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Im Jahre 1819 machen sich einige englische Seeleute und ein Arzt auf den Weg, im Norden Kanadas einen Durchgang zum Polarmeer zu finden - die Nordwestpassage. Die Teilnehmer der Franklin-Expedition sind mutig, ahnungslos und schlecht vorbereitet, aber beseelt und getrieben von dem Gefühl europäischer Überlegenheit. In dieser eisigen Fremde begegnen sie Yellowknife-Indianern, die noch nie zuvor mit Europäern zu tun hatten, und machen diese zu ihren Trägern. Als der Winter zu einer langen Pause zwingt, entsteht eine wortlose, zarte Liebe zwischen der jungen Indianerin Greenstocking und Hood,…mehr

Produktbeschreibung
Im Jahre 1819 machen sich einige englische Seeleute und ein Arzt auf den Weg, im Norden Kanadas einen Durchgang zum Polarmeer zu finden - die Nordwestpassage. Die Teilnehmer der Franklin-Expedition sind mutig, ahnungslos und schlecht vorbereitet, aber beseelt und getrieben von dem Gefühl europäischer Überlegenheit. In dieser eisigen Fremde begegnen sie Yellowknife-Indianern, die noch nie zuvor mit Europäern zu tun hatten, und machen diese zu ihren Trägern. Als der Winter zu einer langen Pause zwingt, entsteht eine wortlose, zarte Liebe zwischen der jungen Indianerin Greenstocking und Hood, einem sensiblen Künstler und Navigator. Doch Greenstockings Eltern wissen vom ersten Moment an, daß Hood ein Todgeweihter ist ... Mit immenser Sprachkraft und Poesie gelingt es Rudy Wiebe, der kältestarrenden, majestätischen Landschaft Kanadas ebenso eine Sprache zu geben wie dem entsetzlichen Leiden der von Hunger und Kälte gemarterten Expeditionsteilnehmer. Und er vermag es, dasselbe Ereignis aus den Sichtweisen zweier grundsätzlich verschiedener Kulturen gleichermaßen plastisch darzustellen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2002

Der gute Ruf des Nordpols ist dahin
Eis-Enthusiasten an gutgewärmten Schreibtischen: Wie das Packeis-Pathos in der Polarliteratur zunehmend abschmilzt / Von Wolfgang Schneider

Plötzlich gibt es überall nur noch Süden. Es dauert ein halbes Jahr, bis die Nacht vergeht. Und wie soll man wissen, wie spät es ist, wenn mit den Meridianen auch die Zeitzonen zusammenfallen? Die Polarregion ist eine Landschaft ohne Kompromisse und Orientierungsmarken, deshalb auch als Metapher gut geeignet. Für Nietzsche war es die Landschaft des verstandeskalten Nihilismus, in der die warmherzigen Ideale einfach kaputtfrieren und der Übermensch zu sich selbst kommt. "Hier ist das Leben verstummt", schrieb der Moralist des "Im-Eise-Lebens". "Nada - hier gedeiht und wächst nichts mehr."

Immerhin, Nietzsches philosophische Eisblumen gediehen höchst erfolgreich zu den modernen "Verhaltenslehren der Kälte" (Helmut Lethen), deren Faszination sich kein Avantgardist von Brecht bis Jünger verschließen mochte. "Bei mir Nordpol, Packeis-Charakter" - so begrüßte nicht nur George Grosz die Vergletscherung des eigenen Gemüts und bekannte sich damit nebenbei zu Stunden glühender Nietzsche-Lektüre. Polar-Pathos gehörte zum kalten Zug der Moderne.

Der Heroismus der legendären Expeditionen, der selbst Nietzsche in den Bann zog, ist heutzutage, wo sich die Eisbrecherfahrt zum Nordpol pauschal buchen läßt, kaum mehr vorstellbar. In einer vergleichsweise friedlichen Epoche vollbrachten die Pol-Pioniere militärische Ersatzleistungen und wurden bei der Heimkehr gefeiert wie siegreiche Feldherren. Und wenn sie nicht heimkehrten, fügte sich ihr frostiges Ende in die Ästhetik erhabener Untergänge. Noch Stefan Zweig zählte nicht Amundsens lässige Skifahrt zum Südpol, sondern den Kältetod des Gentleman Scott zu den Sternstunden der Menschheit: eine der "großartigsten aller Tragödien".

