina Lewycka: "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Elfi Hartenstein. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006. 359 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Traktoren-Spotting: Die spätberufene Schriftstellerin Marina Lewycka legt einen überraschenden Einwandererroman vor / Von Tobias Döring
Auch dies ist ein Roman vom Zwiebelhäuten, eine zögernde, teilweise ungewollte und doch mit störrischer Beharrlichkeit vorangetriebene Erkundung der schmerzvollen Vergangenheit von Weltkrieg und Vertreibung, ein Roman über sehr ernste Angelegenheiten also, dazu aber - und dies ist das wahrhaft Wunderbare an diesem erstaunlichen Buch - von kalkulierter Komik und durchtriebener Ironie. Es ist das literarische Debüt einer neunundfünfzigjährigen Hochschullehrerin aus der mittelenglischen Provinz, die in den letzten Jahren Kurse in "Creative Writing" absolviert hat und hier eine derart frische und zupackende, dabei stets lakonisch lockere Erzählprosa vorlegt, daß viele hoffnungsvolle Jungtalente dagegen alt aussehen. Ohne Talkshow-Auftritte oder Enthüllungsstories eroberte Marina Lewyckas "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch" letztes Jahr die britischen Bestsellerlisten und wurde in 26 Länder verkauft. Der Erfolg ist hoch verdient. Bald wird so die halbe Welt umfassender, als je geahnt, über die industrielle Entwicklung der Agrikulturtechnik in Osteuropa informiert sein.
Jawohl, dieses Buch enthält tatsächlich viel von dem, was sein skurriler Titel androht. Die Hauptfigur, ein greiser Flugzeugingenieur aus Kiew, der in jungen Jahren vom stalinistischen Regime in die Traktorenproduktion an den Ural abkommandiert wurde, will auf seine alten Tage das gesammelte Weltwissen zu Papier bringen und unterhält daher die Familie gern bei festlichen Gelegenheiten mit Lesungen aus seinem Manuskript. Der Roman gibt einige dieser - offenbar gründlich recherchierten - Technikkapitel in voller Länge wieder, und wer sie unvoreingenommen liest, wird zugeben, daß sich die Weltgeschichte aus Traktorenperspektive wirklich interessant und neu erschließt. Nach ebendem Prinzip verfährt der Roman selbst: Es wählt einen denkbar abseitigen Standpunkt und nimmt von dort die großen Erschütterungen des zwanzigsten Jahrhunderts erneut in den Blick. Und so sehen wir hier mit Erstaunen, wie treffend und zugleich berührend eine bittere ukrainisch-englische Familiengeschichte von Unterdrückung und Überleben, die sich über vier Generationen erstreckt, in der Dramaturgie einer Fernseh-Sitcom erzählt werden kann.
Alles beginnt mit einem Anruf. Der alte Vater, vierundachtzigjährig und seit zwei Jahren verwitwet, eröffnet der Familie telefonisch, daß er neue Heiratspläne hegt. Seine Auserwählte namens Valentina ist, wie er seiner Tochter darlegt, sechsunddreißig, blond, mit Botticelli-Figur und Körbchengröße D, derzeit aus Kiew mit einem Touristenvisum zu Besuch, im Heiratsfall jedoch zu dauerhaftem Aufenthalt in England fähig. Erst pädagogisch-vorsichtige, dann völlig unverblümte Hinweise der konsternierten Tochter, bei dieser Dame handele es sich offensichtlich doch um eine dreiste Eheschwindlerin auf der Suche nach Legalisierung, fegt er vom Tisch. Nur zarte Gefühle und reinste Absichten seien es, was die Liebenden verbinde und was im übrigen auch ihn zu neuer Schaffenskraft beflügelt. Nicht allein seine Geschichte des Traktors macht große Fortschritte, auch die Lyrikproduktion, die er seit Jugendtagen pflegt, floriert. Während er früher zur Einweihung von Wasserkraftwerken Elogen schrieb, handeln seine neuesten Texte jetzt von honigblondem Haar und pfirsichrunden Brüsten und sind Valentina zugeeignet.
