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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2006

Austern schlürfen im Schatten der Vorstädte
Wie paßt die französische Zeitgeschichte in das Universum der alten revolutionären Ideale? Rod Kedwards gelungene Darstellung des modernen Frankreich

Als die Kinder französischer Einwanderer im November vergangenen Jahres in ihren Wohnsilos Autos in Brand steckten, porträtierte die Presse in den Vereinigten Staaten Frankreich als ein Land, das im Flammenmeer versinke, während deutsche Kommentatoren süffisant anmerkten, daß man in Paris "Austern schlürfe" und vom sozialen Meltdown vor der eigenen Haustür nichts wissen wolle. Beide Wahrnehmungen waren interessant, weil sie viel über das Frankreich-Bild der jeweiligen Länder aussagten. Beiden gemein war auch das Unverständnis, daß das Leben der Pariser Mittelklasse tatsächlich von den Vorstadt-Unruhen kaum oder gar nicht berührt wurde, denn hier haben sich längst (wie in jedem Land mit einem hohen Anteil an Einwanderern) separate und parallel existierende Gesellschaften gebildet, die einander hauptsächlich durch Stereotype in den Medien kennen.

Die Ideen von Frankreich, die aus diesen Wahrnehmungen entstehen, sind auch für die Franzosen selbst fast immer umstritten, denn es ist wohl das zentrale Paradox der französischen Identität, daß einerseits de Gaulles "certaine idée de la France" als eines Landes mit einer großen historischen Mission und Geschichtsmacht fortlebt, während andererseits eine konstante und oft erbitterte Diskussion darüber herrscht, was es eigentlich heiße, Franzose zu sein. Kein europäisches Land hat eine so exaltierte Ansicht von sich selbst, und in keinem anderen Land außer in Deutschland wird sie so dauerhaft und so radikal hinterfragt und neu formuliert.

Die Debatte um die "loi de 23 février", das Gesetz, das vorsieht und sogar vorschreibt, Frankreichs Kolonialgeschichte und besonders "die Präsenz in Nordafrika" sei an Schulen in ein positives Licht zu setzen, hat das wieder vor Augen geführt. Eingebracht von ehemaligen Kolonialisten und (gedankenlos oder bewußt provokativ sozusagen vor dem Hintergrund qualmender Autowracks) verabschiedet mit einer Mehrheit von Chiracs Regierungspartei, wurde der Text von Historikern unter Hinweis auf hunderttausendfache Folter, Vergewaltigung und Tötung im Algerien-Krieg so scharf angegriffen, daß Chirac einlenkte und eine Revision beschloß.

Rod Kedwards ausgezeichnete Gegenwartsgeschichte Frankreichs spiegelt diese verwirrende Vielzahl der Wahrnehmungen wider und arbeitet die Leitmotive der modernen französischen Identität heraus. Als ausgezeichneter Kenner (Kedward ist emeritierter Professor der Sussex University und ein wichtiger Historiker des französischen Widerstands) und betont unparteiischer Beobachter schafft er einen beeindruckenden Überblick über politische und ideologische Entwicklungen im Frankreich des zwanzigsten Jahrhunderts.

Besonders im ersten Teil des Buches nehmen Zeitungsartikel eine wichtige Rolle als historische Quellen ein. Manchmal verdrängt der politische Fokus mit seinen ständig wechselnden Parteien und Politikern eine eingehendere Analyse gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen. Es scheint paradox, daß ein Historiker, der sich so stark mit französischer Historiographie auseinandergesetzt hat wie Kedward, so wenig von der Annales-Methode absorbiert hat, so wenig auf Alltagskultur und soziale Dokumentation nichtschriftlicher Einstellungen zurückgreift. Zwar erwähnt Kedward Pierre Noras monumentale Studie der Erinnerungsorte (der "Lieux de mémoire"), aber er selbst bespricht zum Beispiel das Phänomen von Museen und anderen Erinnerungsorten erst am Ende des Buches und erst auf die Gegenwart bezogen. Natürlich bleiben inhaltlich einige Anmerkungen, etwa zu der Darstellung des Résistance-Helden Jean Moulin, der überwiegend negativen Beurteilung von Pierre Mendès-France oder zum beinahe apologetischen Ton, mit dem Sartre beschrieben wird, das aber sind seltene Unschärfen in einer ansonsten klaren und unparteiischen Darstellung.

