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Über Liebe und Liebesfluchten. Ein Ehepaar lebt seit einigen Monaten getrennt, und obwohl beide ihre Leben neu eingerichtet haben, behält jeder seine Erinnerungen an den anderen, im Alltag, in neuen Begegnungen. Prix Décembre 2009.

Produktbeschreibung
Über Liebe und Liebesfluchten. Ein Ehepaar lebt seit einigen Monaten getrennt, und obwohl beide ihre Leben neu eingerichtet haben, behält jeder seine Erinnerungen an den anderen, im Alltag, in neuen Begegnungen. Prix Décembre 2009.
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Autorenporträt
Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957 in Brüssel, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. Romanveröffentlichungen, mehrere Filmdrehbücher und führte selbst Regie. Der Autor lebt in Brüssel und auf Korsika.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2010

Die Nacht von Tokio
Jean-Philippe Toussaints großartiger, kleiner Roman "Die Wahrheit über Marie"

Ein Mann erhält einen Anruf, mitten in der Nacht. Es ist eine Pariser Sommernacht, seit Tagen herrscht eine scheußliche, schweißtreibende Hitze, der Mann schläft schlecht. Neben ihm liegt eine Frau, sie heißt Marie; die Frau, die ihn anruft, heißt auch Marie, und es ist die Frau, die er eigentlich liebt.

Der Mann rennt deswegen, mitten in der Nacht, gegen halb drei Uhr morgens, durch das überhitzte, leergefegte Paris, vorbei am Reiterstandbild auf der Place des Victoires, zu ihrer Wohnung. Dort sieht er einen Krankenwagen. Ein Mann wird auf einer Trage aus dem Haus transportiert, kein Mensch mehr, sondern mit Beatmungsapparaturen gesichertes Fleisch, etwas, das aussieht wie die bröseligen Überreste eines chemischen Experiments, das in einer großen Explosion endete. Oben in der Wohnung steht, nur mit einem T-Shirt bekleidet, Marie, die die Nacht mit diesem Mann verbrachte, zwischen einer halb geleerten Flasche Grappa und einem abgeschalteten Ventilator.

Der Beginn dieses kleinen, großartigen Romans ist eine Rekonstruktion: Der Erzähler stellt sich vor, was in dieser Nacht passiert ist, die seine ehemalige Freundin Marie mit dem wohlhabenden, älteren Jean-Christophe de G. verbracht hat, bevor der eine Herzattacke bekam und aus Maries Wohnung, die auch einmal die Wohnung des Erzählers war, abtransportiert werden muss und bald darauf stirbt. "Später, als ich an die dunklen Stunden dieser glutheißen Nacht zurückdachte, wurde mir bewusst, dass wir beide, Marie und ich, damals im gleichen Augenblick Liebe gemacht hatten, nur nicht miteinander": Selten hat der erste Satz eines Romans alles, was folgt, den Ton, die Tragik, den Humor, den schleichenden Wahnsinn der Geschichte so extrakthaft vorweggenommen.

Ein Paar trennt sich; die Frau, Marie, lernt bei einer ihrer Ausstellungen in Tokio einen reichen Franzosen kennen, der Jean-Baptiste de Ganay heißt, vom Erzähler aber hartnäckig Jean-Christophe de G. genannt wird, als habe er nicht einmal Lust, seine Lebenszeit mit dem langatmigen Namen seines Widersachers zu verplempern. Marie, die "völlig illegal Musikstücke aus dem Internet herunterlädt", "Marie mit ihrem so strapaziösen Hang zu geöffneten Fenstern, geöffneten Schubladen, offenen Koffern, ihrem Hang zu heillosem Durcheinander, Chaos, Wirbelwinden und stürmisch bewegter Luft", ist eine der schönsten Figuren der neueren französischen Literatur. Ihr Liebhaber, Jean-Christophe de G., besitzt einen Reitstall und nimmt in Tokio an einem Vollblut-Turnier teil, muss aber eines seiner Pferde, das unter dem Verdacht steht, gedopt zu sein, über Nacht mit einer Cargo-Maschine außer Landes bringen, was schwieriger ist als gedacht, weil dieses Pferd am Flughafen Tokio Narita aus seiner Transportbox ins Dunkel der Nacht flieht - während Marie mit 140 Kilo Gepäck auf seinen Besitzer wartet.

