Produktdetails
  • Collection Folio 3520
  • Verlag: P.O.L.
  • Seitenzahl: 219
  • Erscheinungstermin: Mai 2001
  • Französisch
  • Abmessung: 177mm x 106mm x 17mm
  • Gewicht: 134g
  • ISBN-13: 9782070416219
  • ISBN-10: 2070416216
  • Artikelnr.: 09371930
Autorenporträt
Emmanuel Carrère, geboren 1957, lebt als Schriftsteller, Regisseur, Produzent und Drehbuchautor in Paris. 2010 war Carrère, dessen Dokumentarfilm "Rétour à Kotelnitch" 2003 auf dem Filmfest Venedig gefeiert wurde, Jurymitglied bei den Filmfestspielen in Cannes. Für seine Bücher wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2002

Chronik eines fünffachen Mordes
Emmanuel Carrère rekonstruiert ein Verbrechen

In den frühen Morgenstunden des 9. Januar 1993 erschießt Jean-Claude Romand seine Frau Florence im gemeinsamen Schlafzimmer. Danach bereitet er seinen Kindern Antoine und Caroline ihr Frühstück aus Schokopops und Milch zu, schaut mit ihnen ein Leihvideo - die drei kleinen Schweinchen und der böse Wolf -, führt sie dann unter dem Vorwand, Fieber messen zu müssen, hintereinander ins Kinderzimmer und erschießt sie. Anschließend fährt er zu seinen Eltern in das Nachbardorf, ißt mit ihnen zu Mittag und schießt seinem Vater in den Rücken. Seine Mutter erschießt er von Angesicht zu Angesicht. Nach diesen Verbrechen fährt Romand von dem kleinen französischen Dorf nahe der Schweizer Grenze nach Paris, wo ihm der Mord an seiner Geliebten mißlingt. Er fährt zurück, steckt das Haus mit den vier Toten im ersten Geschoß an und will sich mit Tabletten das Leben nehmen. Doch er überlebt die Überdosis und den Brand und wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Leider ist das Buch von Emmanuel Carrère kein Roman. Doch das Leben des Jean-Claude Romand war eine einzige Fiktion, die mit seinem mehrfachen Verbrechen brutal in sich zusammenbrach. Siebzehn Jahre vor seinem fünffachen Mord fühlt sich der junge Medizinstudent Romand psychisch nicht bereit für eine Klausur und beschließt, in seiner Studentenbude zu bleiben. Mit diesem Moment beginnt sein unfaßbares Doppelleben. Romand gibt vor, weiterhin Medizin zu studieren, ohne jemals auch nur eine einzige Prüfung abzulegen. Er täuscht seinen Freundeskreis, heiratet seine Kommilitonin Florence, die bis zu ihrem grausamen Ende nichts von der Scheinexistenz ihres Gatten ahnt. Der Blender erschafft die fiktive Figur des angesehenen Docteur Jean-Claude Romand, eines renommierten Forschers bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf. Jeden Morgen gibt Romand vor, in sein Genfer Büro der internationalen Behörde zu fahren. Er simuliert Dienstreisen, Ministerfreundschaften, Forschungsaufträge und Gastvorlesungen an Universitäten.

Seine Tage verschlendert der falsche Arzt mit grüblerischen Waldspaziergängen, intensiver Zeitungslektüre und zum Schluß mit einer Affäre in Paris. Seine Geliebte Corinne ist Psychologin, doch auch sie durchschaut den Hochstapler nicht. Nur zu gerne läßt sie sich von ihm in elegante Luxusrestaurants einladen. Das Geld für den kostspieligen Lebenswandel eines Spitzenbeamten erschleicht sich Romand von Verwandten und Freunden. Das Renommee eines angesehenen Forschers schafft Vertrauen, und der ehrbare Mediziner lockt mit finanziellen Sonderkonditionen für Schweizer WHO-Beamte. Freunde und Verwandte wollen allesamt in den Genuß von vermeintlichen achtzehn Prozent Zinsen einer Genfer Bank kommen. Reicht das erschwindelte Geld nicht mehr, verkauft Romand Placebo-Ampullen an befreundete Krebskranke. Über die Jahre gibt Jean-Claude Millionen von ergaunerten Franc aus, ohne daß er jemals ernsthaft zur Rechenschaft gezogen würde. Romand betreibt erfolgreich seine antiaufklärerischen Verdunkelungs- und Vertuschungsmanöver. Zum Schluß wird ein banaler Streit auf einem Elternabend dem Placebo-Mediziner zum Verhängnis. Sein Amoklauf hat eine siebzehnjährige Vorgeschichte. Siebzehn Jahre Lügen. Der Mörder kam aus einer Nebenwelt.