Nicht weniger großartig, daß ausgerechnet die bestausgerüstete Expedition des neunzehnten Jahrhunderts in der größten Katastrophe der Arktisforschung endete. Sir John Franklins Suche nach der Nordwestpassage brachte allen 129 Teilnehmern den Tod und beschäftigt, anders als viele gelungene Unternehmungen, die Phantasie bis heute. Die Befunde des kanadischen Anthropologen Owen Beattie, der nach hundertfünfzig Jahren den Grund des Desasters entdeckt zu haben glaubt, fallen allerdings prosaisch aus. Bei der Autopsie einiger wohlkonservierter Leichen stellte er eine kräftige Bleivergiftung fest. Schuld waren die mitgenommenen Konservendosen. Mitten im Eis waren die Männer den Zivilisationstod gestorben.

Die - von solchen chemikalischen Einsichten noch fernen - Passionsgeschichten der Polarfahrer erreichten zu ihrer Zeit Auflagen, von denen Romanautoren nur träumen konnten. Wer sich auf die publikumswirksame Aufbereitung seiner einsamen Strapazen im Eis verstand, konnte viel verdienen und gleich die nächste Expedition finanzieren. Das regte manchen zu schwer überprüfbaren Behauptungen an. Heute sieht man hinter den hehren wissenschaftlichen Zwecken meist die narzißtischen Antriebe. Robert Peary, der fanatischste Arktisforscher aller Zeiten, benannte in jungen Jahren seine Motive: "Denke daran, Mutter, ich muss berühmt werden & ich kann mich nicht mit Jahren ganz gewöhnlicher Plackerei abfinden."

Ruhmsucht und Abneigung gegen den bürgerlichen Erwerbsalltag - handelt es sich bei vielen Polarhelden, wie Thomas Kastura in seinem so informationsreichen wie glänzend geschriebenen Essay "Flucht ins Eis" vermutet, um "zivilisationsuntüchtige Versager, die sich gerade mal im nackten Existenzkampf behaupten können?" Große Namen ließen sich für diese These anführen: Ernest Shackleton versuchte sich erfolglos in mehreren Berufen. Die Geldnot von Roald Amundsen war notorisch. Und der Amerikaner Frederic Cook, der 1909 in der ganzen Welt als erster Mann am Nordpol gefeiert wurde, verbrachte wegen Aktienfälschung die letzten Jahre seines Lebens im Gefängnis.

Die Grenzen zwischen Heldentum und Hochstapelei sind durchlässig, und kein Buch schildert diese hybriden Zustände mit soviel Detailwitz wie Martin Mosebachs Roman "Der Nebelfürst", der von realen Begebenheiten des Jahres 1898 ausgeht. Der glücklose Journalist Theodor Lerner wird hier unversehens zum "Conquistador" des hohen Nordens. Seine Eroberung der herrenlosen Bären-Insel ist ein Event, eine Kampagne, die seiner vom Abonnentenrückgang bedrohten Zeitung durch die Saure-Gurken-Zeit helfen soll. Die fädenziehende Salonschwindlerin Hanhaus will mit dem potemkinschen Bäreninsel-Projekt (Bodenschätze!) vor allem Risikokapital in die eigenen Taschen locken.

Alles in diesem Buch lebt über seine Verhältnisse. Lerner sticht in See auf einem Fischkutter "mit dem allerdings programmatischen Namen ,Helgoland'", dessen Eistauglichkeit sehr in Frage steht. Das Kommando hat Korvettenkapitän a. D. Hugo Rüdiger, ein "abgehalfterter Marinemann", dem ungeachtet seines "zweischnäbligen Tirpitzbartes" alle "Korsareneigenschaften" restlos abgehen. Am Ziel wird die Polarromantik zuschanden: "Von allen Inseln war dies die reizloseste. Grau war der Stein, aber grau kam ihm auch das Gewächs vor, das sich an diesen Stein klammerte." Trotzdem taucht bald ein russischer Panzerkreuzer auf und reklamiert die Bäreninsel fürs Zarenreich. Vielleicht steht gar ein kleiner Krieg in Aussicht? Lerner denkt an die Installierung eines Expeditionscorps, um die Interessen seines Kaisers zu wahren.

Vorwand für die Expedition ist die Rettung des verschollenen Ballonfahrers Andrée - auch er eine Figur aus der tragikomischen Heldenreihe der Pol-Eroberer. Sein Versuch, als erster den Nordpol aus der Luft zu erreichen, war ein aberwitziges Unterfangen. Kein Gefährt ist den Launen des Wetters so ausgeliefert wie ein Ballon und das Wetter nirgendwo so launisch wie am Pol. Auch Andrée konnte den Gedanken, "wie ein gewöhnlicher Mensch zu leben und zu sterben", nicht ertragen. Er starb ungewöhnlich. Seine gefrorenen Überreste wurden erst dreißig Jahre später gefunden.