Für Menschen, die Metaphern lieben, bietet dieses Buch soviel wie für all die, die Literaturwissenschaft vor allem als Herleitungsgeschichte betreiben: Das in einer Lufthansa-Cargo-Boeing heimfliegende Pferd - ein trauriger Pegasus-Nachfolger. Aus der Romantik bekannt: Das Doppelgängermotiv, das sich wie ein kunstvolles Netz unter dem Roman ausbreitet. Zwei Frauen, die Marie heißen und gleichzeitig geliebt werden; zwei Pferde, das gedopte von Jean-Christophe de G. und das von Maries Vater, beide sind am Ende verletzt. Am Anfang des Romans herrscht übergroße Hitze, am Ende brennt ein Pferdestall nieder. Aber das Großartige an diesem Buch ist vor allem seine Sprache, die den Gerinnungspunkt markiert, an dem das Gesprochene, Unmittelbare, noch nach Worten Suchende zum Text wird: "Aller Wahrscheinlichkeit nach, angesichts der Uhrzeit, zu der Marie in unsere Wohnung zurückgekehrt ist (in unsere Wohnung oder vielmehr in ihre Wohnung, man müsste jetzt sagen, in ihre Wohnung, weil wir seit vier Monaten nicht mehr zusammenwohnten) und angesichts der fast identischen Uhrzeit, zu der ich in meine kleine Zweizimmerwohnung zurückkehrte, in die ich nach unserer Trennung gezogen war, nicht allein, ich war nicht allein - mit wem ich zusammen war, spielt keine Rolle, darum geht es hier nicht -, dürfte es zwanzig nach eins, höchstens halb zwei morgens gewesen sein, als Marie und ich in dieser Nacht in Paris Liebe machten" - es ist, als renne man neben dem Autor her zum nächsten Ereignis, als rufe er einem, völlig außer Atem, zu, was eben passiert ist.

Toussaint, geboren 1957, wurde Mitte der achtziger Jahre mit seinem Roman "Das Badezimmer" berühmt, der Geschichte eines Mannes, der in sein Badezimmer zieht, wo ihn seine Freundin mit dem Nötigsten versorgt. Diese Freundin heißt Pascale, was ein philosophischer Gag ist, eine Anspielung auf Blaise Pascals Diktum, alles Unglück der Welt rühre daher, dass die Menschen nicht ruhig in ihren Zimmern bleiben könnten.

Auch in seinem neuem Roman liegt das plötzlich aufscheinende Glück in einer inselhaften, zenhaften Immobilisierung inmitten hektischer, absurder und sinnloser Bewegungen - als Marie und der Erzähler still am Fenster stehen und sehen, wie ein Alarm bei der Banque de France für große Hektik sorgt. Die Hektik der Menschen, die rastlos, wie Atome in einem Teilchenbeschleuniger, durch die Gegend geschossen werden, führt bei Toussaint mit schöner Regelmäßigkeit ins Nichts. Am Ende der verhängnisvollen Nacht werden die Bilder, die sich alle voneinander machten, immer unschärfer, alles ist dunkel; der Bildschirm des Laptops hat sich abgeschaltet, nur die blaue Kontrolllampe brennt und wirft ihr hartnäckiges, nichts erhellendes Licht auf das Chaos der Dinge; eine Szene, in der der Bildtheoretiker, der Jean-Philippe Toussaint seit Romanen wie "Der Fotoapparat" auch ist, durchscheint. Vor allem aber ist er der beste, erfindungsreichste, beobachtungsschärfste französischsprachige Erzähler der Gegenwart; seine Bücher sind Tiefenbohrungen ins Heute, und es ist nicht verständlich, warum er in Deutschland, wo jeder durchschnittliche, konventionelle, langatmige amerikanische Roman als Offenbarung gefeiert und zigtausendmal verkauft wird, nicht viel mehr gelesen wird.

