An einem Frühlingstag findet Maurice Maillot in einem Park in Amsterdam ein Handy im Zebrafelletui. Das Ladyphone klingelt nicht, es miaut, und Maurice, der gerade seine Katze verloren hat, beschließt: Die Besitzerin muss seine Geliebte werden! Doch die merkwürdige Schöne stellt schon bald sein ganzes Leben auf den Kopf. Charlotte Mutsaers' Roman ist die skurrile Liebesgeschichte zweier Außenseiter - witzig und hintergründig zugleich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2012Feuchtgebiet mit Hummer
Unappetitlich: Charlotte Mutsaers' "Kutscher Herbst"
Strikt vegane Ernährung fördert Fleischeslust und Provokationsdrang offenbar ungemein. Was die holländische Autorin Charlotte Mutsaers in ihrem Roman über die Wonnen von "Pinkelsex" und "prononcierten Poritzen" erzählt, stellt jedenfalls alle Feuchtgebiete und Schoßgebete ihrer deutschen Namensvetterin Charlotte Roche in den Schatten. Dora Dhont (alias Do, Dodo oder Dootje), die kapriziöse Muse des reichen, aber derzeit inspirationsarmen Schriftstellers Maurice Maillot (wie der gleichnamige Stummfilmschauspieler), bricht alle Gesetze von Scham und Erzählökonomie, Körperhygiene und politischer Korrektheit, um das Leiden der gequälten Kreatur - wozu auch die Schreibblockade ihres Geliebten gehört - zu lindern: "Siehst du lieber nackte Frauen? Hummer sind vielleicht nicht hip und laden nicht zum Streicheln ein, aber es sind lebende Wesen wie du und ich." Do ist immer für eine Perversion zu haben, aber wo ihre Freunde lebendig gekocht und gevierteilt werden, versteht die militante Tierschützerin der Lobster Liberation Front keinen Spaß. Gegen das, was Fischer und Gourmets den Hummern antun, sind alle Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs "peanuts".
Und verglichen mit dem texanischen Rindermörder George W. Bush, war Bin Ladin ein Heiliger. Do verehrt Usama als sanftäugigen Mann wie als Dichter. Auf ihrem Nachttisch steht sein Foto, und manchmal trägt sie in Restaurants seine Gedichte vor: "Kutscher Herbst, o müder alter Mann / nimm mich mit auf deine rätselhaften Wege." So überrascht die aufgeweckte Frau mit dem "netten Damenbärtchen" ihren müden Anbeter immer wieder. Im Bett lässt sie sich gern von Herrchen und Hund lecken und mit Natursekt befeuchten, aus dem sie sogar die Champagnermarke herausschmeckt. "Ein einziger Tropfen Urin bewirkt mehr als Millionen von Wörtern": Kein Wunder, dass Maurice seinen Restharn für extravagante Sexspielchen aufhebt.
Eigentlich ist Do lesbisch und Maurice latent homosexuell und impotent, aber sie passen gut zusammen; schließlich gehörten schon Maurices Eltern als Nilpferdbefreier und Zirkusbrandstifter zu den "prisoners of compassion", denen Mutsaers ihren Roman gewidmet hat. Die heilige Johanna, der Hummer und der Steakliebhaber streiten und versöhnen sich und feiern schließlich im winterlichen Ostende sogar Hochzeit. Am nächsten Morgen ertrinkt Do allerdings beim Eisbärenschwimmen und Hummerbefreien in der kalten Nordsee.
Urin am Morgen und Usama Bin Ladin zur Nacht können als Geschmacksverirrungen eines anarchischen Wildfangs durchgehen. Unerträglich aber ist die selbstgefällige, aufreizend infantile Geschwätzigkeit des Romans. "Humanität - dein Name ist Tier": Maurice lässt sich wie in einem Teenager-Tagebuch seitenlang über Lieblingsessen und Macken seines Hundes und seiner verstorbenen Katze aus. Beim Rundgang durch Ostende werden alle touristischen Sehenswürdigkeiten vom Ensor-Museum bis zum Hafen, vom Groentemarkt bis zu McDonald's besucht und bekakelt, beim "Funshoppen" und Essengehen geraten die beiden sich über Tofu-Burger und "Leichenfresser" so in die Haare, dass sie am Ende hungrig zu Bett gehen. Wenn Maurice, überwältigt von Fleischeslust, von der nackten Do am Fleischerhaken träumt, kann er sein Wasser nicht mehr halten: "Blutspritzer. Zappeln. Kreischen vor Schmerzlust. Und ich müsste nicht spielen, sondern dürfte ein Mann sein. Ein Mann mit allem, was dazugehört. Dürfte mich austoben wie ein Wilder. Ein richtiger Wilder. Ein Wilder mit wilden Gedanken. Aber ohne Hintergedanken. Richtig wilden Gedanken. Wilden richtigen Gedanken. Wild romance! Ah! Ah! Endlich." "Wenn du über dich sprichst", klagt Dodo einmal, "brauchst du ein ganzes Buch." Allerdings ist auch sie selbst eine prononcierte "Schnatterschachtel". Labile Tischchen im Lokal stabilisiert der Kellner mit einem Bierdeckel. "Warum gab es keinen Bierdeckel fürs Hirn?" Bezeichnenderweise beginnt die animalische "Handy-Romanze" mit einem verlorenen Nokia-Gerät, das in einem Zebrafell steckt und den Klingelton "mimimiau" von sich gibt. Das Ladyphon wird zu Maurices sexueller Obsession, der Slogan "Connecting people" zum Versprechen einer besseren Zukunft, Nokia-Chef Ollila zu seinem Gott. Im Café des Amsterdamer Hotels Krasnapolsky nimmt die Amour fou zwischen Autor und Muse schließlich ihren Lauf.