Um so schärfer Kedwards Hauptargument des Buches: der immer neue Versuch, Wesen und Mission Frankreichs zu bestimmen und das Erbe der Revolution, dessen universeller Anspruch den Kern der "exception française" ausmacht, dem Wandel der Umstände anzupassen. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts verlief diese Front zwischen jakobinischen und katholischen Lagern, wobei sowohl Sozialisten als auch die Konservativen die Revolution für sich beanspruchten: erstere als Befreiungsschlag und revolutionäre Aufgabe, zweitere als Stunde Null der französischen Nationalidentität.

In den fünfziger Jahren der Vierten Republik wurde die Debatte nicht durch das Erbe von Vichy und den Kalten Krieg zementiert, sondern durch die Zentrifugalkräfte des auseinanderfallenden Kolonialreiches aus den Angeln gerissen. Indochina und besonders Algerien wurden zu einem weithin verdrängten nationalen Trauma, dessen Schatten über de Gaulles Fünfte Republik fiel. Dem General, dem Land durch französische Armee-Putschisten in Algerien aufgezwungen, fehlte es in den Augen seiner Kritiker an demokratischer Legitimität. Die Reaktion darauf - der Mai 1968 - ist dabei nicht nur ein Neubeginn, sondern auch eine Rückkehr zur revolutionären Tradition des Landes.

Mit dem steigenden Einfluß einer globalen, mit den Vereinigten Staaten identifizierten Lebensart in der Zeit nach de Gaulle begann die Debatte um das Ende der französischen Ausnahmestellung in der Welt, das Ende der französischen Mission, das Ende der Werte, auf denen die säkulare, republikanische Identität Frankreichs seit über zweihundert Jahren beruht hatte. Die Front verlief nicht mehr zwischen Katholiken und Säkularisten, sondern zwischen einem früher undenkbaren Konglomerat von gaullistischer Rechter, dem rechten Rand um die Front National und Kommunisten, die tendenziell an einer franko-französischen Version der nationalen Mission festhalten, und einem zweiten, bürgerlichen Lager aus Sozialisten, Liberalen und gemäßigter Rechter, deren Vision von Frankreichs Zukunft europäisch und übernational geprägt ist.

Die ideologische Verwerfung zwischen exklusiver Nationalität und dezentralisierter Integration spiegelt sich auch in den Themen, die noch heute die politisch-ideologische Diskussion bestimmen, besonders wenn es um die Fähigkeit des Staates geht, Andersartigkeit zu akzeptieren. Im Falle der oft muslimischen maghrebinischen Einwanderer basiert Integration auf einem Eingeständnis des eigenen historischen Versagens nicht nur in Algerien, sondern auch in Frankreich, wo man mit den Wohntürmen in den Banlieues Zonen schuf, in denen die republikanischen Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit außer Kraft gesetzt waren. Die Banlieues ins Universum französischer Ideale zurückzuholen ist eine der größten Herausforderungen, die das revolutionäre Erbe an das Land stellt.

Dieselbe Frage stellt sich im Kontext der Regionalisierung, die, oft als eine Gegenutopie zur Herrschaft der amerikanischen Kultur entworfen, schon wegen des französischen Kultes von Ursprung und Terroir auf große öffentliche Zustimmung trifft, vor allem für die Galionsfigur dieser Bewegung, den Aktivisten und Roquefort-Produzenten José Bové, dessen Kreuzzug gegen McDonald's und genetisch manipuliertes Getreide und für lokale Selbstbestimmung ihn zu einem nationalen Sympathieträger gemacht hat. Die Bewahrer der revolutionären Ideale sehen die Gefahr des Auseinanderdriftens der französischen Identitäten zwischen islamischen Gegenentwürfen und regionaler Unabhängigkeit mit Entsetzen. Jacques Attali formulierte dies eindrücklich in der Wochenzeitschrift "L'Express": "Der Effekt dieses eskalierenden Wunsches nach Unterschiedlichkeit wäre verheerend ..., das Ende des französischen Ausnahmestatus, der unser Land für mehr als tausend Jahre vor dem schlimmsten Feind der Demokratie bewahrt hat: vor der Herrschaft der Minderheiten. Im besten Falle wäre Frankreich ein großes Belgien, im schlechtesten ein kleines Rußland." Mit französischen Augen gesehen, gibt es wohl keine grausamere Vision.

PHILIPP BLOM

Rod Kedward: "La Vie en bleu". France and the French since 1900. Allen Lane, London 2005. 769 S., geb., 30,- £.

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