Produktdetails
- Verlag: Bompiani / Import
- Seitenzahl: 250
- Italienisch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 278g
- ISBN-13: 9788845244094
- Artikelnr.: 44234660
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2001Der Spion, der aus der Kirche kam
Sandro Veronesis Erkundungsfahrt durch ein fremdes Selbst
Omertà und Cosa Nostra, Rote Brigaden, Opus Dei und P2 - Italien ist ein Land, reich an Geheimbünden und verschworenen Gemeinschaften, und vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb Sandro Veronesi mit seinem Roman "La forza del passato" - zu deutsch: "Sein anderes Leben" - in seiner Heimat zum Bestsellerautor avancierte. Veronesi erzählt die Geschichte eines Kinderbuchautors, der während einer nächtlichen Taxifahrt mit der Tatsache konfrontiert wird, daß sein Vater in Tat und Wahrheit Russe, Kommunist und KGB-Agent war und nicht der General, der fleißige Kirchgänger, der Christdemokrat und Andreotti-Freund, als der er ihn kannte.
Der Schock sitzt tief. Das Leben des jungen Mannes gerät aus den Fugen. Jede Erinnerung erscheint auf einmal trügerisch. Zweifel nisten sich ein. Wem kann er noch glauben, wem vertrauen? Dem Taxifahrer, der in Wirklichkeit keiner ist? Seiner Mutter, die die Maskerade mitmachte? Sich selbst und seinen Gewißheiten, die plötzlich keine mehr sind? Gianni Orzan wird die Wahrheit nie erfahren. Sein Vater ist kurz vor dem nächtlichen Zusammentreffen im Taxi gestorben und hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.
Wenn der Ich-Erzähler sich nach Tagen quälender Selbsterforschung, nach einem Verkehrsunfall und der Erkenntnis, daß ihn seine Frau betrügt, dazu entschließt, dem falschen Taxifahrer und angeblichen Freund seines Vaters Glauben zu schenken, ist das seine freie Wahl. Was der Vater wirklich war, russischer Spion oder Stütze der italienischen Gesellschaft, ist auf einmal nicht mehr so wichtig. Er war sein Vater, das ist das einzige, was zählt. Daß ihn seine Frau betrogen hat, tut zwar weh, aber sie ist seine Frau, er hat ein Kind mit ihr, und er weiß, daß er sie liebt.
Das Leben des Kinderbuchautors Gianni Orzan wird nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus weitergehen wie zuvor. Seine Frau kehrt zu ihm zurück. Er nimmt seine Schreibarbeit wieder auf. Seine Mutter weiß jetzt zwar, daß er weiß, aber gesprochen wird darüber nicht mehr. Wichtig ist nicht, was ist, sondern was wir daraus machen. Sandro Veronesis Roman "Sein anderes Leben" ist kein Thriller ohne Auflösung, sondern die Geschichte einer Identitätskrise. Und diese hatte lange vor den nächtlichen Enthüllungen mit Selbstzweifeln, mit einer Schreibblockade, mit einem allgemeinen Lebensüberdruß ihren Anfang genommen. "Ich weiß nicht, ob ich noch der bin, der ich zu sein glaube", heißt es schon ganz am Anfang des Romans. Die Einsicht, daß auch der übermächtige Vater nicht der war, der er zu sein vorgab, platzt da hinein und wirkt wie ein Katalysator, der die Krise ihrem Höhepunkt und schließlich ihrer Katharsis zutreibt.
Daß nichts so ist, wie es scheint, und keiner der, als der er sich ausgibt, daß ein jeder sein kleines oder größeres Geheimnis mit sich herumträgt und lügt, auch wenn er nichts davon hat - im Grunde eine Binsenwahrheit, die weder so neu noch so einzigartig ist, daß es sich lohnte, so sollte man meinen, einen ganzen Roman darüber zu schreiben. Und doch hat Sandro Veronesi es getan, und wir sind ihm atemlos dabei gefolgt.
