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Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entschwand das Land der großen Ströme an der Warthe, Weichsel, Bug und Memel weithin aus unserem Bewußtsein. Die Erinnerung an diese zu Unrecht vergessenen Landschaften, Völker und ihre Geschichte erschließt eine versunkene Welt: die uns gleichermaßen fremdartig wie vertraut anmutende west-östliche Kultursymbiose jenes Raums von Polen bis Litauen, zu deren Entwicklung die Deutschen seit dem Mittelalter ebenso entscheidend beigetragen haben wie zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Buchstäblich seit der ersten historischen Erwähnung Polens und Litauens…mehr

Produktbeschreibung
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entschwand das Land der großen Ströme an der Warthe, Weichsel, Bug und Memel weithin aus unserem Bewußtsein. Die Erinnerung an diese zu Unrecht vergessenen Landschaften, Völker und ihre Geschichte erschließt eine versunkene Welt: die uns gleichermaßen fremdartig wie vertraut anmutende west-östliche Kultursymbiose jenes Raums von Polen bis Litauen, zu deren Entwicklung die Deutschen seit dem Mittelalter ebenso entscheidend beigetragen haben wie zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Buchstäblich seit der ersten historischen Erwähnung Polens und Litauens spielte sich deutsche Geschichte in diesem Teil Europas ab, überwiegend als Geschichte von Deutschen, die hier zeitweise oder auf Dauer eine neue Heimat fanden. Stets waren jene natürliche Mittler zwischen West und Ost und ein wesentlicher Faktor der deutschen Beziehungen zu Ostmitteleuropa, einer Nachbarschaft, die zwar selten ganz frei von Spannungen, aber im Blick auf das vergangene Jahrtausend für beide Seiten fruchtbar gewesen ist. So spannt sich der Bogen dieser Darstellung über mehr als tausend Jahre, von der Anwerbung deutscher Siedler durch polnische und litauische Fürsten im Mittelalter bis zur deutschen Besatzungszeit während des Zweiten Weltkrieges und der darauf folgenden Vertreibung der Deutschen aus ihrer östlichen Heimat. Dabei wird deutlich, daß die friedlichen Zeiten guter Nachbarschaft überwogen, Kämpfe und gegenseitiger Haß eher die Ausnahme waren, beides aber zu dieser Geschichte gehört und nicht verschwiegen oder aufgerechnet werden kann.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.1996

Abseits der großen Zahlen
Ende der Stummheit: Joachim Rogall schreibt die Geschichte der Deutschen zwischen Polen und Litauen

Es muß im Jahr 1284 gewesen sein. Ein Mann zog mit einer wundersamen Pfeife durch die Stadt Hameln, und alle Kinder kamen. Der Mann zog mit hundertdreißig Minderjährigen, so heißt es, zur Stadt hinaus: Er und die Unglücklichen wurden nie wieder gesehen.

Das historische Ereignis, das der Sage vom Rattenfänger zugrunde liegt, ist ganz anders ausgegangen. Im wirklichen Leben dürften die "Entführten" in der Fremde ihr Glück gemacht haben. Der Rattenfänger soll ein Siedlungsorganisator gewesen sein, ein sogenannter Lokator, der im Auftrag des Bischofs von Olmütz junge Hamelner Bürger für die Ansiedlung in Mähren geworben haben soll. Nach einer anderen Version soll die Sage vom Exodus hamelensis auf die Abwanderung nach Pommern zurückgehen. So oder so, die Siedler wußten, was sie im Osten Europas erwartete: Privilegien, die Befreiung von Abgaben, nach westeuropäischen Rechtsformen neu zu gründende Siedlungen, Platz zum Wohnen und Land. Wohlstand, Freiheit, Selbstverwirklichung - sie hatten Grund, dem Rattenfänger dankbar zu sein.

Der junge Historiker Joachim Rogall hat mit "Land der großen Ströme" den achten von zehn Bänden der "Deutschen Geschichte im Osten Europas" verfaßt. Das Buch ist lesenswert und hervorragend illustriert. Aber Titel und Untertitel lassen stutzen. Die Weichsel, die Memel - wirklich große Ströme? Und "Von Polen nach Litauen"? Die weitaus meisten der deutschen Siedler waren in Polen zufrieden; nach Litauen sind die wenigsten gegangen, wenngleich auch dort Städte wie Vilnius und Kaunas nach Magdeburger Recht gegründet wurden.

Doch hier liegt schon der Kern eines Dilemmas: Ist "Deutsche Geschichte im Osten Europas" - eine Reihe, die noch in den achtziger Jahren von den Historikern Conze und Rhode konzipiert wurde - vor allem eine Geschichte der Deutschen und damit die Erinnerung an eine Epoche, die 1945 zu Ende ging? Oder ist sie die Geschichte vom Zusammenleben vieler Nationen, an das unter anderen Bedingungen angeknüpft werden kann?