Für derlei pubertären Kitsch hat seine Tochter nur Verachtung übrig. Erst recht, als sie die Angebetete zum erstem Mal erblickt - eine üppige Konsumbraut mit Pelzmantel, grünen Satin-Dessous, Goldgräbernase und unverbesserlichem Hang zu neureichen Statussymbolen -, ist ihr sofort klar, daß sie alles daransetzen wird, eine dauerhafte Bindung des törichten Alten, die obendrein Mutters karge Erbschaft verschlingt, zu verhindern. Dazu ergreift sie eine Reihe drakonischer Maßnahmen, schreibt anonyme Briefe an die Ausländerbehörde und entdeckt auf diese Weise überrascht, wie leicht sie ihr linksliberales Gewissen, das sonst für arme Einwanderer schlägt, zur Verteidigung des eigenen Besitzstands übergeht. Im Zuge dieser Kampagne kommt es mehrfach zu dramatischen und komisch zugespitzten Höhepunkten, vor allem bei gemeinsamen Mahlzeiten am Familientisch, deren Irrsinn ein Ang-Lee-Film nicht besser hätte inszenieren können.
Die eigentlich entscheidenden Entdeckungen aber macht die Tochter und Erzählerin im engsten Familienkreis. Denn hier hat Valentinas Eintreffen Geister aus einer lange beschwiegenen Vergangenheit unerwartet aufgestört: die ukrainische Herkunft der Eltern, ihr Schicksal unter Stalin, im Krieg und im deutschen Arbeitslager. Lange Jahre war die Erzählerin beispielsweise mit ihrer zehn Jahre älteren Schwester strikt verfeindet. "Der Feminismus hat mir beigebracht", wie sie in einem schönen Aperçu bekennt, "alle Frauen als Schwestern zu sehen - das heißt, alle Frauen mit Ausnahme meiner Schwester." Jetzt aber, da sie sich beide gegen Vaters Eskapaden wehren müssen, rücken sie zusammen und stellen bei dieser Gelegenheit erstmals fest, was sie historisch trennt - die ältere ein Kriegskind, die jüngere ein Friedenskind - und was sie innerlich gleichwohl verbindet.
Mit den fortschreitenden Verwicklungen der Heiratsaffäre und den immer aberwitzigeren Drehungen, die ihr Scheitern schließlich nimmt, dringt die Geschichte daher immer tiefer in verborgene Schichten des Familienlebens vor und legt Geheimnisse frei, die im sorgsam gehüteten Provinzalltag eines Immigrantenlebens nie zur Sprache kommen durften. So wechselt auch der Roman ständig die Register und schlägt von slapstickhafter Komik in wirklich anrührende Szenen und Erinnerungen um, deren Sentimentalität wiederum durch Ironie im Zaum gehalten wird. "Ursprünglich hatte ich gedacht, diese Geschichte sei eine Farce, doch inzwischen begreife ich, daß sie sich mehr und mehr zu einer Tragödie hin entwickelt", heißt es an einer Stelle (im englischen Text noch plastischer mit "knockabout farce" und "knockabout tragedy" beschrieben), die zugleich die unvermutete Entwicklung dieser Traktorengeschichte charakterisiert. Vor allem läßt Lewycka sämtlichen Figuren bei allem Hang zum Karikieren doch ihre Würde, sogar der reichlich drastisch dargestellten Valentina und ihren unseligen Liebhabern, so daß sie für uns glaubwürdig erscheinen. Damit aber gelingt eine erstaunliche Balance zwischen Distanz und Nähe - vielleicht das Schwierigste bei einem Thema, das so günstiges Pointenfutter bietet.