Es ist nicht die Geschichte an sich, die dieses Buch so faszinierend macht. Es ist die Art und Weise, wie sie uns erzählt wird: rasch, leicht, witzig, voller Selbstironie, direkt, unprätentiös, in einem wie selbstverständlich daherkommenden Plauderton, als säßen wir mit dem Autor in einem römischen Café und er ließe uns wissen, was ihn gerade bewegt. Im Grunde besteht das Buch aus einem einzigen inneren Monolog, einer Geschichte, wie zu sich selbst gesagt, ohne nachträgliche Deutung. Die Interpretation der Geschehnisse bleibt dem Leser überlassen. Und der läßt sich tragen und mitnehmen auf diese Erkundungsfahrt durch ein fremdes Selbst, das auch sein eigenes sein könnte. Was wissen wir von unseren eigenen Eltern, unseren Partnern, Freunden, Kindern? Was wissen wir letztlich über uns selbst?
Eine Antwort hat Sandro Veronesi nicht zu bieten. Nur Fragen, nur Zweifel, nur Ungewißheiten. Aber - und das macht den Reiz seines schwerelosen Erzählens aus - er bietet sie so dar, daß sie auszuhalten sind. Denn am Ende geht es uns wie dem Ich-Erzähler: Russischer Vater hin oder her, er ist, der er ist, und das ist gut so.
KLARA OBERMÜLLER
Sandro Veronesi: "Sein anderes Leben". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Bruno Genzler. C. Bertelsmann Verlag, München 2001. 254 S., geb., 40,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sandro Veronesis Erkundungsfahrt durch ein fremdes Selbst
Omertà und Cosa Nostra, Rote Brigaden, Opus Dei und P2 - Italien ist ein Land, reich an Geheimbünden und verschworenen Gemeinschaften, und vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb Sandro Veronesi mit seinem Roman "La forza del passato" - zu deutsch: "Sein anderes Leben" - in seiner Heimat zum Bestsellerautor avancierte. Veronesi erzählt die Geschichte eines Kinderbuchautors, der während einer nächtlichen Taxifahrt mit der Tatsache konfrontiert wird, daß sein Vater in Tat und Wahrheit Russe, Kommunist und KGB-Agent war und nicht der General, der fleißige Kirchgänger, der Christdemokrat und Andreotti-Freund, als der er ihn kannte.
Der Schock sitzt tief. Das Leben des jungen Mannes gerät aus den Fugen. Jede Erinnerung erscheint auf einmal trügerisch. Zweifel nisten sich ein. Wem kann er noch glauben, wem vertrauen? Dem Taxifahrer, der in Wirklichkeit keiner ist? Seiner Mutter, die die Maskerade mitmachte? Sich selbst und seinen Gewißheiten, die plötzlich keine mehr sind? Gianni Orzan wird die Wahrheit nie erfahren. Sein Vater ist kurz vor dem nächtlichen Zusammentreffen im Taxi gestorben und hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.
Wenn der Ich-Erzähler sich nach Tagen quälender Selbsterforschung, nach einem Verkehrsunfall und der Erkenntnis, daß ihn seine Frau betrügt, dazu entschließt, dem falschen Taxifahrer und angeblichen Freund seines Vaters Glauben zu schenken, ist das seine freie Wahl. Was der Vater wirklich war, russischer Spion oder Stütze der italienischen Gesellschaft, ist auf einmal nicht mehr so wichtig. Er war sein Vater, das ist das einzige, was zählt. Daß ihn seine Frau betrogen hat, tut zwar weh, aber sie ist seine Frau, er hat ein Kind mit ihr, und er weiß, daß er sie liebt.
Das Leben des Kinderbuchautors Gianni Orzan wird nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus weitergehen wie zuvor. Seine Frau kehrt zu ihm zurück. Er nimmt seine Schreibarbeit wieder auf. Seine Mutter weiß jetzt zwar, daß er weiß, aber gesprochen wird darüber nicht mehr. Wichtig ist nicht, was ist, sondern was wir daraus machen. Sandro Veronesis Roman "Sein anderes Leben" ist kein Thriller ohne Auflösung, sondern die Geschichte einer Identitätskrise. Und diese hatte lange vor den nächtlichen Enthüllungen mit Selbstzweifeln, mit einer Schreibblockade, mit einem allgemeinen Lebensüberdruß ihren Anfang genommen. "Ich weiß nicht, ob ich noch der bin, der ich zu sein glaube", heißt es schon ganz am Anfang des Romans. Die Einsicht, daß auch der übermächtige Vater nicht der war, der er zu sein vorgab, platzt da hinein und wirkt wie ein Katalysator, der die Krise ihrem Höhepunkt und schließlich ihrer Katharsis zutreibt.
