Zwischen Aufbruch und Kaserne: Der bewegende Briefwechsel zwischen dem »Bausoldaten« Stefan Berg und Günter de Bruyn
DDR, 1982: Auch in Ost-Berlin, Leipzig und Dresden gibt es eine Jeans und Parka tragende Generation, die aufbegehrt. Zu ihr gehört der siebzehnjährige Schüler Stefan Berg, der dem bekannten Autor Günter de Bruyn einen Brief schreibt, in dem er ihm für einen mutigen Vortrag zur Friedensbewegung dankt. In der Folge entwickelt sich ein freundschaftlicher Briefwechsel, in dem es um Literatur und Politik, vor allem aber um ein zentrales Thema geht: das Leben des jungen Wehrpflichtigen Stefan Berg als sogenannter Bausoldat. Ein einzigartiges Dokument, das die Sehnsucht nach Freiheit - nur wenige Jahre vor dem Mauerfall - für heutige Leser spürbar und erlebbar macht.
DDR, 1982: Auch in Ost-Berlin, Leipzig und Dresden gibt es eine Jeans und Parka tragende Generation, die aufbegehrt. Zu ihr gehört der siebzehnjährige Schüler Stefan Berg, der dem bekannten Autor Günter de Bruyn einen Brief schreibt, in dem er ihm für einen mutigen Vortrag zur Friedensbewegung dankt. In der Folge entwickelt sich ein freundschaftlicher Briefwechsel, in dem es um Literatur und Politik, vor allem aber um ein zentrales Thema geht: das Leben des jungen Wehrpflichtigen Stefan Berg als sogenannter Bausoldat. Ein einzigartiges Dokument, das die Sehnsucht nach Freiheit - nur wenige Jahre vor dem Mauerfall - für heutige Leser spürbar und erlebbar macht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit viel Bewunderung bespricht Rezensentin Regina Mönch den nun unter dem Titel "Landgang" erschienenen Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Günter de Bruyn und dem damals siebzehn Jahre alten Schüler Stefan Berg. Berg hatte Bruyn nach dessen Friedensrede 1981 in einem Ost-Berliner Hotel kontaktiert, um ihm zu danken und die Rede zu erbitten, worauf die nun veröffentlichte Korrespondenz begann, informiert die Kritikerin. Bewegt liest sie hier, wie der Schriftsteller dem Abiturienten Mut bei seiner Entscheidung als Bausoldat zum Wehrdienst zu gehen, zuspricht und ihn darüber hinaus warnt, zu viel in den Briefen mitzuteilen, da Staatssicherheitsdienst und Militär stets mitlasen. Als "absurd-komischen" Perspektivwechsel bezeichnet Mönch die dem Buch beigefügten Stasi-Akten, die verdeutlichen, wie sehr Freiheitssehnsucht und Charakterstärke in der DDR geahndet wurden. Ein berührendes Stück Zeitgeschichte, das auch groteske Einblicke in den (Militär-)Alltag gewährt, urteilt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2014Vom grotesken Eifer der konspirativen Mitleser
Rilke unter Verdacht: Der Schriftsteller Günter de Bruyn und der Schüler Stefan Berg schrieben sich in der DDR Briefe - ein Wagnis mit offenem Ausgang
Im Dezember 1981 treffen sich in einem Ost-Berliner Hotel achtundachtzig Schriftsteller zu einem Friedensgespräch. In Ost und West wird aufgerüstet, die Friedensbewegung - im Westen Deutschlands - ist auf ihrem Höhepunkt. Doch im Osten bleibt es merkwürdig still, eine Debatte über den Raketenstationierungswahnsinn jedenfalls gibt es nicht, nur im Untergrund und in den Kirchen regt sich Widerstand gegen das verordnete Schweigen. Auch darum ist dieses halbamtliche Treffen ungewöhnlich, das Stephan Hermlin durchgesetzt hat.
Die Gästeliste versammelt viel Prominenz, aber dass Jurek Becker eingeladen wurde, der nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns in den Westen gegangen war, und Stefan Heym, den man zur Unperson abgestempelt hatte, war aufsehenerregend. Natürlich stand hinter der Genehmigung des Treffens politisches Kalkül: Man wollte der Welt demonstrieren, wie offen und unzensiert im militarisierten Mauerland über Friedenssicherung diskutiert wird. Und natürlich wurde in DDR-Medien darüber kaum berichtet, wurden kritische Töne unterschlagen. Aber die Funkwellen von SFB, Rias und Deutschlandfunk waren grenzüberschreitend, die ersten Schwarzkopien der Reden kursierten bald in der Szene.
