Ein improvisiertes Flüchtlingscamp im Zürcher Hauptbahnhof, ein eskalierender Wahlkampfauftakt der Rechtspopulisten, ein Anschlag auf eine eritreische Familie sowie zwei Mittzwanziger, die nicht zusammenfinden: Das sind die tragenden Elemente, auf denen Benjamin von Wyl eine melancholische und brisante Bestandsaufnahme seiner Schweiz wagt.Ein entfremdeter Mittzwanziger trifft sich mit einer nicht entfremdeten Mittzwanzigerin nach einer libidinösen Zusammenkunft auf der Dreirosenbrücke in Basel. Sie kommen zusammen und dann doch wieder nicht. Gleichzeitig steigen einige Flüchtlinge im Railjet von Wien nicht mehr in Salzburg um, sondern bleiben bis Zürich sitzen. So bildet sich ein Flüchtlingsghetto in der Zwischenebene des Zürcher Hauptbahnhofs. Die Schweizer Behörden und die SBB setzen auf Isolation. Die Situation kocht über, als die SVP ihren Wahlkampfauftakt im Hauptbahnhof feiert. Ein Konflikt zwischen einem SVP-Sympathisanten und einem Jugendlichen sorgt für eine Politisierung der urbanen Subkulturen. Dazu begründet die junge Basler Großrätin Manna del Rey eine neue politische Bewegung. Die Flüchtlinge brechen aus; eine Zeltstadt auf dem Platzspitz entsteht. Nach einem Brandanschlag auf eine eritreische Familie folgt die Eskalation. Gewalttätige Konfrontationen zwischen Schweizern und Flüchtlingen sind die Folge, es beginnt ein Bürgerkrieg zwischen den urbanen Zentren und dem Rest des Landes. Von Wyl stellt brennende Fragen im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, links und rechts, Introspektion und Extrovertiertheit. »Land ganz nah« ist endlich wieder ein kluger und gewagter politischer Roman aus der Schweiz.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2018Bürgerkrieg in den Alpen
Benjamin von Wyls Roman "Land ganz nah"
Gut in Erinnerung sind noch die Bilder vom Zürcher Hauptbahnhof, der im Hochsommer 2015 binnen weniger Tage zu einem riesigen Campingplatz für Verzweifelte mutierte. Auch die Schweiz versuchte in dieser Zeit mit einer stetig anwachsenden Masse flüchtender Menschen, vorwiegend aus dem arabischen Raum, zurechtzukommen. Aber mal ehrlich, weiß weiter östlich oder nördlich noch jemand, wie es dann dort weiterging, was mit den Menschen geschah? Benjamin von Wyl lässt dazu zwei, genau genommen: zweieinhalb Erzählstimmen auf seinen kaum 160 Seiten antreten. Das ist als Haupterzähler ein junger freier Journalist oder Werbetexter, eventuell auch beides. Er - einmal blitzt kurz der Name "Roman", auf, aber ob er wirklich so heißt? - lernt bald, noch bevor sich die Ereignisse zwischen Basel und Zürich, den beiden wichtigsten Handlungsorten, dramatisch zuzuspitzen beginnen, bei einem Clubbing Karola, die zweite Erzählstimme, kennen. Sie sind eine kurze Weile ein Paar, dann trennen sie sich, obwohl sie ein bisschen verliebt in ihn scheint. Aber das kann, aus seiner Sicht, mehr mit Drogen als mit wahren Gefühlen zu tun haben. Sie laufen einander freilich weiterhin über den Weg, bleiben auch irgendwie in Kontakt (befreundet wäre schon zu viel gesagt), arbeiten bisweilen zusammen für verschiedene Blätter und sind schließlich hauptsächlich mit den am Bahnhof Gestrandeten und den Reaktionen der "echten Schweizer" befasst.
Hübsch typographisch getrennt - seine Kapitelchen sind geradlinig gesetzt, ihre kursiv und eingerückt -, werden die beiden Ich-Erzählstimmen jederzeit deutlich. Die dritte, selten aufblitzende Stimme, ein gewisser teils englisch-, teils französisch-, teils rudimentär deutschsprachiger Johnny, dessen Text in fetten Lettern gesetzt ist, trägt eher zur Verwirrung bei. Genau wie die oftmalige Erwähnung von Karl Ove Knausgård und Rainald Grebe, ohne dass so etwas auch nur den geringsten Erkenntnisgewinn böte. Dafür werden Politiker der weit rechts stehenden SVP, neben Christoph Blocher besonders ein vermutlich für Schweizer sofort wiederzuerkennender "George Clooney vo de Aupe" (George Clooney aus den Alpen - auch lange Passagen in der jeweiligen kantonalen Mundart werden in Fußnoten auf Hochdeutsch wiedergegeben), ausgiebig als lächerliche Populisten vorgeführt. Auftritte der immer radikaler wetternden Links-Aktivistin Manna del Rey werden sowohl von Roman als auch Karola referiert und unterschiedlich kommentiert.
Und dann kommt es beinahe zu bürgerkriegsähnlichen Szenen, Stadt gegen Land, "echte Schweizer" gegen "Flüchtlingshelfer", Wallis gegen Aargau. Das Internet wird gekappt, Menschen legen Vorräte an - "noch etwa 20 Packungen Cup-to-go-Suppen, 7 Kilo Mehl, 18 Gramm Gras und 184 Liter Mineralwasser" -, bis die letzte Volte folgt, der dritte und kürzeste Abschnitt des Romans. Alles scheint wieder wie am Anfang, unter der Brücke "treibt der Rhein, weil er das tut". War die ganze alpenländische Dystopie nur ein Drogentraum?