Andrées Geschichte wie auch die der anderen berühmten Nordpol-Fahrer läßt sich nachlesen bei Charles Officer und Jack Page: "Die Entdeckung der Arktis". Warum verschliß die Eroberung des Nordpols, anders als die des Südpols, so viele Expeditionen? Das Packeis des Nordpolarmeers ist ständig in Bewegung; verschiedene Strömungen treiben die Schollen gegeneinander. Es entstehen Eispressungen und Grate mit bis zu dreißig Meter Höhe, die etwa alle dreihundert Meter den Weg versperren. Wer die Drift nicht in Rechnung stellt, kann böse Überraschungen erleben. So marschierte der englische Forscher William Edward Parry im Jahr 1819 fünf Wochen unter unerhörten Strapazen nordwärts, während das Eisfeld, auf dem diese Aktion stattfand, wie ein gigantisches Laufband unablässig nach Süden trieb.

Auch Officer und Page werfen nüchterne Blicke auf die Polarfahrer. Höhepunkt ihrer spannenden Darstellung ist der große Nordpol-Schwindel der Jahre 1908/09. Hunderttausende jubelten seinem vermeintlichen Eroberer Frederik Cook zu; es hagelte Medaillen und Ehrendoktorhüte, aufwendige Empfänge wurden veranstaltet; allein der New Yorker "Arctic Club", den Cook einst selbst gegründet hatte, gab ein Essen für über tausend Gäste. Ein Jahr später wurde Cook als Betrüger von der Mitgliederliste gestrichen, auch der "Explorers Club" verbannte ihn aus seinen Reihen, vom "American Alpine Club" ganz zu schweigen, wo man nun auch nicht mehr glauben wollte, daß Cook vor dem Nordpol noch den Mount McKinley, den mit 6190 Metern höchsten Gipfel Alaskas, als erster bezwungen hatte. Tatsächlich waren die Beweisfotos in 1800 Meter Höhe aufgenommen worden, auf einem Felsvorsprung, der den Namen "Fake Peak" erhielt.

In Sachen Nordpol galt nun jedenfalls der zweite als Sieger, nach der Devise: Wenn der eine lügt, sagt der andere die Wahrheit. Aber auch der ehrgeizige Robert Peary, der in der arktischen Kälte fast alle Zehen eingebüßt hatte und sich nur noch schlurfend fortbewegen konnte, hat den Nordpol wohl nie erreicht. Heute werden seine navigatorischen Angaben und Tagebuchnotizen in Zweifel gezogen. Am Tag der vermeintlichen Polankunft gibt es keine Aufzeichnungen, nur eine lose eingelegte Seite, auf der eine nicht zu jener Zeit geschriebene Eintragung steht: "Der Pol, endlich!!! Mein Träume & mein Ziel 23 Jahre lang. Endlich ist er mein."

Karl Kraus schrieb damals einen langen Essay über die Nordpol-Euphorie: "Am Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde. Einmal erreicht ist er eine Stange, an der eine Fahne flattert, also etwas, das ärmer ist als Nichts." Kraus zögerte nicht, die Herkunft dieser Fahne genau zu bestimmen: "Es war die Dummheit, die den Nordpol erreicht hatte, und sieghaft flatterte ihr Banner als Zeichen, daß ihr die Welt gehört." Angesichts der betrügerischen Rivalität von Cook und Peary höhnte er: "Der gute Ruf des Nordpols war dahin - vielfach wandte sich die Aufmerksamkeit nun dem Südpol zu."

Kraus' Text findet sich in der schönen, von Friedhelm Marx herausgegebenen Anthologie "Wege ins Eis", in der die kanonischen Texte der literarischen Polarfaszination versammelt sind, beginnend mit Dantes "Göttlicher Komödie". Hier bricht Odysseus in einer letzten Irrfahrt zum Südpol auf, um seiner frevelhaften Weltneugierde zu frönen. Am Ende der Welt erblickt er den Berg des Fegefeuers, bevor ein Strudel ihn und sein Schiff verschlingt. Daß sich jenseits der Eisbarrieren etwas Numinoses, unausdenkbar Geheimnisvolles verberge, ist der zentrale Topos der klassischen Polarliteratur. Mal handelt es sich um das traumhafte Land der Hyperboreer, die laut Pindar hinter dem Nordwind wohnen, mal um das weiße Grauen, wie bei Poe. Aber auch die Forscher hatten ihr Phantasma: das eisfreie Nordpolarmeer. Unbeirrt hielten selbst renommierte Wissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts wie der Kartograph Petermann an der Idee fest, der Golfstrom heize das Nordmeer auf und öffne dadurch ein thermometrisches Tor zum Pol.

