Die Enzyklopädie der Wissenschaften des 18. JahrhundertsDer vorliegende erste Band der Gesammelten Schriften Johann Georg Sulzers präsentiert die erste (1747) und zweite (1759) Auflage von Johann Georg Sulzers Kurzem Begriff aller Wissenschaften. Die Edition der beiden Auflagen in einem Band mit ausführlicher Kommentierung bietet im leichten Vergleich Einsicht in das Wissens- und Wissenschaftsverständnis jener Zeit und in grundlegende Veränderungen um die Jahrhundertmitte durch eine Umorientierung hinsichtlich der Annahmen über die Grundlagen menschlicher Erkenntnis und Erfahrung. Sulzer registriert seismographisch die Bedeutung derjenigen Bereiche menschlicher Erkenntnis, die sich den rationalen Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit entziehen. Er entwickelt - bei aller Zurückhaltung und Vorsicht gegenüber dem Status quo der Wissenschaften - eine Idee von Wissenschaft, die er mit vielen anderen seiner Zeit teilt, die aber nicht die ihr zustehende Aufmerksamkeit in der Rezeptiondes 18. Jahrhunderts und der Aufklärung gefunden hat. Die Lektüre von Sulzers Schriften macht klar, dass der Vielfalt der aufklärerischen Ideen intensiver und extensiver Rechnung getragen werden muss, wenn denn 'Aufklärung' als Aufklärung über den Menschen in der vollen Gewichtung eines menschlichen Vernunftbegriffs Rechnung getragen werden soll. Sulzers Schriften sind insgesamt ein 'leiser' aber wichtiger Beitrag dazu.Zur AusgabeDie Ausgabe der Gesammelten Schriften Johann Georg Sulzers hat den Zweck, dem Autor in der gegenwärtigen und zukünftigen Diskussion zum 18. Jahrhundert und zur Aufklärung den ihm angemessenen Platz einzuräumen. Die Herausgeber gehen davon aus, dass die Perspektive, aus der Sulzer bisher mehrheitlich wahrgenommen wurde, es nicht gestattete, seiner Rolle als Aufklärer, der die Grenzen der Aufklärung als Bedingungen der Kultur und der Wissenschaften seiner Zeit reflektierte, gerecht zu werden. Zu diesem Zweck werden hier Sulzers Schriften philologisch zuverlässig präsentiert, um sie durch detaillierte Kommentierung und Kontextualisierung in ihrem historisch-systematischen Profil sichtbar werden zu lassen. In ihrer Gesamtheit sollen die hier vorgelegten Schriften es ermöglichen, die Entwicklung von Sulzers Denken im Spannungsfeld von Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Erkenntnistheorie, Psychologie, Ästhetik, Philosophie und Pädagogik zu rekonstruieren. Sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer Rezeptionsgeschichte sind Sulzers Schriften ein wichtiger Beitrag zum besseren Verständnis der Aufklärung in Deutschland, der Schweiz und Frankreich - und damit zum europäischen intellektuellen Dialog im 18. Jahrhundert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2014Sulzer sei Ihre Bibel!
Eine Werkausgabe des Kunsttheoretikers ist ein Geschenk für alle Artisten
Amerikanische Colleges für "Liberal Arts" oder "Arts and Sciences" basieren ursprünglich auf einer uralten europäischen Einteilung des Wissens. Seit dem Mittelalter bedient die untere oder philosophische Fakultät alle Fächer außer Theologie, Medizin und Jurisprudenz, im Kern also die Artes liberales. Doch das breite, auf die oberen Fakultäten vorbereitende Curriculum geht über die Sprachkünste Grammatik, Rhetorik und Dialektik sowie die mathematischen Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik bald hinaus. Es erweitert sich etwa mit den Humaniora um Geschichte und Moral oder gliedert sich in der praktischen Philosophie in Physik, Politik und Ökonomie. Auf dem Kupferstich von Jan Collaert aus dem späten sechzehnten Jahrhundert sind solche neuen Mischungsverhältnisse gut zu erkennen: Allegorien der sieben freien Künste - mit Astrologie statt Astronomie - umgeben das Mittelbild, das neben Malerei und Bildhauerei auch Artes mechanicae wie Architektur, Landbau oder Heilkunst zeigt.
Dieses große System des Wissens entwickelt der Schweizer Philosoph Johann Georg Sulzer in Form eines handlichen Kompendiums. Als "Kurzer Begriff aller Wissenschaften" erscheint es in kurzer Zeit gleich zweimal: 1745, noch als Hofmeister in Magdeburg, fasst Sulzer die Gelehrtheit als "Zusammenbegriff alles desjenigen, was die Menschen wissen können", auf weniger als hundert Seiten. Die "sehr vermehrte Auflage" beansprucht 1759 mehr als den doppelten Umfang. Sulzer ist inzwischen in die Berliner Aufklärung eingetreten, hat es zum Mathematikprofessor am Joachimsthalschen Gymnasium und zur Aufnahme in die Königliche Akademie der Wissenschaften gebracht. Nicht nur das Wissen ist in den dazwischenliegenden vierzehn Jahren stark angewachsen, auch die Systematik der Disziplinen hat sich deutlich verfeinert.