Zum großen Teil ist dieser sogenannte Heimatroman ein Sammelsurium seltsamer Szenen aus der prekären Welt der um 1990 Geborenen und wirrer, teils selbsterfundener, teils aufgefundener als Zitate wiedergegebener Sprüche und Pamphlete. Fesselnd daran aber ist das völlig unerwartete Bild, das er von der sonst immer als bieder wahrgenommenen und sich auch selbst so präsentierenden Schweiz zeichnet. Sind die dort, hinter den sieben Bergen, wirklich so? Man kann sich wohl auf gar nichts mehr verlassen.
MARTIN LHOTZKY
Benjamin von Wyl: "Land ganz nah".
Ein Heimatroman.
Lectorbooks, Zürich 2017. 160 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Benjamin von Wyls Roman "Land ganz nah"
Gut in Erinnerung sind noch die Bilder vom Zürcher Hauptbahnhof, der im Hochsommer 2015 binnen weniger Tage zu einem riesigen Campingplatz für Verzweifelte mutierte. Auch die Schweiz versuchte in dieser Zeit mit einer stetig anwachsenden Masse flüchtender Menschen, vorwiegend aus dem arabischen Raum, zurechtzukommen. Aber mal ehrlich, weiß weiter östlich oder nördlich noch jemand, wie es dann dort weiterging, was mit den Menschen geschah? Benjamin von Wyl lässt dazu zwei, genau genommen: zweieinhalb Erzählstimmen auf seinen kaum 160 Seiten antreten. Das ist als Haupterzähler ein junger freier Journalist oder Werbetexter, eventuell auch beides. Er - einmal blitzt kurz der Name "Roman", auf, aber ob er wirklich so heißt? - lernt bald, noch bevor sich die Ereignisse zwischen Basel und Zürich, den beiden wichtigsten Handlungsorten, dramatisch zuzuspitzen beginnen, bei einem Clubbing Karola, die zweite Erzählstimme, kennen. Sie sind eine kurze Weile ein Paar, dann trennen sie sich, obwohl sie ein bisschen verliebt in ihn scheint. Aber das kann, aus seiner Sicht, mehr mit Drogen als mit wahren Gefühlen zu tun haben. Sie laufen einander freilich weiterhin über den Weg, bleiben auch irgendwie in Kontakt (befreundet wäre schon zu viel gesagt), arbeiten bisweilen zusammen für verschiedene Blätter und sind schließlich hauptsächlich mit den am Bahnhof Gestrandeten und den Reaktionen der "echten Schweizer" befasst.
Hübsch typographisch getrennt - seine Kapitelchen sind geradlinig gesetzt, ihre kursiv und eingerückt -, werden die beiden Ich-Erzählstimmen jederzeit deutlich. Die dritte, selten aufblitzende Stimme, ein gewisser teils englisch-, teils französisch-, teils rudimentär deutschsprachiger Johnny, dessen Text in fetten Lettern gesetzt ist, trägt eher zur Verwirrung bei. Genau wie die oftmalige Erwähnung von Karl Ove Knausgård und Rainald Grebe, ohne dass so etwas auch nur den geringsten Erkenntnisgewinn böte. Dafür werden Politiker der weit rechts stehenden SVP, neben Christoph Blocher besonders ein vermutlich für Schweizer sofort wiederzuerkennender "George Clooney vo de Aupe" (George Clooney aus den Alpen - auch lange Passagen in der jeweiligen kantonalen Mundart werden in Fußnoten auf Hochdeutsch wiedergegeben), ausgiebig als lächerliche Populisten vorgeführt. Auftritte der immer radikaler wetternden Links-Aktivistin Manna del Rey werden sowohl von Roman als auch Karola referiert und unterschiedlich kommentiert.
Und dann kommt es beinahe zu bürgerkriegsähnlichen Szenen, Stadt gegen Land, "echte Schweizer" gegen "Flüchtlingshelfer", Wallis gegen Aargau. Das Internet wird gekappt, Menschen legen Vorräte an - "noch etwa 20 Packungen Cup-to-go-Suppen, 7 Kilo Mehl, 18 Gramm Gras und 184 Liter Mineralwasser" -, bis die letzte Volte folgt, der dritte und kürzeste Abschnitt des Romans. Alles scheint wieder wie am Anfang, unter der Brücke "treibt der Rhein, weil er das tut". War die ganze alpenländische Dystopie nur ein Drogentraum?
Zum großen Teil ist dieser sogenannte Heimatroman ein Sammelsurium seltsamer Szenen aus der prekären Welt der um 1990 Geborenen und wirrer, teils selbsterfundener, teils aufgefundener als Zitate wiedergegebener Sprüche und Pamphlete. Fesselnd daran aber ist das völlig unerwartete Bild, das er von der sonst immer als bieder wahrgenommenen und sich auch selbst so präsentierenden Schweiz zeichnet. Sind die dort, hinter den sieben Bergen, wirklich so? Man kann sich wohl auf gar nichts mehr verlassen.
MARTIN LHOTZKY
Benjamin von Wyl: "Land ganz nah".
Ein Heimatroman.
Lectorbooks, Zürich 2017. 160 S., geb., 18,- [Euro].
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