Produktdetails
- ISBN-13: 9788484509943
- Artikelnr.: 42282511
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2002Großes Kino in Antofagasta
Glück ist anderswo: Antonio Skármeta träumt von New York
In seinem erfolgreichsten Roman, "Mit brennender Geduld", erzählt Antonio Skármeta von dem Dichter Pablo Neruda, der als Botschafter seines Landes in Paris lebt. In der Fremde erlöscht Nerudas Phantasie, und seine Kraft zu schreiben erlahmt. Er bittet deshalb den Briefträger Mario zu Hause auf seiner Insel, die Geräusche der Heimat auf Tonband aufzunehmen und sie ihm nach Paris zu schicken. Durch die Erinnerung an seine Wurzeln hofft Neruda, seine Poesie wiederzubeleben.
Skármeta ist inzwischen selbst Botschafter. Er vertritt seine Heimat Chile in Berlin, einer Stadt, in der er dreizehn Jahre als Exilant gelebt hat. Sein jüngster Roman, "Das Mädchen mit der Posaune", ist so etwas wie der Versuch, die aus der Vergangenheit herüberklingenden Geräusche der Heimat in Literatur zu bannen. Das Buch ist der zweite Teil einer Trilogie, die mit "Die Hochzeit des Dichters" begann. In ihr spürt spürt Skármeta seiner Familiengeschichte nach, verfremdet in der Tradition des magischen Realismus, der jedoch bei dem Chilenen, anders als bei seinem kolumbianischen Kollegen García Márquez, gelegentlich in den Klamauk kippt. Nach Skármetas Auskunft waren alle drei Bände der Trilogie schon abgeschlossen, als der erste vor zwei Jahren erschien. Der Autor konnte deshalb auch beim zweiten nicht korrigieren, was die Kritiker am ersten Band gerügt hatten, nämlich eine gewisse Zerfaserung der Geschichte und eine Harmlosigkeit des Erzählens, unter der die Schärfe des Beobachtens leidet. Dennoch wirkt "Das Mädchen mit der Posaune" oft konzentrierter und disziplinierter.
Das mag daran liegen, daß Skármeta im neuen Roman sein Personal besser im Griff hat. Es geht im "Mädchen mit der Posaune" um Magdalena, eine Vollwaise, die kurz vor Weihnachten 1944 als kleines Mädchen in Begleitung eines Posaunisten in der nordchilenischen Stadt Antofagasta bei Stefano Coppeta auftaucht. Der Leser, der die "Hochzeit des Dichters" nicht kennt, wird Schwierigkeiten haben, sich im zweiten Band der Trilogie zurechtzufinden, denn viele Figuren tauchen wieder auf, und Zusammenhänge erschließen sich nicht ohne Kenntnis der Vorgeschichte. Stefano Coppeta nämlich ist als Exilant auf der Flucht vor den Nazis von der dalmatischen Insel Malizia nach Chile gekommen.
Dort mußte er seine Geliebte Alia Emar zurücklassen, die vermutlich von den Besatzungssoldaten geschändet wurde. Die kleine Magdalena sieht in Stefano Coppeta ihren Großvater. Sie ist die Ich-Erzählerin des neuen Romans. Über ihre Vergangenheit kann sie nicht viel in Erfahrung bringen: Sie bleibt ein Mädchen, das keinen Vater und keine Mutter hat und nur eine vage Erinnerung an ihre Vergangenheit. Dafür setzt Magdalena um so größere Hoffnungen in die Zukunft. Im Kino ihrer Heimatstadt Antofagasta, einem unwirtlichen Ort fernab der Metropolen, sieht sie mit ihren Freundinnen und Freunden amerikanische Filme, die die Gruppe nach der Vorführung nachstellt. Sie üben Filmküsse, wollen Schauspieler werden und träumen, sie seien bereits Leinwandstars. Bei diesem Spiel mit den Identitäten hat es Magdalena leichter, denn sie hat ja keine eigene Vergangenheit. Eines Tages, nach dem Tode ihres Großvaters, beschließt sie, ab sofort Alia Emar zu heißen und in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Ihr Spielkamerad und Freund Pablo Palacio teilt ihre Sehnsucht nach der Fremde. Er nennt sich York New, nach der Stadt, auf der die Hoffnungen der beiden ruhen.