Sehr sorgfältig hat Emmanuel Carrère diese Vorgeschichte und auch die Taten des mörderischen Hochstaplers recherchiert. Er hat sich mit allen Freunden, Bekannten und Verwandten des falschen Arztes unterhalten, hat mit Romand selbst noch während dessen Prozeß Briefkontakt aufgenommen, ihm von seinem Buchprojekt erzählt und erwartungsgemäß in dem chronischen Mythomanen einen detailfreudigen Beichtenden gefunden. Für das französische Wochenmagazin "Le Nouvel Observateur" hat Carrère über die Gerichtsverhandlungen berichtet.

Der Fall des Jean-Claude Romand ist so atemberaubend, daß er nur in distanziertem Stil vorgetragen werden konnte. Jede rhetorische Ausschmückung wäre zu plumper Effekthascherei verdammt gewesen. In den besten Passagen seines Buches gelingt Carrère ein kühler, schnörkelloser Vortrag der immer irrsinnigeren Verstrickungen des Mörders. Carrère mißbraucht sein Sujet nicht, um moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Während so seriöse Chronisten des Falls wie ein Kommentator des "Monde" in Romand "die Fratze des Teufels" sehen, bemüht sich der Autor um psychologische Einfühlung. Carrère überläßt es dem Leser, sich sein eigenes Urteil über den Fall Romand zu bilden. Nicht nur der provinzielle Dekor der Verbrechen mit seinen kleinbürgerlichen Honoratioren, den mühselig gewahrten Fassaden, dem dörflichen Apotheker und den Sonntagsmessen erinnert an Flaubert, sondern auch die meist nüchterne Ungerührtheit des Autors.

Doch hätte es wohl allzu viel stilistische Selbstdisziplin erfordert, angesichts der Verbrechen gänzlich unbeteiligt zu wirken. Leider drängelt sich der Autor immer wieder in den Vordergrund und schreckt nicht einmal vor altklugen Binsenweisheiten zurück: "Ein befriedigendes Sexualleben ist zweifellos auch im Rahmen der Ehe möglich." Gar zu oft auch berichtet Carrère von seinen scholastischen Zweifeln, ob man ein so schreckliches Verbrechen überhaupt zum Gegenstand eines Buches machen darf.

Diese ästhetischen Sophistereien und geflissentlichen Seufzer aus der Werkstatt eines skrupulösen Schriftstellers wirken angesichts der ungeheuren Taten selbstgefällig. Es scheint, als bräuchte auch der Zeuge dieser namenlosen Verbrechen sein kleines persönliches Gewissensdrama. Ebenso unpassend wie solche Haarspaltereien lesen sich die Versuche sowohl des Autors als auch des Verbrechers, irgendeinen Sinn in den Morden zu erblicken. Carrère ist sich dessen durchaus bewußt und so fair, die verständliche wütende Entrüstung einer Journalistin stellvertretend für alle Einwände gegen sein verständnissuchendes Porträt eines mehrfachen Mörders unkommentiert zu zitieren: "Er ist bestimmt begeistert, daß du ein Buch über ihn schreibst, hab' ich recht? Im Grunde konnte er doch überhaupt nichts Besseres tun, als seine Familie abzumurksen, denn auf diese Weise sind seine kühnsten Träume in Erfüllung gegangen. Man spricht von ihm, er kommt ins Fernsehen, jemand schreibt seine Biographie, und jetzt ist er sogar auf dem besten Weg, heilig gesprochen zu werden."

Überflüssigerweise erfährt der Mörder in seiner Zelle eine religiöse Erleuchtung und verfaßt von diesem Moment an christliche Erweckungsprosa, die in ihrem geschwätzigen Leidenspathos vollends obszön wirkt. Die perverse Tendenz zu theologischer Verbrämung seiner Taten scheint ansteckend auf Carrère gewirkt zu haben. So ließe sich über den letzten Satz des Buches sicher streiten: "Und ich dachte, daß diese Geschichte niederzuschreiben nur ein Verbrechen sein kann oder ein Gebet." Eine allzu pathetische Ambition. "Amok" ist eine solide recherchierte und psychologisch einleuchtend gestaltete Chronik eines fünffachen Mordes und seiner irrwitzigen Vorgeschichte. Nicht mehr und auch nicht weniger. Verbrechen und Gebete gab es im Fall des mörderischen Hochstaplers Jean-Claude Romand genug.

STEPHAN MAUS.

Emmanuel Carrère: "Amok". Aus dem Französischen übersetzt von Irmengard Gabler. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 186 S., geb., 36,- DM.

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