Daß nichts so ist, wie es scheint, und keiner der, als der er sich ausgibt, daß ein jeder sein kleines oder größeres Geheimnis mit sich herumträgt und lügt, auch wenn er nichts davon hat - im Grunde eine Binsenwahrheit, die weder so neu noch so einzigartig ist, daß es sich lohnte, so sollte man meinen, einen ganzen Roman darüber zu schreiben. Und doch hat Sandro Veronesi es getan, und wir sind ihm atemlos dabei gefolgt.
Es ist nicht die Geschichte an sich, die dieses Buch so faszinierend macht. Es ist die Art und Weise, wie sie uns erzählt wird: rasch, leicht, witzig, voller Selbstironie, direkt, unprätentiös, in einem wie selbstverständlich daherkommenden Plauderton, als säßen wir mit dem Autor in einem römischen Café und er ließe uns wissen, was ihn gerade bewegt. Im Grunde besteht das Buch aus einem einzigen inneren Monolog, einer Geschichte, wie zu sich selbst gesagt, ohne nachträgliche Deutung. Die Interpretation der Geschehnisse bleibt dem Leser überlassen. Und der läßt sich tragen und mitnehmen auf diese Erkundungsfahrt durch ein fremdes Selbst, das auch sein eigenes sein könnte. Was wissen wir von unseren eigenen Eltern, unseren Partnern, Freunden, Kindern? Was wissen wir letztlich über uns selbst?
Eine Antwort hat Sandro Veronesi nicht zu bieten. Nur Fragen, nur Zweifel, nur Ungewißheiten. Aber - und das macht den Reiz seines schwerelosen Erzählens aus - er bietet sie so dar, daß sie auszuhalten sind. Denn am Ende geht es uns wie dem Ich-Erzähler: Russischer Vater hin oder her, er ist, der er ist, und das ist gut so.
KLARA OBERMÜLLER
Sandro Veronesi: "Sein anderes Leben". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Bruno Genzler. C. Bertelsmann Verlag, München 2001. 254 S., geb., 40,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.03.2002Generation Fiat 127 Bambino
Sandro Veronesi schreibt einen Roman über das Italien der Gegenwart und hat dabei Pier Paolo Pasolini auf dem Rücksitz
Trauer um den Verlust der lebendigen Überlieferung war der Antrieb des Werks von Pier Paolo Pasolini. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod in Ostia sind seine Dichtungen, die zum Schönsten gehören, was das vergangene Jahrhundert an Poesie hervorgebracht hat, aus den hiesigen Buchhandlungen wie aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher verschwunden: „Unselige Generation”, hatte Pasolini in dem Gedicht „Die Poesie der Tradition” den bilderstürmerischen 68ern zugerufen, „du wirst älter werden und schließlich alt / ohne genossen zu haben, was du berechtigt warst zu genießen / und was man nicht ohne Sehnsucht und Demut genießt / und wirst so begreifen, daß du der Welt gedient hast / gegen die du voll Eifer ‘den Kampf vorantriebst’.”
Heute zeigt sich Berlusconis neues Italien als das Produkt einer vom Verfasser der „Freibeuterschriften” schon vor dreißig prophezeiten „anthropologischen Revolution”. Über ein Gegenmittel verfügen nur diejenigen, die noch mit Pasolinis „Liebe zu Büchern und zum Leben” statt mit dem Blablabla und dem Gekreische auf allen Kanälen und Monitoren aufgewachsen sind. Schwieriger haben es die jüngeren Vertreter der italienischen Literatur. Einer von ihnen, der 1959 geborene Sandro Veronesi verrät in seinem neuen, mehrfach preisgekrönten Roman auch die Gründe. Der Titel der italienischen Originalausgabe „La forza del passato” – die Macht oder des Vergangenen – ist ein Pasolini-Zitat und ruft eine berühmte Szene der Filmgeschichte in Erinnerung: In Pasolinis Film „La ricotta” („Der Weichkäse”) aus dem Jahr 1962 hatten gleich drei Riesen aus einer heute verblichenen Generation zu einem Film im Film zusammengefunden. Der Autor und Regisseur Pasolini ließ sich durch den Hauptdarsteller Orson Welles vertreten, dem in der Originalfassung der Schriftsteller Giorgio Bassani seine Stimme lieh.