Vor genau fünfzig Jahren schuf der Trinidader Samuel Selvon mit "The Lonely Londoners" Englands ersten großen Einwandererroman, zugleich ein zutiefst komisches Epos von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens. In jüngerer Zeit hat sich daraus bis hin zu Zadie Smith und Monica Ali ein bunter Reigen aus allerlei Erfolgsromanen entwickelt, die das fehlende Einverständnis mit dem Mainstream der Gesellschaft für Zwecke von Kritik und Unterhaltung nutzen. Mit Marina Lewycka, selbst Tochter ukrainischer Einwanderer, die übrigens in einem deutschen Flüchtlingslager zur Welt kam, gewinnt diese Tradition nun einen neuen Höhepunkt und nimmt eine interessante Wende. Nicht nur, daß mit der ukrainischen Erfahrung - ähnlich wie in Jonathan Safran Foers "Alles ist erleuchtet" - eine bislang unbeachtete Geschichte in den Blick kommt; alte und junge Generation, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, Überlegenssorgen und Konsumstreben, eiserner Anpassungswille und dreiste Überbietungsgesten stehen einander gegenüber und nötigen auch die zu einer neuen Positionsbestimmung, die sich im Mainstream bestens eingerichtet glaubten.
Das Traktoren-Spotting also lohnt - auch und erst recht für Leser ohne technisches Interesse. "Denn obwohl der Traktor ursprünglich die Menschen von der eigenhändigen Plackerei in der Erde befreien sollte", wie es an einer Stelle heißt, "hat er uns auch durch Leichtsinn und falschen und übertriebenen Einsatz schon des öfteren an den Rand des Ruins gebracht." Diese warnenden Worte zeigen, wie hier die späte Leidenschaft des alten Mannes keine Angstblüten hervortreibt, sondern guten Boden für ertragreiche Erkenntnis schafft. Wie ein richtig eingesetzter Traktor eben.
Marina Lewycka: "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Elfi Hartenstein. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006. 359 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2006Eine flauschige rosa Granate
Marina Lewyckas knalliger Roman „Die Geschichte des Traktors auf Ukrainisch”
Die Braut heißt Valentina. Sie ist die „den Fluten entsteigende Venus von Botticelli. Du weißt schon: goldenes Haar, wunderschöne Augen, phantastischer Busen. Wenn du sie siehst, verstehst du, was ich meine”. Valentina trägt gern ultrakurze Röcke und wurstpellenenge Pullover. Sie stammt aus der Ukraine und ist 36 Jahre alt.
Der Bräutigam heißt Nikolai. Er hat eine wulstige Narbe am Hals, weil er sich mal die Kehle aufgeschlitzt hat. Nikolai isst gern geschnitzelte Äpfel, die er in einer Mikrowelle Marke Toshiba brät („Toshiba-Äpfel”). Er ist stur und oberschlau, außerdem hat er „Probleme mit Nerven. Probleme mit Baden. Probleme mit Pipi”, wieValentina später sagt, aber da läuft schon die Scheidung. Nikolai stammt auch aus der Ukraine, lebt aber schon lange in England. Er liebt Traktoren. Er ist 84 Jahre alt.
Du lebendig Toter!
Valentina heiratet Nikolai, um in England zu bleiben und ihren Sohn auf eine Privatschule zu schicken. Nikolai heiratet Valentina, weil er sich zwischen ihren Botticelli-Brüsten wieder jung fühlt. Nikolais Töchter, Nadeschda und Vera, ahnen eine Katastrophe. Sie haben recht.
Die Ausgangslage von Marina Lewyckas Roman „Kurze Geschichte des Traktor auf Ukrainisch” klingt nach einer riskanten Laborsituation: raffiniert konstruiert, aber hochexplosiv. Doch aus der trash-affinen Grundsituation entwickelt Lewycka eine bewegende Familiengeschichte und einen witzigen Zickenkrieg, einen klugen Kommentar über die Grenzen der Integrationsbereitschaft und sogar einen Abriss der ukrainischen Geschichte. Letzterer verbirgt sich in jener Traktor-Chronik, die Nikolai allen Stürmenzum Trotz niederkritzelt. Seite um Seite füllt er mit liebevollen Betrachtungen über Halbkettenantriebe, Zwillingsräder und hydraulischeGelenkverbindungen, aber auch über die Millionen Toten der Kollektivierung,über Krieg und Terror und andere Tragödien der ukrainischen Geschichte, deren Traumata Nikolais Familie nach England eingeschleppt hat wie eine hartnäckige Tropenkrankheit. Und Valentina bringt das Fieber zum Ausbruch.