So hörte auch ein siebzehn Jahre alter Schüler aus Ost-Berlin von der Rede Günter de Bruyns. Sie war - bedenkt man die damaligen hysterisch-repressiven Reaktionen auf jede öffentliche oder auch nur vermutete Opposition und Friedensaktivisten - eine Sensation. Denn noch nie hatte ein prominenter Schriftsteller in der DDR so gesprochen von Christen und Pazifisten und ihrer unabhängigen Friedensbewegung, die es nach Ansicht der SED gar nicht geben durfte. Zudem forderte de Bruyn, eine Ungeheuerlichkeit, einen sozialen Friedensdienst auch für die DDR. Dränge man diese Menschen in den Untergrund, mahnte er, "verliert man nicht nur wichtige Friedenskräfte, sondern schädigt auch die eigene Glaubwürdigkeit". Er sprach von der Angst vor einem Krieg, offen und unvorsichtig, denn die Denunzianten werden so zahlreich wie die geladenen Gäste gewesen sein.
Was sich heute so leicht liest, war damals ein Tabubruch. Der Redner, hochgeschätzt in Ost und West, war sicher unangreifbarer als junge Oppositionelle, aber unantastbar, siehe Heym und andere, war auch er nicht. Vielsagend, dass seine Vorschläge in diesem Berliner Hotel kaum diskutiert wurden. Der Schüler Stefan Berg beschloss damals, dem Schriftsteller zu schreiben, ihm zu danken für seine klaren ermutigenden Worte und ihn um seine Rede zu bitten. So begann eine kurzzeitige, wunderbare Brieffreundschaft. Berg wurde später zum Wehrdienst eingezogen, als Bausoldat - eine heikle Entscheidung, denn es war bekannt, dass man als solcher schikaniert und im Berufsleben später systematisch behindert wurde. Es gab in der DDR keinen Zivildienst, nur Bausoldaten, die nicht an der Waffe ausgebildet wurden - ein Kompromiss, den Christen dem SED-Staat abgerungen hatten.
De Bruyn, Jahrgang 1926, schreibt dem unbekannten Abiturienten, niemand könne ihm diese Entscheidung abnehmen, aber er verstehe seine Angst. "Für mich wäre die Sache klar, aber ich kann gut reden: mich holt ja keiner mehr. Die Verantwortung des Ratschlag-Gebens möchte ich mir nicht aufladen. Vor den Bausoldaten habe ich große Hochachtung. Von denen, die ich bisher gesprochen habe (und das waren eine ganze Menge) hat keiner seine Entscheidung bereut."
Die Briefe des Schriftstellers werden für Stefan Berg Überlebensnahrung, geben ihm Kraft, in der Armee durchzuhalten und nicht an allgegenwärtigen Schikanen zu verzweifeln. De Bruyn schreibt im Nachwort, dass ihn Bergs Brief stärker berührt hatte als andere, die ihn nach der Berliner Rede erreichten, durch die bedingungslose Aufrichtigkeit und vor allem "sein Verlangen nach Ehrlichkeit". Mein Auftritt, schreibt de Bruyn, "wäre mir nachträglich als völlig sinnlos erschienen, hätte mir Stefan Berg nicht brieflich bescheinigt, dass ich mit ihm doch wenigstens einem Menschen ein wenig hilfreich geworden war". Eine de Bruynsche Untertreibung, dessen Anstand und Klarheit, das belegen auch seine Briefe, viele ermutigt hat, mit denen er damals diskutierte.
Ihren Briefwechsel haben de Bruyn und Berg jetzt veröffentlicht. Das schmale, sorgfältig edierte Buch "Landgang" ist ein ungewöhnliches Zeugnis der Ohnmacht in geistfeindlichen Zeiten, aber genauso eines des zivilen Widerstands. Es führt uns die Macht der Worte vor, die stark machen und die eine paranoide Staatsmacht darum fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Beider Briefe hatten damals schon viele Leser - Staatssicherheitsdienst, Militär -, und das war den Schreibern mehr oder weniger bewusst. Eine Schere im Kopf hatten sie trotzdem nicht, obwohl de Bruyn im Nachwort sagt, er habe Vorsicht walten lassen. Einmal warnt der Schriftsteller den Jungen: "Bitte seien Sie vorsichtig in Ihren Diskussionen. Was ich ungestraft sagen kann, kann Ihnen schlecht bekommen."