Vor den Toren von Roms Cinecittá saß Orson Welles breitbeinig im schwarzen Regiesessel und beantwortete während einer Drehpause die Fragen eines Reporters („Ihre Meinung über Federico Fellini?” – „Er tanzt!”). Das Interview ist zu Ende, da ruft Welles den Reporter nochmals zurück, zieht ein Buch von Pasolini aus dem Jackett und trägt daraus ein Poem vor. Vom „äußersten Rand einer begrabenen Zeit” spricht da ein ruheloser Vagant, der zum „Zeugen” der „ersten Szenen der Nachgeschichte” bestellt ist: „Io sono una forza del passato... – Ich bin eine Macht aus vergangenen Zeiten, / nur in der Tradition liegt meine Liebe. / Ich komme von den Ruinen, den Altartafeln, den Kirchen, / von den verlassenen Dörfern des Appenin und der Voralpen, wo die Brüder einst lebten ... // ...die nicht mehr sind.”
Vierzig Jahre danach setzt sich der Jungautor, der so jung nicht mehr ist, dem Verlust der Anschlussmöglichkeiten an die von Übervätern verkörperten Traditionen aus. Veronesi gehört einer unspektakulären Generation von Wohlstandskindern an, die ihre ersten Abenteuer im Fiat 127 Bambino sammelten. Wenn sie aus einer ihnen selbst bisweilen unbegreiflichen Traurigkeit heraus nicht schweigen, dann drücken sie das, was ihnen auf der Zunge liegt, zumeist auf leichte, routinierte und sympathische Art aus, auch wenn es nur Spielmaterial aus einem schier endlosen Vorrat an Zitaten oder Zitaten von Zitaten ist.
Statt damit flott zu kokettieren oder sich eines entliehenen Pathos’ zu bedienen, begegnet Veronesi dem Dilemma seiner Generation mit Selbstironie: Der Held seines Romans, ein erfolgreicher Kinderbuchautor namens Gianni Orzan, wird gleich eingangs von einer Journalistin gefragt, ob er „ein trauriger Mann” sei. Darauf weiß er so recht keine Antwort, gleichwohl ihn die Frage weiter beschäftigt. Eigentlich fallen ihm nur Zitate aus der eigenen Kindheit und Jugendzeit ein, „aus Filmen, Gedichten, Rockmusik und so weiter”, wie es einmal eine beflissene Leserin seiner Kinderbücher bemerkt.
Das Geheimnis des Vaters
Und so könnte das als ein ununterbrochenes Selbstgespräch inszenierte Alltagsdrama light des von einer Schreibblockade und obendrein von einer Ehekrise geplagten Gianni Orzan weitergehen, wäre da nicht jene beunruhigende Macht aus der Vergangenheit, die im Titel der deutschen Übersetzung leider zu „Sein anderes Leben” verschmockt wurde. Eine Enthüllung aus dem „unsichtbaren Italien” macht ihm schwer zu schaffen: Giannis gerade verstorbener Vater, ein ehemals hochrangiger Armeegeneral und angesehener Christdemokrat, der Sonntags gemeinsam mit Andreotti zur Messe ging und mit dem sich der Sohn stets über Politik stritt, sei in Wirklichkeit ein russischer Agent gewesen. Er habe einen Mord begangen, um sich eine fremde Identität anzueignen, unter der man ihn nach Italien eingeschleust habe, wo er sich für einen künftigen Ausbruch des Dritten Weltkriegs als „Schläfer”bereithalten sollte.
Der Mitwisser des Vaters verwickelt Gianni in ein Katz-und-Maus-Spiel der Erinnerungen, bei dem der Jüngere den Kürzeren zieht, zumal der Ältere auch die Taschenspielertricks des Kinderbuchautors durchschaut. Die Schlüsselszene spielt in einem neumodischen Restaurant, wo „Roller-Betty” auf Inlineskates die Gäste bedient und die dinierenden Fünfzigjährigen - die von Pasolini einst gescholtenen, unterdessen ergrauten „figli di papa” („Vatersöhnchen”) – müde und unbekümmert auf eine Provokation reagieren: Gianni Orzan sagt seinem Gegenüber laut ein Gedicht aus dem Gedächtnis auf – das von Orson Welles vorgetragene Poem aus Pasolinis Film. Als er seinem verbalen Sparringspartner, dem er noch immer nicht glauben will, die Rollenverteilung des Films erläutert, macht er einen entscheidenden Fehler. Die Korrektur erfolgt zwar eher beiläufig, doch mit dem Nachweis, dass die vagen Erinnerung desjenigen, der von Zitaten lebt, allzu leicht der Täuschung unterliegen, sind mit einem Male auch alle anderen Gewissheiten dahin.