Denn natürlich entpuppt sie sich als genau jene ordinäre, sinnliche, raffgierige Ost-Schlampe, die alle gefürchtet haben. Sie fordert Geld für grüne Lycra-BHs und immer größere Autos, und wenn der tattrige Ehemann keines auftreiben kann, beschimpft sie ihn: „Du lebendig Toter. Du von Friedhof entflohen.” Angesichts dieser Gegnerin, die über ihre Familie hereingebrochen ist wie eine Naturgewalt, oder, wie es Nadeschda ausdrückt, „wie eine flauschige rosa Granate”, schließen sich die beiden Schwestern – seit Jahren bis aufs Blut verfeindet – widerstrebend zusammen. Valentina lässt keinen Stein aufdem anderen, nicht mal von jenen Mauern, hinter denen sich die beiden verschanzthaben.
Marina Lewycka ist, wie ihre Erzählerin Nadeschda, ein Kind ukrainischerEmigranten. Sie hat mit diesem Roman ihr Debüt vorgelegt und wurde in Großbritannien begeistert gefeiert. Und in der Tat balanciert sie die Handlung leichthändig zwischen Slapstick und Tragödie, und bringt die betonierten Gewissheiten sozialer Milieus und politischer Haltungen so beiläufig zum Einsturz, dass sich der Leser, wie bei der zersägten Jungfrau, fragt: Was war das wieder für ein Trick?
Nehmen wir Nadeschda, Nikolais jüngere Tochter, eine Soziologie-Professorin Ende 40, die sich in schwarzen Oxfam-Plunder kleidet. Nadeschda ist tolerant, feministisch, sie war sogar mal marxistisch. Dann kam Valentina. „Bislang stand ich allem, was mit Immigration zu tun hatte, liberal gegenüber”, schreibt Nadeschda: „Ich fand, jeder Mensch sollte sich selbst aussuchen können, wo er leben will. Doch jetzt stelle ich mir Horden von Valentinas vor, die in Ramsgate, Felixstowe, Dover und Newhaven an Land gehen, die Zoll- und Passkontrollen überrennen, zielstrebig, unaufhaltsam, wahnsinnig.” Dass Nadeschdas Vater der flauschigen rosa Granate verfällt und Nadeschdas Mann dafür sogar Verständnis aufbringt, ist angesichts jahrzehntelanger feministischer Erziehungsbemühungen in der eigenen Familieniederschmetternd; dass Valentina sie als „Flachbrust-Luder” schmäht, unverzeihlich. Weibliche Solidarität? Wurde immer schon überschätzt.
Fahrlässige Illusionen
Das Schöne aber ist, dass niemand in diesem Buch eine ganz weiße Weste hat – und niemand eine ganz schwarze. Die Killer-Granate, die den liebeskranken Traktor-Freund aussaugt, bis er nur noch Haut und Knochen ist, folgt demselben Überlebensinstinkt, der einst Nikolai antrieb. Und Nadeschda erkauft sich ihr Gutmenschentum durch eine Naivität, die ihre Schwester Vera zur Raserei bringt. Vera, die elegante, aber brettharte Schwester, hat als Kind ein Nazi-Lager überlebt. Seitdem betrachtet sie jede Illusion über die Abgründe der menschlichen Natur als sentimentale Fahrlässigkeit. „Wieso weißt du eigentlich immer solche Sachen, Vera?”, fragt Nadeschda. „Wieso weißt du sie nicht, Nadia?”
Und so ist dieses sympathische, hochunterhaltsame Buch ein sanftes Plädoyer für größere Nachsicht mit familiär bedingten Kriegsschäden und vererbte Verhaltensauffälligkeiten. Sehr frei nach Tolstoi könnte man sagen: Alle unglücklichen Familien haben ihren eigenen Dachschaden. Alle glücklichen Familien haben gelernt, ihn nicht zu ernst zu nehmen.
SONJA ZEKRI
MARINA LEWYCKA: Die Geschichte des Traktors auf Ukrainisch. Deutsch von Elfi Hartenstein. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006. 360 Seiten, 14 Euro.