Er sei immer noch dankbar für diese Briefe, auf die er stets sehnsüchtig gewartet habe, schreibt Stefan Berg im Vorwort. Sie haben ihn bestärkt, bei sich zu bleiben, Zumutungen nicht stumm hinzunehmen, sondern sich zu wehren, wann immer es seiner Meinung nach sein musste. Seit 1996 schreibt Berg für den "Spiegel". Das Ausmaß staatlichen Argwohns wegen dieser unverblümten Gedankentauscherei aber haben erst die Akten der Stasi offenbart. Sie sind dem Briefwechsel beigefügt, ein harter, schockierender und manchmal absurd-komischer Perspektivenwechsel, der dieses Buch auszeichnet vor vielen anderen Erinnerungen. Die denunziatorischen Berichte der Überangepassten, Kadavergehorsamen, die eine unterschwellige Furcht vor dem unkontrollierbaren freien Gedanken antreibt, sie zu interpretieren und sodann als Feind dingfest zu machen, offenbaren nicht nur einen scheinbar lückenlosen Überwachungsmechanismus. Briefe und Dokumente ergeben zusammen ein eigenartiges Sittengemälde der zwiegespaltenen DDR-Gesellschaft. Am grotesken Eifer der konspirativen Mitleser erkennt man Risse im ideologischen Beton, begreift, warum die Angst der Macht vor Eigensinn, eigener Meinung und Charakterstärke so überwältigend und ausufernd war.
"Wie, Stefan, frage ich mich oft, sind Sie eigentlich geworden, wie Sie sind?", schreibt de Bruyn. Bergs Antworten erklären einiges. Aber auch die Klassenlehrerin, die schon über den Fünfzehnjährigen Berichte schrieb und ihm einen aufmüpfigen Charakter bescheinigt. Außerdem sei er intelligent, belesen "und renommiert damit". Die Lehrerin scheint das zu bedauern, hätte dem eigensinnigen Schüler gern das Abitur verweigert und ist frustriert, als das misslingt. Nach Auskunft dieser für die DDR-Schulen so typischen schrecklichen Pädagogin wurde Berg von einem Viertel der Klasse bewundert, ein weiteres Viertel lehnte ihn ab, war aber offenbar unfähig, eine Meinung zu haben. Andere meldeten, ein Mitschüler, den man schon für die Offizierslaufbahn geworben hatte, wolle nun nicht mehr. Er sei unter Bergs "politisch negativen" Einfluss geraten.
Eine Groteske, so zumindest lesen wir sie heute, sind Bergs Schilderungen vom Kulturleben bei der Armee. Irrwitzige Hürden müssen überwunden werden, um einen Rilke-Abend zu gestalten, der dann zu noch schärferer Überwachung führt. Berg, um Atmosphäre im Versammlungsraum bemüht, hatte eine Losung und ein Honecker-Bild abgehängt. Darüber wurde bei den Mitlesern und -hörern gegrübelt und Rilke vorsichtshalber auch einer operativen Durchleuchtungsmaßnahme unterzogen. Eine Unbedenklichkeitsbescheinigung bekam Rilke nicht von der Stasi, obwohl, wie der Spitzel vorwurfsvoll bemerkt, die verlesenen Gedichte alle in der DDR erschienen sind. "Landgang" ist eine mitreißende Erzählung über Herzensbildung und Vertrauen in einer Zeit, die heute schon weit entrückt zu sein scheint, in der Freiheitssehnsucht und Charakterstärke als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bekämpft wurden. Warum das scheitern musste, versteht nach der Lektüre jeder.
REGINA MÖNCH
Stefan Berg, Günter de Bruyn: "Landgang". Ein Briefwechsel.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 144 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rilke unter Verdacht: Der Schriftsteller Günter de Bruyn und der Schüler Stefan Berg schrieben sich in der DDR Briefe - ein Wagnis mit offenem Ausgang
Im Dezember 1981 treffen sich in einem Ost-Berliner Hotel achtundachtzig Schriftsteller zu einem Friedensgespräch. In Ost und West wird aufgerüstet, die Friedensbewegung - im Westen Deutschlands - ist auf ihrem Höhepunkt. Doch im Osten bleibt es merkwürdig still, eine Debatte über den Raketenstationierungswahnsinn jedenfalls gibt es nicht, nur im Untergrund und in den Kirchen regt sich Widerstand gegen das verordnete Schweigen. Auch darum ist dieses halbamtliche Treffen ungewöhnlich, das Stephan Hermlin durchgesetzt hat.