Den bald schon erbittert verfeindeten Partnern Amundsen und Nobile gelang 1926 die spektakuläre Nordpol-Überfliegung im Luftschiff. Über dem Pol wurden Flaggen abgeworfen; der patriotische Nobile übertrumpfte Amundsens Norwegerwimpel mit einer gewaltigen italienischen Fahne. Aber noch immer hatte niemand den Fuß auf den Pol gesetzt; das geschah, ziemlich unspektakulär, erst 1937, als sich russische Wissenschaftler mit der Forschungsstation "Nordpol 1" dorthin fliegen ließen. Mittlerweile war die allgemeine Polbegeisterung abgeflaut, die Welt bekam andere Aufregungen geboten. Im April 1968, ein Jahr, bevor Menschen den Mond betraten, erreichte eine Gruppe von Amerikanern erstmals über das Treibeis den Nordpol. Die "New York Times" berichtete kurz auf Seite 68 darüber. Diese Eroberer hatten leistungsstarke Schneemobile zur Verfügung; am Pol ließen sie sich von Flugzeugen abholen.

Es bedarf keines besonderen Gespürs für Schnee, um festzustellen, daß die Arktis-Faszination in der Literatur anhält. Nur ist die Heroisierung der Polarfahrer und die Mystifizierung der Eisregionen vielfach der Lust an der Desillusion gewichen. Niemand hat sie weiter getrieben als Willem Frederik Hermans, der auch hierzulande entdeckte Klassiker der modernen niederländischen Literatur. In diesem Herbst wird auf "Die Dunkelkammer des Damokles" der Roman "Nie mehr schlafen" folgen, eines der deprimierendsten, aber auch komischsten Bücher zum Thema, das im Original 1966 erschien. Es erzählt von einer total mißlungenen Expedition: Der junge holländische Geologe Alfred Issendorf führt einen inneren Familienauftrag aus. Als er sieben Jahre alt war, verunglückte sein Vater, ein vielversprechender Botaniker, in einer Gletscherspalte. Der Doktorand will nun mittels einer grandiosen Entdeckung "den Tod des Vaters rächen". In der Öde der Finnmark, so ist er überzeugt, warten spektakuläre Gesteinsfunde auf ihn, mit denen er triumphal beweisen wird, daß es sich bei den dortigen Bodenlöchern nicht um "Aufeisbeulen", sondern um Meteoriteneinschläge handelt.

Wenn ein Roman die Torturen eines endlosen Marsches in feindseliger Landschaft vermitteln kann, dann dieser. Alfred stolpert und stürzt durch Schnee, Morast und Gesteinsfelder, bis auf die Haut durchnäßt, gefrorenen Schweiß auf dem Körper, unaufhörlich geplagt von Stechfliegen und wolkenartigen Mückenschwärmen, die so beschrieben werden, daß der Leser zum Autan greift. Der Irrlauf mündet in einer Tragödie. Nicht mit der großen Entdeckung, sondern mit einer Todesnachricht kehrt Alfred zurück. Sein Freund und Begleiter ist an einem Hang ausgerutscht und mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen. Die Hauptfigur wechselt vom heldenhaften Existenzentwurf gänzlich in die Rolle des tragischen Clowns.

Antiheldentum führt auch Jean Echenoz' Roman "Ich gehe jetzt" vor, eine subtile Parodie des Abenteuer-Genres. Der Kunsthändler Ferrer reist auf einen heißen Tip hin in die Arktis, um dort auf einem vergessenen Schiffswrack Kunstgegenstände der frühen Walfang-Kulturen zu bergen. Von der "unerhörten Zielstrebigkeit", der "seelischen Spannkraft" und der "naiven, heroischen Neugierde", die laut Hofmannsthal die Abenteurer auszeichnen und der Grund unseres Vergnügens an ihren Geschichten sind, ist hier nichts geblieben. Der so umtriebige wie zerstreute Ferrer ist, ob in Paris oder am Ende der Welt, hauptsächlich mit den Widrigkeiten des Alltags beschäftigt. Statt Eisbären plagen auch ihn die legendären Mückenschwärme. Undramatischer kann eine Schatzsuche nicht verlaufen: Ferrer findet ihn einfach.

