Der in England lebende Autor V. S. Naipaul unternahm eine Reise nach Indien, die Heimat seiner Vorfahren. Je weiter er in das Riesenland vordrang, je besser er es kennenlernte, desto tiefer wurde er sich seiner Fremdheit bewußt. Seine Analyse: Die gebildeten Schichten des Landes haben die westlichen Wertmaßstäbe kritiklos übernommen, während zugleich traditionelle Konzepte weitergepflegt wurden, so daß die indische Gesellschaft insgesamt an einer Art Schizophrenie krankt. Der Rückflug nach London wird für Naipaul zur Flucht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.1997Finstere Heimat
V. S. Naipaul blickt zurück
Oft drängt sich bei der Lektüre die Frage auf: Warum kommt die Übersetzung so spät? Zwangsläufig hat manches darin inzwischen Patina angesetzt. V. S. Naipaul vollendete "Land der Finsternis" im Februar 1964, im selben Jahr ist "An Area of Darkness" - als Frucht eines langen Indienaufenthalts - in London erschienen. Dorthin hatte es den Nachkommen indischer Arbeitsemigranten aus Trinidad zu Studium und erhoffter literarischer Karriere verschlagen. Die Reise des jungen Schriftstellers 1962 war eine Expedition in die eigene familiäre Vergangenheit, auf der Suche nach dem verlorenen Mythos Indien. Das Ergebnis erinnert an eine Mischung aus Reportage, Traktat und autobiographischer Rechenschaft. Mit Recht spricht der Klappentext von einem "Schlüsselwerk für das gesamte OEuvre": Das Motiv der Entwurzelung wurde in unzähligen Variationen zum Lebensthema.
Schon der Titel klingt wenig euphorisch, und daß Naipauls heftige Kritik an der Grenze zur Polemik dem offiziellen Indien seinerzeit nur geringe Freude bereitete, verwundert kaum. Denn sein Blick auf die "fremde Heimat" wirkt nicht gerade freundlich. Kein Zweifel, da beobachtet kein sentimentaler Pilger oder gutwilliger Tourist, eher ein neugieriger Ethnologe. Doch für rein wissenschaftliche Forscherperspektive fehlt es ihm offensichtlich an unbeteiligter Kühle. Fast alles scheint ihm sehr auf die Nerven zu gehen. Er kränkt sich über bürokratische Schikanen von erhabener Sinnlosigkeit, über den stumpfen Gleichmut angesichts von Elend und Dreck, über die damals noch erdrückenden Folgen der Herrschaft des Empire. Aber genau das macht das Spannungsmoment des Bandes aus: Naipauls Verwundbarkeit schärft sein Sensorium ungemein.
Zum ersten Mal verwendet er hier übrigens eine später charakteristische Darstellungsweise. Mit Hilfe von persönlichen Schicksalen und Geschichten erzählt er überpersönliche Geschichte. Innere Deformation vermag er nie zu verzeihen, obwohl er deren Ursachen stets begreift, im Gegenteil: Er nimmt Verkrümmtes und Verkümmertes übel bis zu Bitterkeit, ja Verachtung. Das Kastenwesen beschreibt er als "Unterteilungen von Herabwürdigung". Romantisierungstendenzen, kollektive Selbsttäuschung und Phrasennebel beeindrucken ihn gar nicht: "Ich war weder Engländer noch Inder und konnte weder englische noch indische Siege auskosten." Naturgemäß lernen wir von ihm ganz nebenbei eine Menge über die schwer überschaubare Vielfalt von Indiens Mentalität und Kultur, über Riten und Religionen. Dankbar nimmt man obendrein einen Einrichtungsratschlag aus dem Kamasutra zur Kenntnis: "In der Nähe des Bettes sollte ein Diwan stehen, auf dem der Geschlechtsakt stattfinden kann, ohne daß das Bett beschmutzt wird."
Relativ geruhsam verliefen mehrere Monate an einem See im Hochtal von Kaschmir, wo sich Naipaul den Wallfahrern zu einer heiligen Höhle im Himalaya anschloß: Der Bericht liest sich wie eine heiter grundierte absurde Novelle. Am meisten ziehen jedoch die Schlußkapitel in ihren Bann. Der Autor besucht jenes Dorf, aus dem sein Großvater einst in die Neue Welt aufgebrochen war. Die Begegnung mit dem Ursprungsort seiner Heimatlosigkeit erzeugt Angst und Panik - als wollte den unfreiwilligen Weltbürger plötzlich seine Herkunft verschlingen. Kein Weg führt zurück, der zutiefst Entfremdete muß sein Heil in der Flucht suchen.