Skármeta spielt mit den Motiven von Fremde und Heimat. In ihrer Stadt, in Chile, fühlen sich Pablo Palacio und Alia Emar nicht zu Hause. Sie leben in ihrer Heimat wie in der Fremde, auch wenn sie dort zur Schule gehen, ihren ersten Sex haben (in Pablo Nerudas Haus), Salvador Allende im Wahlkampf unterstützen, die Universität besuchen und die Schauspielschule. Alia Emar bleibt bei dem Namen, den sie sich als Mädchen gegeben hat, während Pablo Palacio recht bald davon abrückt, sich York New zu nennen.
Ironischerweise ist er es dann, dem die Flucht aus Chile gelingt - beinahe jedenfalls. Pablo erhält ein Stipendium für eine New Yorker Schauspielschule. Er hat den Flugschein schon in der Tasche, ohne ein Rückflugticket. Alia aber ist von ihm schwanger, verschweigt es und denkt an Abtreibung. Pablo bekommt jedoch Wind davon und bleibt in Chile. Die beiden leben dann mit ihrem Kind in einem kleinen Häuschen in ihrer Heimatstadt. Der Roman endet mit dem Wahlsieg Allendes 1970. Der Leser ahnt: Dem Glück des Paares ist keine Dauer beschieden, das Unheil dräut.
Es ist kein schlechtes Zeichen für einen Roman, daß der Leser am Ende noch weiter mit seinen Figuren leben und lieben, hassen und leiden möchte. Wer hier auf der letzten Seite angekommen ist, möchte wissen, wie es weitergeht. Er erwartet den dritten Teil der Trilogie, nicht, weil er ein literarisches Meisterwerk erhofft, sondern weil er der Fabulierlust erlegen ist. Man folgt auch in diesem Roman Skármeta gerne bei seinen poetischen Phantasien. Die Fremde hat ihm nicht die Kraft zum Erzählen genommen.
MARKUS REITER
Antonio Skármeta: "Das Mädchen mit der Posaune". Roman. Aus dem chilenischen Spanisch übersetzt von Willi Zerbrüggen. Piper Verlag, München 2002. 336 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glück ist anderswo: Antonio Skármeta träumt von New York
In seinem erfolgreichsten Roman, "Mit brennender Geduld", erzählt Antonio Skármeta von dem Dichter Pablo Neruda, der als Botschafter seines Landes in Paris lebt. In der Fremde erlöscht Nerudas Phantasie, und seine Kraft zu schreiben erlahmt. Er bittet deshalb den Briefträger Mario zu Hause auf seiner Insel, die Geräusche der Heimat auf Tonband aufzunehmen und sie ihm nach Paris zu schicken. Durch die Erinnerung an seine Wurzeln hofft Neruda, seine Poesie wiederzubeleben.
Skármeta ist inzwischen selbst Botschafter. Er vertritt seine Heimat Chile in Berlin, einer Stadt, in der er dreizehn Jahre als Exilant gelebt hat. Sein jüngster Roman, "Das Mädchen mit der Posaune", ist so etwas wie der Versuch, die aus der Vergangenheit herüberklingenden Geräusche der Heimat in Literatur zu bannen. Das Buch ist der zweite Teil einer Trilogie, die mit "Die Hochzeit des Dichters" begann. In ihr spürt spürt Skármeta seiner Familiengeschichte nach, verfremdet in der Tradition des magischen Realismus, der jedoch bei dem Chilenen, anders als bei seinem kolumbianischen Kollegen García Márquez, gelegentlich in den Klamauk kippt. Nach Skármetas Auskunft waren alle drei Bände der Trilogie schon abgeschlossen, als der erste vor zwei Jahren erschien. Der Autor konnte deshalb auch beim zweiten nicht korrigieren, was die Kritiker am ersten Band gerügt hatten, nämlich eine gewisse Zerfaserung der Geschichte und eine Harmlosigkeit des Erzählens, unter der die Schärfe des Beobachtens leidet. Dennoch wirkt "Das Mädchen mit der Posaune" oft konzentrierter und disziplinierter.