Die Gästeliste versammelt viel Prominenz, aber dass Jurek Becker eingeladen wurde, der nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns in den Westen gegangen war, und Stefan Heym, den man zur Unperson abgestempelt hatte, war aufsehenerregend. Natürlich stand hinter der Genehmigung des Treffens politisches Kalkül: Man wollte der Welt demonstrieren, wie offen und unzensiert im militarisierten Mauerland über Friedenssicherung diskutiert wird. Und natürlich wurde in DDR-Medien darüber kaum berichtet, wurden kritische Töne unterschlagen. Aber die Funkwellen von SFB, Rias und Deutschlandfunk waren grenzüberschreitend, die ersten Schwarzkopien der Reden kursierten bald in der Szene.
So hörte auch ein siebzehn Jahre alter Schüler aus Ost-Berlin von der Rede Günter de Bruyns. Sie war - bedenkt man die damaligen hysterisch-repressiven Reaktionen auf jede öffentliche oder auch nur vermutete Opposition und Friedensaktivisten - eine Sensation. Denn noch nie hatte ein prominenter Schriftsteller in der DDR so gesprochen von Christen und Pazifisten und ihrer unabhängigen Friedensbewegung, die es nach Ansicht der SED gar nicht geben durfte. Zudem forderte de Bruyn, eine Ungeheuerlichkeit, einen sozialen Friedensdienst auch für die DDR. Dränge man diese Menschen in den Untergrund, mahnte er, "verliert man nicht nur wichtige Friedenskräfte, sondern schädigt auch die eigene Glaubwürdigkeit". Er sprach von der Angst vor einem Krieg, offen und unvorsichtig, denn die Denunzianten werden so zahlreich wie die geladenen Gäste gewesen sein.
Was sich heute so leicht liest, war damals ein Tabubruch. Der Redner, hochgeschätzt in Ost und West, war sicher unangreifbarer als junge Oppositionelle, aber unantastbar, siehe Heym und andere, war auch er nicht. Vielsagend, dass seine Vorschläge in diesem Berliner Hotel kaum diskutiert wurden. Der Schüler Stefan Berg beschloss damals, dem Schriftsteller zu schreiben, ihm zu danken für seine klaren ermutigenden Worte und ihn um seine Rede zu bitten. So begann eine kurzzeitige, wunderbare Brieffreundschaft. Berg wurde später zum Wehrdienst eingezogen, als Bausoldat - eine heikle Entscheidung, denn es war bekannt, dass man als solcher schikaniert und im Berufsleben später systematisch behindert wurde. Es gab in der DDR keinen Zivildienst, nur Bausoldaten, die nicht an der Waffe ausgebildet wurden - ein Kompromiss, den Christen dem SED-Staat abgerungen hatten.
De Bruyn, Jahrgang 1926, schreibt dem unbekannten Abiturienten, niemand könne ihm diese Entscheidung abnehmen, aber er verstehe seine Angst. "Für mich wäre die Sache klar, aber ich kann gut reden: mich holt ja keiner mehr. Die Verantwortung des Ratschlag-Gebens möchte ich mir nicht aufladen. Vor den Bausoldaten habe ich große Hochachtung. Von denen, die ich bisher gesprochen habe (und das waren eine ganze Menge) hat keiner seine Entscheidung bereut."
Die Briefe des Schriftstellers werden für Stefan Berg Überlebensnahrung, geben ihm Kraft, in der Armee durchzuhalten und nicht an allgegenwärtigen Schikanen zu verzweifeln. De Bruyn schreibt im Nachwort, dass ihn Bergs Brief stärker berührt hatte als andere, die ihn nach der Berliner Rede erreichten, durch die bedingungslose Aufrichtigkeit und vor allem "sein Verlangen nach Ehrlichkeit". Mein Auftritt, schreibt de Bruyn, "wäre mir nachträglich als völlig sinnlos erschienen, hätte mir Stefan Berg nicht brieflich bescheinigt, dass ich mit ihm doch wenigstens einem Menschen ein wenig hilfreich geworden war". Eine de Bruynsche Untertreibung, dessen Anstand und Klarheit, das belegen auch seine Briefe, viele ermutigt hat, mit denen er damals diskutierte.