Rogall, der zugleich Herausgeber und Verfasser der meisten Kapitel ist, hat den zweiten Aspekt in den Mittelpunkt gestellt. Sein Beitrag über Polen vom Mittelalter bis zu den Teilungen ist streckenweise eine polnische Nationalgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Beitrags und der Beziehungen zu den deutschen Staaten. Diese Geschichte wiederum war, vor allem seit der polnisch-litauischen Union von 1569, die Geschichte eines Doppelreichs. Dessen litauische Hälfte reichte von der Ostsee bis fast zum Schwarzen Meer. Für diese nationalgeschichtliche Hinführung wird der Leser sicher dankbar sein. Das genannte Dilemma ist damit aber nicht behoben.

Aus dem ersten Problem ergibt sich das zweite: Haben die Menschen des Mittelalters ihr Leben als Teil einer deutschen beziehungsweise polnischen Geschichte begriffen? Rogall weist immer wieder darauf hin, daß das mittelalterliche Nationsgefühl "weniger ethnisch-sprachlich, sondern vor allem politisch-dynastisch begründet" war. In diesem Sinne erscheint auch die Ostsiedlung weder als deutscher "Drang nach Osten" noch als "kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes", wie polnische und deutsche Historiker sie jeweils beschrieben. "Vielmehr ging die Initiative zur Übernahme westlicher Entwicklungen im Falle Polens vom Lande selbst aus", schreibt Rogall. Westeuropäische - vielfach deutsche - Rechtsformen, technische und handwerkliche Fertigkeiten wanderten von West nach Ost. Es war damals im Grunde wie heute, der Unterschied ist nur, daß damals die Menschen mitwanderten, heute dagegen lediglich die Arbeitsplätze.

Zwischen damals und heute lagen die finstersten Kapitel der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Die Ereignisse, die in wenigen Jahren das in Jahrhunderten Gewachsene zerstörten, sperren sich geradezu gegen die Darstellung in einem den langen Atem des Betrachters herausfordernden Lesebuch. Der Band ist hervorragend illustriert. Der Zweite Weltkrieg, Besatzung, Flucht und Vertreibung werden kurz und zielstrebig abgehandelt. Die Darstellung endet mit der statistischen Bilanz: Fast jeder fünfte der auf dem Gebiet Vorkriegspolens lebenden Deutschen, 293000 Menschen, haben "Krieg und Vertreibung", wie Rogall schreibt, nicht überlebt. Der Autor läßt sich auf eine Diskussion dieser vom Statistischen Bundesamt in den fünfziger Jahren errechneten Zahlen gar nicht erst ein; in der Tat ist es schwierig, die Opfer von Krieg und Vertreibung voneinander zu trennen. Niemand hat damals Buch geführt.

Die Zahl der Opfer unter den deutschen Vertriebenen für die deutschen Ostgebiete und Mittel- und Osteuropa insgesamt beläuft sich auf mehr als zwei Millionen, eine Zahl, die ermittelt wurde, indem - vereinfacht gesagt - die deutsche Vorkriegsbevölkerung der jeweiligen Gebiete um die im Stichjahr 1950 in den vier Besatzungszonen eingetroffenen Vertriebenen und die in der Heimat Verbliebenen vermindert wurde. Wie die unterwegs Umgekommenen den Tod fanden, ob in einem polnischen Lager, in Dresden durch britische Bomber, durch Hunger und Erkältung oder womöglich durch (deutsche) Wegelagerer, wird sich nie klären lassen.

Zahlen können für die Geschichtsschreibung nicht das Wichtigste sein. Paradoxerweise klammern sich die Nachfahren der Opfer - und das gilt nicht nur für die Deutschen - an möglichst hohe Ziffern, anstatt, wie es doch auch denkbar wäre, sich zu freuen und es begierig aufzugreifen, wenn ein Forscher ermittelt, daß womöglich doch weniger Menschen umgekommen sind. In der Diskussion zwischen deutschen und tschechischen Historikern, die die Zahl der Opfer unter den vertriebenen Sudetendeutschen sehr unterschiedlich beziffern, spielen Zahlen immer noch eine große Rolle. Unter Deutschen und Polen ist man inzwischen auf einer anderen Ebene angelangt. Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Deutschen in Polen hat sich seit den siebziger Jahren eindeutig nach Polen verlagert; die Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau ist gleichsam der Höhepunkt dieser Entwicklung.

Zugleich ist in Deutschland eine neue Historikergeneration auf den Plan getreten, die - wie Rogall - nicht mehr der "Erlebnis-", sondern der "Bekenntnisgeneration" der Vertriebenen angehört. Ihre Sprach- und Sachkenntnis trägt dazu bei, daß die Deutschen (polnisch niemcy) gegenüber den östlichen Nachbarn nicht mehr als "die Stummen" (niemi) auftreten müssen, als die sie den Slawen im Mittelalter erschienen waren. GERHARD GNAUCK

Joachim Rogall: "Land der großen Ströme". Von Polen nach Litauen. Siedler Verlag, Berlin 1996. 576 S., 134 Abb., 16 Farbtafeln, geb., 128,- DM.

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