David Foster Wallace hat "Am Beispiel des Hummers" gezeigt, wie Tiere industriell abgeschlachtet werden, Jonathan Safran Foer gab den Vegetariern mit einem gut recherchierten Sachbuch Futter. Charlotte Mutsaers versucht mit einer konfusen, ausgesprochen unappetitlichen Liebes- und Mordgeschichte für die gute Sache der Frauen und Hummer zu werben. Immer im Clinch mit den "drei Scheusalen im Schafspelz" - Wissen, Konsens, Tiefgang -, beschwört sie Eideshelfer wie Cocteau, Céline, Christian Morgenstern und Benjamin Constant. Ungefiltert rauscht der Bewusstseinsstrom der Einfälle und Assoziationen; obenauf schwimmen lauter neckische Schaumkrönchen: herrjemine, jesses, killekillekille, oha, hoppla. Nicht nur der Autor von "Sommerchlor" scheint in der Krise zu stecken. Charlotte Mutsaers' Romandebüt "Rachels Röckchen" von 1997 war eine federleichte Plauderei voller Charme und Übermut, "Kutscher Herbst" ist nur noch kokettes Geschwätz.
MARTIN HALTER
Charlotte Mutsaers: "Kutscher Herbst". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Hanser Verlag, München 2011. 432 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unappetitlich: Charlotte Mutsaers' "Kutscher Herbst"
Strikt vegane Ernährung fördert Fleischeslust und Provokationsdrang offenbar ungemein. Was die holländische Autorin Charlotte Mutsaers in ihrem Roman über die Wonnen von "Pinkelsex" und "prononcierten Poritzen" erzählt, stellt jedenfalls alle Feuchtgebiete und Schoßgebete ihrer deutschen Namensvetterin Charlotte Roche in den Schatten. Dora Dhont (alias Do, Dodo oder Dootje), die kapriziöse Muse des reichen, aber derzeit inspirationsarmen Schriftstellers Maurice Maillot (wie der gleichnamige Stummfilmschauspieler), bricht alle Gesetze von Scham und Erzählökonomie, Körperhygiene und politischer Korrektheit, um das Leiden der gequälten Kreatur - wozu auch die Schreibblockade ihres Geliebten gehört - zu lindern: "Siehst du lieber nackte Frauen? Hummer sind vielleicht nicht hip und laden nicht zum Streicheln ein, aber es sind lebende Wesen wie du und ich." Do ist immer für eine Perversion zu haben, aber wo ihre Freunde lebendig gekocht und gevierteilt werden, versteht die militante Tierschützerin der Lobster Liberation Front keinen Spaß. Gegen das, was Fischer und Gourmets den Hummern antun, sind alle Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs "peanuts".
Und verglichen mit dem texanischen Rindermörder George W. Bush, war Bin Ladin ein Heiliger. Do verehrt Usama als sanftäugigen Mann wie als Dichter. Auf ihrem Nachttisch steht sein Foto, und manchmal trägt sie in Restaurants seine Gedichte vor: "Kutscher Herbst, o müder alter Mann / nimm mich mit auf deine rätselhaften Wege." So überrascht die aufgeweckte Frau mit dem "netten Damenbärtchen" ihren müden Anbeter immer wieder. Im Bett lässt sie sich gern von Herrchen und Hund lecken und mit Natursekt befeuchten, aus dem sie sogar die Champagnermarke herausschmeckt. "Ein einziger Tropfen Urin bewirkt mehr als Millionen von Wörtern": Kein Wunder, dass Maurice seinen Restharn für extravagante Sexspielchen aufhebt.