NIKLAS MAAK

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2010

Es knacken die Gefühle
Jean-Philippe Toussaint schnürt einen neuen Knoten in die Endlosschlaufe der Liebesgeschichte mit Marie
Wer das Werk Jean-Philippe Toussaints kennt, mag stutzen. So schlicht und so dicht, wie der Titel seines neuen Buches „Die Wahrheit über Marie“ sie ankündigt, ist Wahrheit gar nicht möglich – und beziehe sie sich auch auf die aus früheren Romanen schon bekannte Marie. Am allerwenigsten kann einer sie wissen, der halb als verlassener Geliebter, halb als Erzähler in der Ich-Form durch die Handlung schleicht.
Dass er bis vor wenigen Monaten noch mit Marie zusammenlebte, glauben wir gern. Auch dass er sie um drei Uhr morgens auf deren unerwarteten Anruf hin in der ehemals gemeinsamen Wohnung aufsucht. Jenes „naturgegebene innere Wissen“, jenes „absolute Verstehen“ Maries aber, das er, selbst angesichts ihres konfusen Verhaltens in jener Gewitternacht, für sich reklamiert, muss mit einer besonderen Art von Einsicht zu tun haben. Eben ist dieser Frau ein Mann aus der Liebesumarmung heraus weggestorben, und nun will sie auf der Stelle eine Kommode in den Keller transportieren: ein Unternehmen, bei dem der herbeigeeilte Erzähler willig zupackt. Seine Kenntnis Maries muss also mit etwas zu tun haben, das tiefer reicht als bloß gewusste Wahrheiten. Tatsächlich waren die Leiber der beiden Getrennten im selben Augenblick jener Gewitternacht im Liebesakt gerade noch verbunden – nur eben nicht miteinander.
Toussaint hebt hier seine Kunst, disparate Momente eines Handlungsablaufs unters Gesetz eines unbedingten inneren Zusammenhangs zu bringen, in einen neuen Aggregatzustand. So nah am Schmelzpunkt von Logik und Erotik war er bisher nie. Im Grappa-Geschmack auf Maries feuchtwarmen Lippen in der Vorgewitterhitze der Liebesnacht mit JeanChristophe de G. überlagert sich Erinnerung an andere Nächte auf Elba mit dem Ex, dem Erzähler. Am Badestrand von Elba lässt die nackt auf dem Rücken schwimmende Marie Schamhaare und Brustspitzen aus der sachten Brandung auftauchen. Es ist, als wäre Kitsch in diesem Buch in mathematische Formeln gefasst. Zeitgenössischer Schmalspurindividualismus und panoramische Mythenarchaik verbinden sich zum schlichten Ereignisablauf, ohne dass Bildsträhnen und Ambiente im Erzählen Fäden zögen. Die Sinnlichkeit dieser Liebesgeschichte knackt in der Präzisionsmechanik marginaler Detailschilderungen, zwischen denen die große Liebe sentimental, rational, banal, magistral zerkleinert wird.
Wenn der im ersten Romanteil durchs offene Fenster hereinprasselnde Gewitterregen das unschlüssige Liebestreiben Maries mit dem Rennpferdezüchter Jean-Christophe de G. in der Pariser Wohnung unters Zeichen des Stoffelements Wasser stellt, steht der zweite Teil mit einer überstürzten Abreise samt Rennpferd aus Tokio ganz im Zeichen der Luft. Er gipfelt in einer polternden Wackelpartie im dunklen Rumpf einer Lufthansa Cargo hoch über den Wolken. Im dritten Teil fegt ein Waldbrand über die Insel Elba hinweg und bringt Marie in eine neue Nähe zum Erzähler. Das durchgängige vierte Element dieses Romans ist die merkwürdige Liebe des Paars, das seit mehreren Romanen Toussaints nicht voneinander wegkommt. Es ist eine erdschwere und zugleich sprunghaft leichte Liebe, die mehr von Gesten und flüchtigen Körperberührungen als von Worten und langen Erklärungen lebt.
Marie bleibt auch in diesem Buch ein Rätselwesen aus Kindfrau, Tyrannin, Herrin der höheren Lebenskunst und Verkörperung triumphierender Unberechenbarkeit. Ihre Reisetaschen bleiben ewig offen wie ihre Fenster, Schubladen und Bücher. Ihre Weltfremdheit aus dauerndem Zuspätkommen und abstrusen Einfällen im Stress überspielt sie mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Unbekümmertheit, Panik, gutem Willen und überbordender Phantasie. Mit Psychologie, erklärenden Worten oder Gefühlen von der gemeinen Sorte ist dem allerdings nicht beizukommen – das ist dem Erzähler bei Toussaint schon seit mehreren Romanen klar. So hat er sich darauf verlegt, in die verborgensten Lebenssituationen Maries vorzudringen und erzählend dabei zu sein, wo er als deren Ex eigentlich gar nichts mehr zu suchen hat.
In den üblichen Erzählkoordinaten aus Raum und Zeit ist das natürlich nicht mehr fassbar.
Wie in einer Vorahnungs- und Erinnerungsstaubwolke geraten alle Dinge durcheinander. Das beim Verladen auf dem Narita Airport in Tokio entwischte Rennpferd verschwindet nicht einfach auf dem nächtlichen Flugplatzgelände, sondern schmilzt mit dem Schwarz seines Fells gleichsam in die Nacht hinein. Im dunklen Frachtraum des Flugzeugs bewegen sich nach dem Abflug dann Pferd samt Begleitern wie in einem Stück absoluter Raumlosigkeit durch den leeren Himmel. Beim Waldbrand auf Elba fahren Marie und der Erzähler im Auto panisch durch Rauchschwaden katastrophaler Ereignislosigkeit. Selbst wenn Marie schon wieder nixenhaft im Meerwasser sich tummelt, spielt die Brandung nicht auf Strand und Küste, sondern in der sanften Mulde ihres Bauchs. Gewitterausbrüche, Flugmotorengetöse, Waldbrände und Meeresbrandung sind hier nicht Kulisse, sondern Substanz einer Liebesgeschichte, die jenseits fast schon von Glück und Schmerz auch in diesem Roman zu keinem Abschluss kommt. Und keiner hätte diese Endlosschlaufe der Liebe bauschiger, straffer, knisternder, schärfer umzuschnüren vermocht als Joachim Unseld, Toussaints Übersetzer, Verleger und verlässlichster Zeuge in Deutschland.
JOSEPH HANIMANN
JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT: Die Wahrheit über Marie. Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 2010. 190 Seiten, 19,90 Euro.
In den Erzählkoordinaten
von Raum und Zeit ist
diese Intimität nicht mehr fassbar
Dass Maries Ex sie um drei Uhr morgens in einer Pariser Gewitternacht aufsucht, muss mit einer besonderen Einsicht zu tun haben. Foto: Andrew Fox/Corbis
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