Das mag daran liegen, daß Skármeta im neuen Roman sein Personal besser im Griff hat. Es geht im "Mädchen mit der Posaune" um Magdalena, eine Vollwaise, die kurz vor Weihnachten 1944 als kleines Mädchen in Begleitung eines Posaunisten in der nordchilenischen Stadt Antofagasta bei Stefano Coppeta auftaucht. Der Leser, der die "Hochzeit des Dichters" nicht kennt, wird Schwierigkeiten haben, sich im zweiten Band der Trilogie zurechtzufinden, denn viele Figuren tauchen wieder auf, und Zusammenhänge erschließen sich nicht ohne Kenntnis der Vorgeschichte. Stefano Coppeta nämlich ist als Exilant auf der Flucht vor den Nazis von der dalmatischen Insel Malizia nach Chile gekommen.
Dort mußte er seine Geliebte Alia Emar zurücklassen, die vermutlich von den Besatzungssoldaten geschändet wurde. Die kleine Magdalena sieht in Stefano Coppeta ihren Großvater. Sie ist die Ich-Erzählerin des neuen Romans. Über ihre Vergangenheit kann sie nicht viel in Erfahrung bringen: Sie bleibt ein Mädchen, das keinen Vater und keine Mutter hat und nur eine vage Erinnerung an ihre Vergangenheit. Dafür setzt Magdalena um so größere Hoffnungen in die Zukunft. Im Kino ihrer Heimatstadt Antofagasta, einem unwirtlichen Ort fernab der Metropolen, sieht sie mit ihren Freundinnen und Freunden amerikanische Filme, die die Gruppe nach der Vorführung nachstellt. Sie üben Filmküsse, wollen Schauspieler werden und träumen, sie seien bereits Leinwandstars. Bei diesem Spiel mit den Identitäten hat es Magdalena leichter, denn sie hat ja keine eigene Vergangenheit. Eines Tages, nach dem Tode ihres Großvaters, beschließt sie, ab sofort Alia Emar zu heißen und in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Ihr Spielkamerad und Freund Pablo Palacio teilt ihre Sehnsucht nach der Fremde. Er nennt sich York New, nach der Stadt, auf der die Hoffnungen der beiden ruhen.
Skármeta spielt mit den Motiven von Fremde und Heimat. In ihrer Stadt, in Chile, fühlen sich Pablo Palacio und Alia Emar nicht zu Hause. Sie leben in ihrer Heimat wie in der Fremde, auch wenn sie dort zur Schule gehen, ihren ersten Sex haben (in Pablo Nerudas Haus), Salvador Allende im Wahlkampf unterstützen, die Universität besuchen und die Schauspielschule. Alia Emar bleibt bei dem Namen, den sie sich als Mädchen gegeben hat, während Pablo Palacio recht bald davon abrückt, sich York New zu nennen.
Ironischerweise ist er es dann, dem die Flucht aus Chile gelingt - beinahe jedenfalls. Pablo erhält ein Stipendium für eine New Yorker Schauspielschule. Er hat den Flugschein schon in der Tasche, ohne ein Rückflugticket. Alia aber ist von ihm schwanger, verschweigt es und denkt an Abtreibung. Pablo bekommt jedoch Wind davon und bleibt in Chile. Die beiden leben dann mit ihrem Kind in einem kleinen Häuschen in ihrer Heimatstadt. Der Roman endet mit dem Wahlsieg Allendes 1970. Der Leser ahnt: Dem Glück des Paares ist keine Dauer beschieden, das Unheil dräut.
Es ist kein schlechtes Zeichen für einen Roman, daß der Leser am Ende noch weiter mit seinen Figuren leben und lieben, hassen und leiden möchte. Wer hier auf der letzten Seite angekommen ist, möchte wissen, wie es weitergeht. Er erwartet den dritten Teil der Trilogie, nicht, weil er ein literarisches Meisterwerk erhofft, sondern weil er der Fabulierlust erlegen ist. Man folgt auch in diesem Roman Skármeta gerne bei seinen poetischen Phantasien. Die Fremde hat ihm nicht die Kraft zum Erzählen genommen.
MARKUS REITER
Antonio Skármeta: "Das Mädchen mit der Posaune". Roman. Aus dem chilenischen Spanisch übersetzt von Willi Zerbrüggen. Piper Verlag, München 2002. 336 S., geb., 19,90 [Euro].
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