Eigentlich ist Do lesbisch und Maurice latent homosexuell und impotent, aber sie passen gut zusammen; schließlich gehörten schon Maurices Eltern als Nilpferdbefreier und Zirkusbrandstifter zu den "prisoners of compassion", denen Mutsaers ihren Roman gewidmet hat. Die heilige Johanna, der Hummer und der Steakliebhaber streiten und versöhnen sich und feiern schließlich im winterlichen Ostende sogar Hochzeit. Am nächsten Morgen ertrinkt Do allerdings beim Eisbärenschwimmen und Hummerbefreien in der kalten Nordsee.
Urin am Morgen und Usama Bin Ladin zur Nacht können als Geschmacksverirrungen eines anarchischen Wildfangs durchgehen. Unerträglich aber ist die selbstgefällige, aufreizend infantile Geschwätzigkeit des Romans. "Humanität - dein Name ist Tier": Maurice lässt sich wie in einem Teenager-Tagebuch seitenlang über Lieblingsessen und Macken seines Hundes und seiner verstorbenen Katze aus. Beim Rundgang durch Ostende werden alle touristischen Sehenswürdigkeiten vom Ensor-Museum bis zum Hafen, vom Groentemarkt bis zu McDonald's besucht und bekakelt, beim "Funshoppen" und Essengehen geraten die beiden sich über Tofu-Burger und "Leichenfresser" so in die Haare, dass sie am Ende hungrig zu Bett gehen. Wenn Maurice, überwältigt von Fleischeslust, von der nackten Do am Fleischerhaken träumt, kann er sein Wasser nicht mehr halten: "Blutspritzer. Zappeln. Kreischen vor Schmerzlust. Und ich müsste nicht spielen, sondern dürfte ein Mann sein. Ein Mann mit allem, was dazugehört. Dürfte mich austoben wie ein Wilder. Ein richtiger Wilder. Ein Wilder mit wilden Gedanken. Aber ohne Hintergedanken. Richtig wilden Gedanken. Wilden richtigen Gedanken. Wild romance! Ah! Ah! Endlich." "Wenn du über dich sprichst", klagt Dodo einmal, "brauchst du ein ganzes Buch." Allerdings ist auch sie selbst eine prononcierte "Schnatterschachtel". Labile Tischchen im Lokal stabilisiert der Kellner mit einem Bierdeckel. "Warum gab es keinen Bierdeckel fürs Hirn?" Bezeichnenderweise beginnt die animalische "Handy-Romanze" mit einem verlorenen Nokia-Gerät, das in einem Zebrafell steckt und den Klingelton "mimimiau" von sich gibt. Das Ladyphon wird zu Maurices sexueller Obsession, der Slogan "Connecting people" zum Versprechen einer besseren Zukunft, Nokia-Chef Ollila zu seinem Gott. Im Café des Amsterdamer Hotels Krasnapolsky nimmt die Amour fou zwischen Autor und Muse schließlich ihren Lauf.
David Foster Wallace hat "Am Beispiel des Hummers" gezeigt, wie Tiere industriell abgeschlachtet werden, Jonathan Safran Foer gab den Vegetariern mit einem gut recherchierten Sachbuch Futter. Charlotte Mutsaers versucht mit einer konfusen, ausgesprochen unappetitlichen Liebes- und Mordgeschichte für die gute Sache der Frauen und Hummer zu werben. Immer im Clinch mit den "drei Scheusalen im Schafspelz" - Wissen, Konsens, Tiefgang -, beschwört sie Eideshelfer wie Cocteau, Céline, Christian Morgenstern und Benjamin Constant. Ungefiltert rauscht der Bewusstseinsstrom der Einfälle und Assoziationen; obenauf schwimmen lauter neckische Schaumkrönchen: herrjemine, jesses, killekillekille, oha, hoppla. Nicht nur der Autor von "Sommerchlor" scheint in der Krise zu stecken. Charlotte Mutsaers' Romandebüt "Rachels Röckchen" von 1997 war eine federleichte Plauderei voller Charme und Übermut, "Kutscher Herbst" ist nur noch kokettes Geschwätz.
MARTIN HALTER
Charlotte Mutsaers: "Kutscher Herbst". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Hanser Verlag, München 2011. 432 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Roman Bucheli ist hingerissen von diesem Roman um einen einsamen, schreibblockierten Schriftsteller und eine militante Tierschützerin, und er hat sich mit der grotesken "Passionsgeschichte" von Herzen gegruselt und amüsiert. Die niederländische Autorin und Malerin scheut weder derbe Späße noch überzogenes Pathos, um das Leiden der Kreatur, sei es am Beispiel des Hummers oder an dem der an der Liebe zuschanden gehenden Menschen, in schwarzer Komik und überdrehter Abgründigkeit eindrucksvoll in Szene zu setzen, preist der Rezensent. Dass die Übersetzerin Marlene Müller-Haas dafür im Deutschen mit ebensoviel Sprachwitz wie -kraft den richtigen Ton getroffen hat, freut ihn besonders.
© Perlentaucher Medien GmbH
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