Die postkoloniale Variante des kritischen Blicks vertritt der Kanadier Rudy Wiebe, der für seinen Roman "Discovery of Strangers" (1994) mehrere Preise erhielt. Unter dem deutschen Titel "Land jenseits der Stimmen" schildert er eine frühere Arktisexpedition von John Franklin, die wie fast alles, was dieser Mann unternahm, zur Katastrophe geriet. Nur elf von neunzehn Männern kehrten lebend zurück; sie hatten am Ende alte Schuhe und andere Lederreste gegessen. Von der solidarischen Schicksalsgemeinschaft der harten Männer konnte mal wieder keine Rede sein: Es kam zu Mord und Kannibalismus.

Kolonialer Hochmut hindert bei Wiebe die Engländer, von den jahrhundertealten Überlebenstaktiken der nordkanadischen Indianer zu profitieren. Die selbstgefälligen Eroberer scheuen vor keinem Dilettantismus zurück. Entscheidend für Wiebes Bücher ist, daß die Perspektive des weißen Mannes ergänzt (und in die Schranken gewiesen) wird durch die der Ureinwohner. Ein großer Teil des Romans fühlt sich mit psychologischer Akribie in deren Lebens- und Denkweisen ein, wobei den Bewußtseinsströmen nicht immer leicht zu folgen ist und die Romantisierung der Indianer nicht ganz vermieden wird. Wiebes Bestreben, ihnen zu einer literarischen Stimme zu verhelfen, hat selbst die Kritik der ganz Korrekten auf sich gezogen: Es handle sich um eine ungebührliche Aneignung fremder Traditionen.

Das Gegenteil von Wiebes angestrengter Ethno-Prosa sind die Arktis-Geschichten des großen Fabulierers Jørn Riel, die in Dänemark höchste Auflagen erreichen. Jetzt liegt "Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf" in deutscher Übersetzung vor: Es sind phantasievolle oder auch phantastische Schnurren, die den hohen Norden nicht als Sehnsuchtsziel, sondern als Lebensform schildern. Grönland ist hier Refugium für bärbeißige, zivilisationsmüde Männergestalten, die im Grunde ihres Herzens lieber mit Eisbären als mit Frauen zu tun haben. Trinkfest und gutmütig die Kerle, und so auch oft die Pointen. Riel hat fast zwei Jahrzehnte in der Arktis gelebt und kennt sie besser als die Eis-Enthusiasten an gutgewärmten Schreibtischen. Er kommt ohne edle Eskimos und anderen Polarkitsch aus und läßt doch keinen Zweifel daran, daß Grönland "das schönste und gastlichste aller Länder" ist.

Die Polarhelden, die den erlebnisarmen Zivilisationsmenschen doch immerhin grandiose Identifikationsmöglichkeiten boten, werden auf die eine oder andere Art dekonstruiert. Die Zeit der großen Entdeckungen ist vorbei. Die letzten Nordmeerfahrer jenseits des bequemen Pol-Tourismus wollen nur noch sich selbst entdecken. Alvah Simons Bericht "Nördlich der Nacht - Meine Reise ins ewige Eis" wird als "eine der großen Abenteuergeschichten dieser Dekade" empfohlen. Ein unterhaltsames Buch ist es zweifellos. Simon gehört zu jenen Menschen, die in ihrer Sucht nach Extremsituationen irgendwann resigniert feststellen: "Skydiving reicht nicht." Um etwas "Authentisches" zu erleben, ließ er sich wie ein Shackleton des Selbsterfahrungszeitalters mit seiner Yacht im Packeis einfrieren und verbrachte ein einsames Jahr bei bis zu fünfzig Grad minus. Da erfriert ein nackter Finger in Sekunden, und die versehentliche Berührung von Metall verursacht schwere Verbrennungen. Bei solchen Außenbedingungen sieht sich der Extrovertierteste auf seine inneren Reichtümer verwiesen: "Jetzt blieb mir nichts weiter übrig, als mich voll und ganz der Introspektion zu widmen." Ungeahnte Alpträume, zwischenzeitliche Blindheit und "die klassischen Symptome des Kajütenkollers" machen Simon in der monatelangen Dunkelheit mit ihrer todesähnlichen Lautlosigkeit zu schaffen. Aber am Pol der inneren Erleuchtung angekommen, rät er dem Leser dazu, doch auch einmal "allein in der Polarnacht zu überwintern: Es gibt keine bessere Gelegenheit, sein wahres Ich kennenzulernen."

Mag sein. Aber vielleicht legt man gar nicht so viel wert auf diese Bekanntschaft, die sich auf Dauer sowieso nicht vermeiden läßt. Weite Reisen voller überflüssiger Strapazen sind dazu jedenfalls nicht nötig. Wie sagte doch Fernando Pessoa: "Reisen? Existieren ist Reisen genug."

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