Ukrainischer Zickenkrieg zwischen ordinärer Ost-Schlampe und etabliertem Flachbrust-Luder
Foto: plainpicture
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Marina Lewyckas knalliger Roman „Die Geschichte des Traktors auf Ukrainisch”
Die Braut heißt Valentina. Sie ist die „den Fluten entsteigende Venus von Botticelli. Du weißt schon: goldenes Haar, wunderschöne Augen, phantastischer Busen. Wenn du sie siehst, verstehst du, was ich meine”. Valentina trägt gern ultrakurze Röcke und wurstpellenenge Pullover. Sie stammt aus der Ukraine und ist 36 Jahre alt.
Der Bräutigam heißt Nikolai. Er hat eine wulstige Narbe am Hals, weil er sich mal die Kehle aufgeschlitzt hat. Nikolai isst gern geschnitzelte Äpfel, die er in einer Mikrowelle Marke Toshiba brät („Toshiba-Äpfel”). Er ist stur und oberschlau, außerdem hat er „Probleme mit Nerven. Probleme mit Baden. Probleme mit Pipi”, wieValentina später sagt, aber da läuft schon die Scheidung. Nikolai stammt auch aus der Ukraine, lebt aber schon lange in England. Er liebt Traktoren. Er ist 84 Jahre alt.
Du lebendig Toter!
Valentina heiratet Nikolai, um in England zu bleiben und ihren Sohn auf eine Privatschule zu schicken. Nikolai heiratet Valentina, weil er sich zwischen ihren Botticelli-Brüsten wieder jung fühlt. Nikolais Töchter, Nadeschda und Vera, ahnen eine Katastrophe. Sie haben recht.
Die Ausgangslage von Marina Lewyckas Roman „Kurze Geschichte des Traktor auf Ukrainisch” klingt nach einer riskanten Laborsituation: raffiniert konstruiert, aber hochexplosiv. Doch aus der trash-affinen Grundsituation entwickelt Lewycka eine bewegende Familiengeschichte und einen witzigen Zickenkrieg, einen klugen Kommentar über die Grenzen der Integrationsbereitschaft und sogar einen Abriss der ukrainischen Geschichte. Letzterer verbirgt sich in jener Traktor-Chronik, die Nikolai allen Stürmenzum Trotz niederkritzelt. Seite um Seite füllt er mit liebevollen Betrachtungen über Halbkettenantriebe, Zwillingsräder und hydraulischeGelenkverbindungen, aber auch über die Millionen Toten der Kollektivierung,über Krieg und Terror und andere Tragödien der ukrainischen Geschichte, deren Traumata Nikolais Familie nach England eingeschleppt hat wie eine hartnäckige Tropenkrankheit. Und Valentina bringt das Fieber zum Ausbruch.
Denn natürlich entpuppt sie sich als genau jene ordinäre, sinnliche, raffgierige Ost-Schlampe, die alle gefürchtet haben. Sie fordert Geld für grüne Lycra-BHs und immer größere Autos, und wenn der tattrige Ehemann keines auftreiben kann, beschimpft sie ihn: „Du lebendig Toter. Du von Friedhof entflohen.” Angesichts dieser Gegnerin, die über ihre Familie hereingebrochen ist wie eine Naturgewalt, oder, wie es Nadeschda ausdrückt, „wie eine flauschige rosa Granate”, schließen sich die beiden Schwestern – seit Jahren bis aufs Blut verfeindet – widerstrebend zusammen. Valentina lässt keinen Stein aufdem anderen, nicht mal von jenen Mauern, hinter denen sich die beiden verschanzthaben.
Marina Lewycka ist, wie ihre Erzählerin Nadeschda, ein Kind ukrainischerEmigranten. Sie hat mit diesem Roman ihr Debüt vorgelegt und wurde in Großbritannien begeistert gefeiert. Und in der Tat balanciert sie die Handlung leichthändig zwischen Slapstick und Tragödie, und bringt die betonierten Gewissheiten sozialer Milieus und politischer Haltungen so beiläufig zum Einsturz, dass sich der Leser, wie bei der zersägten Jungfrau, fragt: Was war das wieder für ein Trick?