Die Ausdifferenzierung dieses Lehrgebäudes, das Sulzers Metaphorik zufolge einem Neubau unter Verwendung alter Abrissmaterialien gleichkommt, ist bildungsgeschichtlich ein bemerkenswerter Vorgang. Sichtbar gemacht wird er jetzt mit dem ersten Band einer Gesamtausgabe, die beide Fassungen präsentiert und mit wertvollen Kommentaren und werkbiographischen Einführungen der Herausgeber Hans Adler und Elisabeth Décultot versieht (Johann Georg Sulzer: Gesammelte Schriften, kommentierte Ausgabe, Bd. 1, Schwabe Verlag, Basel 2014). Das Grundgerüst im Geiste von Leibniz und Wolff entwickelt sich von der Dreiteilung in historisches Wissen der Dinge, philosophische Erkenntnis ihrer Wahrheiten und mathematische Einsicht in ihre quantitativen Verhältnisse zu einem neuen enzyklopädischen Kompendium: Angeführt von der Philologie, gefolgt von der Historie einschließlich Geographie, Genealogie und Kirchengeschichte, reicht es über die freien und mechanischen Künste, die reine und angewandte Mathematik inklusive Pyrowissenschaft und Zeitmessung, die allgemeine und spezielle Physik oder Naturkunde bis zur theoretischen und praktischen Philosophie, Rechtsgelehrsamkeit und Theologie.
Zu einem Ereignis wird dieses bislang wenig beachtete Werk aber nicht nur als Spiegel der um 1750 weitverbreiteten schulphilosophischen Systematik. Entscheidend sind die innovativen Impulse des Ästhetikers Sulzer, der ab 1771 mit seinem mehrfach erweiterten Lexikon "Allgemeine Theorie der Schönen Künste" für Aufsehen sorgt. "Sulzer sei Ihre Bibel!", ruft nicht nur der Bühnenstar Iffland in seinen "Briefen über die Schauspielkunst" (1781). Damit feiert er den Menschenkenner, der bereits in seinem frühen Kompendium die unteren Sinnesvermögen als die eigentliche Brutstätte des Künstlers entdeckt und noch dazu die Schauspielkunst den Artes liberales zurechnet. In der ersten Ausgabe behandelt Sulzer die Psychologie noch in einem einzigen kurzen Abschnitt, äußert aber bereits rhetorisch den Zweifel, "ob nicht noch andere bis dahin unbekannte Dinge in der Seele sind". In der Revision von 1759 entfallen dann bereits sieben Paragraphen auf "die Wissenschaft der menschlichen Seele" und die zugehörige "Experimentalphysik". Sulzer empfiehlt, "die genaueste Aufmerksamkeit auf die dunkeln Gegenden der Seele" zu richten, Fälle von "Verwirrung des Geistes" ebenso eifrig wie die "Theorie der Erziehung" zu studieren.
In den Debatten der letzten Jahre über die disziplinären Anfänge der Anthropologie zwischen 1750 und 1770 haben diese frühen Texte Sulzers kaum eine Rolle gespielt. Moses Mendelssohn erkennt aber bereits in seiner Rezension der zweiten Auflage ihre Bedeutung und nimmt damit Herders frühe Empfehlung zur "Einziehung der Philosophie auf Anthropologie" oder seine pfiffige Abwandlung von Descartes' "Cogito" in "Ich fühle mich! Ich bin!" vorweg. Nicht nur für die Erforschung der Ästhetik als Theorie der Sinnlichkeit oder des Menschen als Einheit von Leib und Seele ist Sulzers Vermessung aller Felder des Wissens von grundlegender Bedeutung. Die kommentierte Erschließung seiner gesammelten Schriften verspricht vielmehr ein großes Geschenk für alle Artistenfakultäten zu werden.
ALEXANDER KOSENINA
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Werkausgabe des Kunsttheoretikers ist ein Geschenk für alle Artisten
Amerikanische Colleges für "Liberal Arts" oder "Arts and Sciences" basieren ursprünglich auf einer uralten europäischen Einteilung des Wissens. Seit dem Mittelalter bedient die untere oder philosophische Fakultät alle Fächer außer Theologie, Medizin und Jurisprudenz, im Kern also die Artes liberales. Doch das breite, auf die oberen Fakultäten vorbereitende Curriculum geht über die Sprachkünste Grammatik, Rhetorik und Dialektik sowie die mathematischen Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik bald hinaus. Es erweitert sich etwa mit den Humaniora um Geschichte und Moral oder gliedert sich in der praktischen Philosophie in Physik, Politik und Ökonomie. Auf dem Kupferstich von Jan Collaert aus dem späten sechzehnten Jahrhundert sind solche neuen Mischungsverhältnisse gut zu erkennen: Allegorien der sieben freien Künste - mit Astrologie statt Astronomie - umgeben das Mittelbild, das neben Malerei und Bildhauerei auch Artes mechanicae wie Architektur, Landbau oder Heilkunst zeigt.
