Das fröhlich-verspielte Cover von „Kuss“ von Simone Meier täuscht über den Inhalt hinweg. Dieser Roman ist weit mehr als ein leichtes Beziehungsdrama, es offenbart sich stattdessen ein Blick auf die dunklere Seite der menschlichen Seele. Er fördert Sehnsüchte, Begierden, Zweifel und erotische
Fantasien zutage, die im Licht des Tages betrachtet geradezu irrsinnig erscheinen, und die dennoch in den…mehrDas fröhlich-verspielte Cover von „Kuss“ von Simone Meier täuscht über den Inhalt hinweg. Dieser Roman ist weit mehr als ein leichtes Beziehungsdrama, es offenbart sich stattdessen ein Blick auf die dunklere Seite der menschlichen Seele. Er fördert Sehnsüchte, Begierden, Zweifel und erotische Fantasien zutage, die im Licht des Tages betrachtet geradezu irrsinnig erscheinen, und die dennoch in den Protagonisten Gerda, Yann und Valerie schlummern.
Valerie, spröde und zynisch, ist überzeugt, den Rest ihres Lebens nicht noch einmal mit einem Mann teilen zu wollen. Zu sehr liebt sie ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit. Oder ist es auch Verletzlichkeit, die durch ihre standhafte Verweigerung von Gefühlen und Nähe zum Ausdruck kommt? Gewinnt man vielleicht doch mehr, als man verliert, wenn man sich auf einen anderen Menschen einlässt? Gerda und Yann sind von außen betrachtet ein Vorzeigepaar – er hat einen guten Job, sie versucht sich unfreiwillig, aber nicht minder zufrieden, in der Rolle der Hausfrau, die das frisch bezogene Haus einrichtet und gestaltet. Ideale Voraussetzungen für die Familiengründung also. Doch was bleibt danach noch im Leben, wenn das Knistern des Neuen längst der Vergangenheit angehört? War es das? Und was, wenn dieses Fehlen, dieses Loch in einem selbst, einen dazu antreibt, sich anderen zuzuwenden. In der Fantasie, in Träumen. Und was, wenn dadurch etwas in Gang gesetzt wird, was unwiderruflich ins Unglück führt?
„Kuss“ geht an die Substanz. Er hat mich gefordert, vor allem zu Beginn, denn meine Erwartungen waren ganz anderer Natur. Ich erwartete Konflikte, durchaus, aber nicht in dieser Klarheit und, ja, regelrechten Besessenheit. Anstatt sich einander zuzuwenden und das gemeinsame Lebensglück zu genießen, driften Yann und Gerda zunehmend voneinander weg. Impulsiv und triebhaft legen sie es darauf an, ihr Glück zu zerstören. Gesteuert von Verlangen hinterfragen sie ihre Beziehung, sich selbst und ihren Partner. Sie wenden sich anderen zu, erlauben sich Gedankenspiele, geben ihren Sehnsüchten und Wünschen nach. Kaum jemals konkret, aber immer so intensiv gefühlt, dass es immer auch einem Betrug gleichkommt.
Interessant fand ich, dass Erfahrungen in der Kindheit wichtige Treiber dieser Entwicklung sind. Gerda, die von ihrer Mutter immer niedergemacht wurde, die nie Anerkennung oder Lob erfuhr. Valerie, die ihrer Großmutter und den Besuchen in ihrem Haus hinterhertrauert, deren Leben entzaubert wurde, ein Zauber, der sich in ihren Augen nicht wieder zurückholen lässt. Yann, der in einer perfekten Familie aufwuchs, der Zusammenhalt erlebt und sich fragt, ob es noch mehr gibt, als dieses ideale Familienbild.
Fazit
Dieser Roman von Simone Meier ist gleichzeitig anstrengend und faszinierend, betörend und abstoßend. Ich kann ihn loben und zur gleichen Zeit kritisieren. Was mir gefiel, waren die scharfen Beobachtungen, die ungefilterten Emotionen und der schonungslos direkte Schreibstil. Was mir nicht gefiel, waren die manischen, krankhaft übersteigerten Sehnsüchte. Gerda wirkte wie wahnsinnig, verloren in ihrer Welt. Ich würde sagen, „Kuss“ ist Geschmackssache, bietet aber auf jeden Fall äußerst viel Stoff zum Nachdenken und Diskutieren.