Für linke Bewegungen in der ganzen Welt verkörpert Rojava die reale Möglichkeit einer besseren Gesellschaft: Im Juli 2012 begann dort die Revolution. In den drei kurdisch geprägten Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê wurde eine autonome Selbstverwaltung aufgebaut, die auf den Werten Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie beruht. Mittlerweile kontrolliert die »Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens« etwa ein Drittel des syrischen Staatsgebiets. Unter ihrem Dach vereint sie unterschiedliche Ethnien, Religionen und Sprachen.Seit ihrer Gründung musste sich die Region gegen zahlreiche Bedrohungen verteidigen. Neben den militärischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Assad-Regime sind es vor allem die existenzbedrohenden Kriege mit der Türkei und dem IS. Durch den syrischen Bürgerkrieg ist die Region zudem vom einem Embargo betroffen, was die Grundversorgung stark beeinträchtigt. Trotz all dieser Widrigkeiten hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt und relativ stabile Strukturen aufgebaut.Ein Jahrzehnt nach Beginn der Revolution untersucht Christopher Wimmer aus kritisch-solidarischer Perspektive, wie es um Anspruch und Wirklichkeit der »revolutionären Gesellschaft« bestellt ist. Auf Grundlage von über fünfzig Interviews mit Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft - aus Verwaltung, Bildungssystem, Militär, Medizin u.a. - lässt er in einer Mischung aus Reportage und Analyse ein vielstimmiges Bild des Alltagslebens, der Hoffnungen und Probleme der Menschen vor Ort entstehen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Einen nüchternen und ernüchternden Bericht über Rojava legt Christoph Wimmer hier für den Rezensenten Ingo Arend vor. 2012 hat sich dieses nordsyrische Gebiet in einem "aufsehenerregenden Akt des Widerstands" für unabhängig erklärt, sowohl von Assad als auch vom IS, die dort beide allerdings noch immer wüten, weiß Arend. So ist der Modellcharakter, den Rojava oftmals einnimmt, nur zum Teil gerechtfertigt: Die Türkei interveniert häufig, die als basisdemokratisch gedachten Räte sind zum einen zunehmend ermüdet und bewegen sich zum anderen immer deutlicher Richtung Funktionärsdasein, das merkt Wimmer besonders den Frauenräten an. Ein Buch, das nicht leicht zu verdauen ist, meint der Kritiker, aber das Spröde der Schilderungen ergänzt für ihn perfekt den Inhalt und die zentrale Deutung, dass sich Rojava auf einem schmalen Grat zwischen (staatlicher) Souveränität, Demokratisierungsbestrebungen und fehlender Anerkennung bewegt. Und trotz aller Schwierigkeiten ist Rojava als Versuch der demokratischen Einigung in einem krisengebeutelten Gebiet bewundernswert, schließen Wimmer und Arend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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