Ihren Briefwechsel haben de Bruyn und Berg jetzt veröffentlicht. Das schmale, sorgfältig edierte Buch "Landgang" ist ein ungewöhnliches Zeugnis der Ohnmacht in geistfeindlichen Zeiten, aber genauso eines des zivilen Widerstands. Es führt uns die Macht der Worte vor, die stark machen und die eine paranoide Staatsmacht darum fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Beider Briefe hatten damals schon viele Leser - Staatssicherheitsdienst, Militär -, und das war den Schreibern mehr oder weniger bewusst. Eine Schere im Kopf hatten sie trotzdem nicht, obwohl de Bruyn im Nachwort sagt, er habe Vorsicht walten lassen. Einmal warnt der Schriftsteller den Jungen: "Bitte seien Sie vorsichtig in Ihren Diskussionen. Was ich ungestraft sagen kann, kann Ihnen schlecht bekommen."
Er sei immer noch dankbar für diese Briefe, auf die er stets sehnsüchtig gewartet habe, schreibt Stefan Berg im Vorwort. Sie haben ihn bestärkt, bei sich zu bleiben, Zumutungen nicht stumm hinzunehmen, sondern sich zu wehren, wann immer es seiner Meinung nach sein musste. Seit 1996 schreibt Berg für den "Spiegel". Das Ausmaß staatlichen Argwohns wegen dieser unverblümten Gedankentauscherei aber haben erst die Akten der Stasi offenbart. Sie sind dem Briefwechsel beigefügt, ein harter, schockierender und manchmal absurd-komischer Perspektivenwechsel, der dieses Buch auszeichnet vor vielen anderen Erinnerungen. Die denunziatorischen Berichte der Überangepassten, Kadavergehorsamen, die eine unterschwellige Furcht vor dem unkontrollierbaren freien Gedanken antreibt, sie zu interpretieren und sodann als Feind dingfest zu machen, offenbaren nicht nur einen scheinbar lückenlosen Überwachungsmechanismus. Briefe und Dokumente ergeben zusammen ein eigenartiges Sittengemälde der zwiegespaltenen DDR-Gesellschaft. Am grotesken Eifer der konspirativen Mitleser erkennt man Risse im ideologischen Beton, begreift, warum die Angst der Macht vor Eigensinn, eigener Meinung und Charakterstärke so überwältigend und ausufernd war.
"Wie, Stefan, frage ich mich oft, sind Sie eigentlich geworden, wie Sie sind?", schreibt de Bruyn. Bergs Antworten erklären einiges. Aber auch die Klassenlehrerin, die schon über den Fünfzehnjährigen Berichte schrieb und ihm einen aufmüpfigen Charakter bescheinigt. Außerdem sei er intelligent, belesen "und renommiert damit". Die Lehrerin scheint das zu bedauern, hätte dem eigensinnigen Schüler gern das Abitur verweigert und ist frustriert, als das misslingt. Nach Auskunft dieser für die DDR-Schulen so typischen schrecklichen Pädagogin wurde Berg von einem Viertel der Klasse bewundert, ein weiteres Viertel lehnte ihn ab, war aber offenbar unfähig, eine Meinung zu haben. Andere meldeten, ein Mitschüler, den man schon für die Offizierslaufbahn geworben hatte, wolle nun nicht mehr. Er sei unter Bergs "politisch negativen" Einfluss geraten.
Eine Groteske, so zumindest lesen wir sie heute, sind Bergs Schilderungen vom Kulturleben bei der Armee. Irrwitzige Hürden müssen überwunden werden, um einen Rilke-Abend zu gestalten, der dann zu noch schärferer Überwachung führt. Berg, um Atmosphäre im Versammlungsraum bemüht, hatte eine Losung und ein Honecker-Bild abgehängt. Darüber wurde bei den Mitlesern und -hörern gegrübelt und Rilke vorsichtshalber auch einer operativen Durchleuchtungsmaßnahme unterzogen. Eine Unbedenklichkeitsbescheinigung bekam Rilke nicht von der Stasi, obwohl, wie der Spitzel vorwurfsvoll bemerkt, die verlesenen Gedichte alle in der DDR erschienen sind. "Landgang" ist eine mitreißende Erzählung über Herzensbildung und Vertrauen in einer Zeit, die heute schon weit entrückt zu sein scheint, in der Freiheitssehnsucht und Charakterstärke als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bekämpft wurden. Warum das scheitern musste, versteht nach der Lektüre jeder.
REGINA MÖNCH
Stefan Berg, Günter de Bruyn: "Landgang". Ein Briefwechsel.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 144 S., geb., 17,99 [Euro].
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eine mitreißende Erzählung Regina Mönch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20141014