Dieses große System des Wissens entwickelt der Schweizer Philosoph Johann Georg Sulzer in Form eines handlichen Kompendiums. Als "Kurzer Begriff aller Wissenschaften" erscheint es in kurzer Zeit gleich zweimal: 1745, noch als Hofmeister in Magdeburg, fasst Sulzer die Gelehrtheit als "Zusammenbegriff alles desjenigen, was die Menschen wissen können", auf weniger als hundert Seiten. Die "sehr vermehrte Auflage" beansprucht 1759 mehr als den doppelten Umfang. Sulzer ist inzwischen in die Berliner Aufklärung eingetreten, hat es zum Mathematikprofessor am Joachimsthalschen Gymnasium und zur Aufnahme in die Königliche Akademie der Wissenschaften gebracht. Nicht nur das Wissen ist in den dazwischenliegenden vierzehn Jahren stark angewachsen, auch die Systematik der Disziplinen hat sich deutlich verfeinert.
Die Ausdifferenzierung dieses Lehrgebäudes, das Sulzers Metaphorik zufolge einem Neubau unter Verwendung alter Abrissmaterialien gleichkommt, ist bildungsgeschichtlich ein bemerkenswerter Vorgang. Sichtbar gemacht wird er jetzt mit dem ersten Band einer Gesamtausgabe, die beide Fassungen präsentiert und mit wertvollen Kommentaren und werkbiographischen Einführungen der Herausgeber Hans Adler und Elisabeth Décultot versieht (Johann Georg Sulzer: Gesammelte Schriften, kommentierte Ausgabe, Bd. 1, Schwabe Verlag, Basel 2014). Das Grundgerüst im Geiste von Leibniz und Wolff entwickelt sich von der Dreiteilung in historisches Wissen der Dinge, philosophische Erkenntnis ihrer Wahrheiten und mathematische Einsicht in ihre quantitativen Verhältnisse zu einem neuen enzyklopädischen Kompendium: Angeführt von der Philologie, gefolgt von der Historie einschließlich Geographie, Genealogie und Kirchengeschichte, reicht es über die freien und mechanischen Künste, die reine und angewandte Mathematik inklusive Pyrowissenschaft und Zeitmessung, die allgemeine und spezielle Physik oder Naturkunde bis zur theoretischen und praktischen Philosophie, Rechtsgelehrsamkeit und Theologie.
Zu einem Ereignis wird dieses bislang wenig beachtete Werk aber nicht nur als Spiegel der um 1750 weitverbreiteten schulphilosophischen Systematik. Entscheidend sind die innovativen Impulse des Ästhetikers Sulzer, der ab 1771 mit seinem mehrfach erweiterten Lexikon "Allgemeine Theorie der Schönen Künste" für Aufsehen sorgt. "Sulzer sei Ihre Bibel!", ruft nicht nur der Bühnenstar Iffland in seinen "Briefen über die Schauspielkunst" (1781). Damit feiert er den Menschenkenner, der bereits in seinem frühen Kompendium die unteren Sinnesvermögen als die eigentliche Brutstätte des Künstlers entdeckt und noch dazu die Schauspielkunst den Artes liberales zurechnet. In der ersten Ausgabe behandelt Sulzer die Psychologie noch in einem einzigen kurzen Abschnitt, äußert aber bereits rhetorisch den Zweifel, "ob nicht noch andere bis dahin unbekannte Dinge in der Seele sind". In der Revision von 1759 entfallen dann bereits sieben Paragraphen auf "die Wissenschaft der menschlichen Seele" und die zugehörige "Experimentalphysik". Sulzer empfiehlt, "die genaueste Aufmerksamkeit auf die dunkeln Gegenden der Seele" zu richten, Fälle von "Verwirrung des Geistes" ebenso eifrig wie die "Theorie der Erziehung" zu studieren.
In den Debatten der letzten Jahre über die disziplinären Anfänge der Anthropologie zwischen 1750 und 1770 haben diese frühen Texte Sulzers kaum eine Rolle gespielt. Moses Mendelssohn erkennt aber bereits in seiner Rezension der zweiten Auflage ihre Bedeutung und nimmt damit Herders frühe Empfehlung zur "Einziehung der Philosophie auf Anthropologie" oder seine pfiffige Abwandlung von Descartes' "Cogito" in "Ich fühle mich! Ich bin!" vorweg. Nicht nur für die Erforschung der Ästhetik als Theorie der Sinnlichkeit oder des Menschen als Einheit von Leib und Seele ist Sulzers Vermessung aller Felder des Wissens von grundlegender Bedeutung. Die kommentierte Erschließung seiner gesammelten Schriften verspricht vielmehr ein großes Geschenk für alle Artistenfakultäten zu werden.
ALEXANDER KOSENINA
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