Leider weist der Verlag nicht ausdrücklich auf die mittlerweile bereits als Taschenbuch erhältliche Fortsetzung von "Land der Finsternis" hin. 1989 fuhr V. S. Naipaul abermals kreuz und quer durch den Subkontinent und zeichnete hierauf ein etwas anderes, positiveres Bild: "Indien. Ein Land in Aufruhr". Wer das eine kennt, möchte das andere nicht missen. ULRICH WEINZIERL
V. S. Naipaul: "Land der Finsternis. Fremde Heimat Indien". Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997. 352 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
V. S. Naipaul blickt zurück
Oft drängt sich bei der Lektüre die Frage auf: Warum kommt die Übersetzung so spät? Zwangsläufig hat manches darin inzwischen Patina angesetzt. V. S. Naipaul vollendete "Land der Finsternis" im Februar 1964, im selben Jahr ist "An Area of Darkness" - als Frucht eines langen Indienaufenthalts - in London erschienen. Dorthin hatte es den Nachkommen indischer Arbeitsemigranten aus Trinidad zu Studium und erhoffter literarischer Karriere verschlagen. Die Reise des jungen Schriftstellers 1962 war eine Expedition in die eigene familiäre Vergangenheit, auf der Suche nach dem verlorenen Mythos Indien. Das Ergebnis erinnert an eine Mischung aus Reportage, Traktat und autobiographischer Rechenschaft. Mit Recht spricht der Klappentext von einem "Schlüsselwerk für das gesamte OEuvre": Das Motiv der Entwurzelung wurde in unzähligen Variationen zum Lebensthema.
Schon der Titel klingt wenig euphorisch, und daß Naipauls heftige Kritik an der Grenze zur Polemik dem offiziellen Indien seinerzeit nur geringe Freude bereitete, verwundert kaum. Denn sein Blick auf die "fremde Heimat" wirkt nicht gerade freundlich. Kein Zweifel, da beobachtet kein sentimentaler Pilger oder gutwilliger Tourist, eher ein neugieriger Ethnologe. Doch für rein wissenschaftliche Forscherperspektive fehlt es ihm offensichtlich an unbeteiligter Kühle. Fast alles scheint ihm sehr auf die Nerven zu gehen. Er kränkt sich über bürokratische Schikanen von erhabener Sinnlosigkeit, über den stumpfen Gleichmut angesichts von Elend und Dreck, über die damals noch erdrückenden Folgen der Herrschaft des Empire. Aber genau das macht das Spannungsmoment des Bandes aus: Naipauls Verwundbarkeit schärft sein Sensorium ungemein.
Zum ersten Mal verwendet er hier übrigens eine später charakteristische Darstellungsweise. Mit Hilfe von persönlichen Schicksalen und Geschichten erzählt er überpersönliche Geschichte. Innere Deformation vermag er nie zu verzeihen, obwohl er deren Ursachen stets begreift, im Gegenteil: Er nimmt Verkrümmtes und Verkümmertes übel bis zu Bitterkeit, ja Verachtung. Das Kastenwesen beschreibt er als "Unterteilungen von Herabwürdigung". Romantisierungstendenzen, kollektive Selbsttäuschung und Phrasennebel beeindrucken ihn gar nicht: "Ich war weder Engländer noch Inder und konnte weder englische noch indische Siege auskosten." Naturgemäß lernen wir von ihm ganz nebenbei eine Menge über die schwer überschaubare Vielfalt von Indiens Mentalität und Kultur, über Riten und Religionen. Dankbar nimmt man obendrein einen Einrichtungsratschlag aus dem Kamasutra zur Kenntnis: "In der Nähe des Bettes sollte ein Diwan stehen, auf dem der Geschlechtsakt stattfinden kann, ohne daß das Bett beschmutzt wird."
Relativ geruhsam verliefen mehrere Monate an einem See im Hochtal von Kaschmir, wo sich Naipaul den Wallfahrern zu einer heiligen Höhle im Himalaya anschloß: Der Bericht liest sich wie eine heiter grundierte absurde Novelle. Am meisten ziehen jedoch die Schlußkapitel in ihren Bann. Der Autor besucht jenes Dorf, aus dem sein Großvater einst in die Neue Welt aufgebrochen war. Die Begegnung mit dem Ursprungsort seiner Heimatlosigkeit erzeugt Angst und Panik - als wollte den unfreiwilligen Weltbürger plötzlich seine Herkunft verschlingen. Kein Weg führt zurück, der zutiefst Entfremdete muß sein Heil in der Flucht suchen.
Leider weist der Verlag nicht ausdrücklich auf die mittlerweile bereits als Taschenbuch erhältliche Fortsetzung von "Land der Finsternis" hin. 1989 fuhr V. S. Naipaul abermals kreuz und quer durch den Subkontinent und zeichnete hierauf ein etwas anderes, positiveres Bild: "Indien. Ein Land in Aufruhr". Wer das eine kennt, möchte das andere nicht missen. ULRICH WEINZIERL
V. S. Naipaul: "Land der Finsternis. Fremde Heimat Indien". Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997. 352 S., geb., 44,- DM.
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