Nehmen wir Nadeschda, Nikolais jüngere Tochter, eine Soziologie-Professorin Ende 40, die sich in schwarzen Oxfam-Plunder kleidet. Nadeschda ist tolerant, feministisch, sie war sogar mal marxistisch. Dann kam Valentina. „Bislang stand ich allem, was mit Immigration zu tun hatte, liberal gegenüber”, schreibt Nadeschda: „Ich fand, jeder Mensch sollte sich selbst aussuchen können, wo er leben will. Doch jetzt stelle ich mir Horden von Valentinas vor, die in Ramsgate, Felixstowe, Dover und Newhaven an Land gehen, die Zoll- und Passkontrollen überrennen, zielstrebig, unaufhaltsam, wahnsinnig.” Dass Nadeschdas Vater der flauschigen rosa Granate verfällt und Nadeschdas Mann dafür sogar Verständnis aufbringt, ist angesichts jahrzehntelanger feministischer Erziehungsbemühungen in der eigenen Familieniederschmetternd; dass Valentina sie als „Flachbrust-Luder” schmäht, unverzeihlich. Weibliche Solidarität? Wurde immer schon überschätzt.
Fahrlässige Illusionen
Das Schöne aber ist, dass niemand in diesem Buch eine ganz weiße Weste hat – und niemand eine ganz schwarze. Die Killer-Granate, die den liebeskranken Traktor-Freund aussaugt, bis er nur noch Haut und Knochen ist, folgt demselben Überlebensinstinkt, der einst Nikolai antrieb. Und Nadeschda erkauft sich ihr Gutmenschentum durch eine Naivität, die ihre Schwester Vera zur Raserei bringt. Vera, die elegante, aber brettharte Schwester, hat als Kind ein Nazi-Lager überlebt. Seitdem betrachtet sie jede Illusion über die Abgründe der menschlichen Natur als sentimentale Fahrlässigkeit. „Wieso weißt du eigentlich immer solche Sachen, Vera?”, fragt Nadeschda. „Wieso weißt du sie nicht, Nadia?”
Und so ist dieses sympathische, hochunterhaltsame Buch ein sanftes Plädoyer für größere Nachsicht mit familiär bedingten Kriegsschäden und vererbte Verhaltensauffälligkeiten. Sehr frei nach Tolstoi könnte man sagen: Alle unglücklichen Familien haben ihren eigenen Dachschaden. Alle glücklichen Familien haben gelernt, ihn nicht zu ernst zu nehmen.
SONJA ZEKRI
MARINA LEWYCKA: Die Geschichte des Traktors auf Ukrainisch. Deutsch von Elfi Hartenstein. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006. 360 Seiten, 14 Euro.
Ukrainischer Zickenkrieg zwischen ordinärer Ost-Schlampe und etabliertem Flachbrust-Luder
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Durchweg amüsiert hat sich Karl-Markus Gauß bei der Lektüre Marina Lewyckas britisch-ukrainischer Lovestory zwischen einem busengeilen englischen Witwer und einem osteuropäischen Flittchen. Dabei verstehe die Autorin es, mit einer breiten Palette an verschrobenen Charakteren, absurder Situationskomik und schnellem Erzähltempo beinahe jeden Lesergeschmack zu bedienen, was bei Gauß schon Vorfreude auf eine mögliche Verfilmung weckt. In ihrer Schilderung der späten Romanze des "Traktor-und-Titten-Liebhabers" benutze Lewycka unerschrocken Klischees über Ukrainer wie Briten, die sie aber trickreich entlarve, ohne sie zur Gänze in Frage zu stellen - zumal sie selbst eine in Sheffield lebende Tochter ukrainischer Emigranten ist, so der Rezensent. Diese ihre eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Katastrophen, die das letzte Jahrhundert über die Ukraine gebracht hat, scheint dem Rezensenten dann auch die eigentliche Kerngeschichte des Romans zu sein, die er allerdings so schwach findet, dass sie hinter der überaus gelungenen Gesellschaftssatire verschwinde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein sanftes Plädoyer für größere Nachsicht mit familiär bedingten Kriegsschäden und vererbten Verhaltensauffälligkeiten."
Süddeutsche Zeitung
Süddeutsche Zeitung