In Pasolinis Film hatte Orson Welles den Reporter am Ende mit der Eröffnung verblüfft, der Produzent des Films sei zugleich auch der Verleger der Zeitung, für die der andere arbeite. Auch in Veronesis Roman trägt keine Macht aus der Vergangenheit, sondern eine aus der Gegenwart den Sieg davon – die banalste alle Mächte: die Gewohnheit. Und der Held des Romans fährt nicht einmal schlecht damit.
VOLKER BREIDECKER
SANDRO VERONESI: Sein anderes Leben. Roman. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. C. Bertelsmann Verlag, München 2001. 254 Seiten, 20,45 Euro.
Ich bin eine Macht aus vergangenen Zeiten: Orson Welles in Pasolinis Film „La Ricotta” (1962). Da war der Romanautor Veronesi drei Jahre alt.
Foto:United Press
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Sandro Veronesi schreibt einen Roman über das Italien der Gegenwart und hat dabei Pier Paolo Pasolini auf dem Rücksitz
Trauer um den Verlust der lebendigen Überlieferung war der Antrieb des Werks von Pier Paolo Pasolini. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod in Ostia sind seine Dichtungen, die zum Schönsten gehören, was das vergangene Jahrhundert an Poesie hervorgebracht hat, aus den hiesigen Buchhandlungen wie aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher verschwunden: „Unselige Generation”, hatte Pasolini in dem Gedicht „Die Poesie der Tradition” den bilderstürmerischen 68ern zugerufen, „du wirst älter werden und schließlich alt / ohne genossen zu haben, was du berechtigt warst zu genießen / und was man nicht ohne Sehnsucht und Demut genießt / und wirst so begreifen, daß du der Welt gedient hast / gegen die du voll Eifer ‘den Kampf vorantriebst’.”
Heute zeigt sich Berlusconis neues Italien als das Produkt einer vom Verfasser der „Freibeuterschriften” schon vor dreißig prophezeiten „anthropologischen Revolution”. Über ein Gegenmittel verfügen nur diejenigen, die noch mit Pasolinis „Liebe zu Büchern und zum Leben” statt mit dem Blablabla und dem Gekreische auf allen Kanälen und Monitoren aufgewachsen sind. Schwieriger haben es die jüngeren Vertreter der italienischen Literatur. Einer von ihnen, der 1959 geborene Sandro Veronesi verrät in seinem neuen, mehrfach preisgekrönten Roman auch die Gründe. Der Titel der italienischen Originalausgabe „La forza del passato” – die Macht oder des Vergangenen – ist ein Pasolini-Zitat und ruft eine berühmte Szene der Filmgeschichte in Erinnerung: In Pasolinis Film „La ricotta” („Der Weichkäse”) aus dem Jahr 1962 hatten gleich drei Riesen aus einer heute verblichenen Generation zu einem Film im Film zusammengefunden. Der Autor und Regisseur Pasolini ließ sich durch den Hauptdarsteller Orson Welles vertreten, dem in der Originalfassung der Schriftsteller Giorgio Bassani seine Stimme lieh.
Vor den Toren von Roms Cinecittá saß Orson Welles breitbeinig im schwarzen Regiesessel und beantwortete während einer Drehpause die Fragen eines Reporters („Ihre Meinung über Federico Fellini?” – „Er tanzt!”). Das Interview ist zu Ende, da ruft Welles den Reporter nochmals zurück, zieht ein Buch von Pasolini aus dem Jackett und trägt daraus ein Poem vor. Vom „äußersten Rand einer begrabenen Zeit” spricht da ein ruheloser Vagant, der zum „Zeugen” der „ersten Szenen der Nachgeschichte” bestellt ist: „Io sono una forza del passato... – Ich bin eine Macht aus vergangenen Zeiten, / nur in der Tradition liegt meine Liebe. / Ich komme von den Ruinen, den Altartafeln, den Kirchen, / von den verlassenen Dörfern des Appenin und der Voralpen, wo die Brüder einst lebten ... // ...die nicht mehr sind.”
Vierzig Jahre danach setzt sich der Jungautor, der so jung nicht mehr ist, dem Verlust der Anschlussmöglichkeiten an die von Übervätern verkörperten Traditionen aus. Veronesi gehört einer unspektakulären Generation von Wohlstandskindern an, die ihre ersten Abenteuer im Fiat 127 Bambino sammelten. Wenn sie aus einer ihnen selbst bisweilen unbegreiflichen Traurigkeit heraus nicht schweigen, dann drücken sie das, was ihnen auf der Zunge liegt, zumeist auf leichte, routinierte und sympathische Art aus, auch wenn es nur Spielmaterial aus einem schier endlosen Vorrat an Zitaten oder Zitaten von Zitaten ist.
Statt damit flott zu kokettieren oder sich eines entliehenen Pathos’ zu bedienen, begegnet Veronesi dem Dilemma seiner Generation mit Selbstironie: Der Held seines Romans, ein erfolgreicher Kinderbuchautor namens Gianni Orzan, wird gleich eingangs von einer Journalistin gefragt, ob er „ein trauriger Mann” sei. Darauf weiß er so recht keine Antwort, gleichwohl ihn die Frage weiter beschäftigt. Eigentlich fallen ihm nur Zitate aus der eigenen Kindheit und Jugendzeit ein, „aus Filmen, Gedichten, Rockmusik und so weiter”, wie es einmal eine beflissene Leserin seiner Kinderbücher bemerkt.
Das Geheimnis des Vaters
Und so könnte das als ein ununterbrochenes Selbstgespräch inszenierte Alltagsdrama light des von einer Schreibblockade und obendrein von einer Ehekrise geplagten Gianni Orzan weitergehen, wäre da nicht jene beunruhigende Macht aus der Vergangenheit, die im Titel der deutschen Übersetzung leider zu „Sein anderes Leben” verschmockt wurde. Eine Enthüllung aus dem „unsichtbaren Italien” macht ihm schwer zu schaffen: Giannis gerade verstorbener Vater, ein ehemals hochrangiger Armeegeneral und angesehener Christdemokrat, der Sonntags gemeinsam mit Andreotti zur Messe ging und mit dem sich der Sohn stets über Politik stritt, sei in Wirklichkeit ein russischer Agent gewesen. Er habe einen Mord begangen, um sich eine fremde Identität anzueignen, unter der man ihn nach Italien eingeschleust habe, wo er sich für einen künftigen Ausbruch des Dritten Weltkriegs als „Schläfer”bereithalten sollte.
Der Mitwisser des Vaters verwickelt Gianni in ein Katz-und-Maus-Spiel der Erinnerungen, bei dem der Jüngere den Kürzeren zieht, zumal der Ältere auch die Taschenspielertricks des Kinderbuchautors durchschaut. Die Schlüsselszene spielt in einem neumodischen Restaurant, wo „Roller-Betty” auf Inlineskates die Gäste bedient und die dinierenden Fünfzigjährigen - die von Pasolini einst gescholtenen, unterdessen ergrauten „figli di papa” („Vatersöhnchen”) – müde und unbekümmert auf eine Provokation reagieren: Gianni Orzan sagt seinem Gegenüber laut ein Gedicht aus dem Gedächtnis auf – das von Orson Welles vorgetragene Poem aus Pasolinis Film. Als er seinem verbalen Sparringspartner, dem er noch immer nicht glauben will, die Rollenverteilung des Films erläutert, macht er einen entscheidenden Fehler. Die Korrektur erfolgt zwar eher beiläufig, doch mit dem Nachweis, dass die vagen Erinnerung desjenigen, der von Zitaten lebt, allzu leicht der Täuschung unterliegen, sind mit einem Male auch alle anderen Gewissheiten dahin.
In Pasolinis Film hatte Orson Welles den Reporter am Ende mit der Eröffnung verblüfft, der Produzent des Films sei zugleich auch der Verleger der Zeitung, für die der andere arbeite. Auch in Veronesis Roman trägt keine Macht aus der Vergangenheit, sondern eine aus der Gegenwart den Sieg davon – die banalste alle Mächte: die Gewohnheit. Und der Held des Romans fährt nicht einmal schlecht damit.
VOLKER BREIDECKER
SANDRO VERONESI: Sein anderes Leben. Roman. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. C. Bertelsmann Verlag, München 2001. 254 Seiten, 20,45 Euro.
Ich bin eine Macht aus vergangenen Zeiten: Orson Welles in Pasolinis Film „La Ricotta” (1962). Da war der Romanautor Veronesi drei Jahre alt.
Foto:United Press
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