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Was muss einer fürchten, was darf einer hoffen, der 1947 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrt? Nach ihrem gefeierten, 2008 erschienenen Buch "Shanghai fern von wo" geht Ursula Krechel mit ihrem neuen großen Roman "Landgericht" noch einmal auf Spurensuche.
Die deutsche Nachkriegszeit, die zwischen Depression und Aufbruch schwankt, ist der Hintergrund der fast parabelhaft tragischen Geschichte von einem, der nicht mehr ankommt. Richard Kornitzer ist Richter von Beruf und ein Charakter von Kohlhaasschen Dimensionen. Die Nazizeit mit ihren absurden und tödlichen Regeln zieht sich als Riss…mehr

Produktbeschreibung
Was muss einer fürchten, was darf einer hoffen, der 1947 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrt? Nach ihrem gefeierten, 2008 erschienenen Buch "Shanghai fern von wo" geht Ursula Krechel mit ihrem neuen großen Roman "Landgericht" noch einmal auf Spurensuche.
Die deutsche Nachkriegszeit, die zwischen Depression und Aufbruch schwankt, ist der Hintergrund der fast parabelhaft tragischen Geschichte von einem, der nicht mehr ankommt. Richard Kornitzer ist Richter von Beruf und ein Charakter von Kohlhaasschen Dimensionen. Die Nazizeit mit ihren absurden und tödlichen Regeln zieht sich als Riss durch sein Leben. Danach ist nichts mehr wie vorher, die kleine Familie zwischen dem Bodensee, Mainz und England versprengt, und die Heimat beinahe fremder als das in magisches Licht getauchte Exil in Havanna.
Ursula Krechels Roman lässt Dokumentarisches und Fiktives ineinander übergehen, beim Finden und Erfinden gewinnt eine Zeit atmosphärische Konturen, in der die Vergangenheit schwer auf den Zukunftshoffnungen lastet.
Mit sprachlicher Behutsamkeit und einer insistierenden Zuneigung lässt "Landgericht" den Figuren späte Gerechtigkeit widerfahren. "Landgericht", der Roman mit dem doppeldeutigen Titel, handelt von einer deutschen Familie, und er erzählt zugleich mit großer Wucht von den Gründungsjahren einer Republik.
Autorenporträt
Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays. 2009 erhielt Ursula Krechel den "Joseph-Breitbach-Preis". 2012 erhielt Sie den Deutschen Buchpreis für den Roman "Landgericht" Die Autorin lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2012

Diese Geschichte vererbt sich an die Kinder

Was stimmt, was stimmt nicht? Und wer ist die reale Familie hinter dem Erfolgsroman "Landgericht", mit dem Ursula Krechel dem Richter Robert Bernd Michaelis ein Denkmal setzte?

Wie fühlt sich eine Familie, wenn die Lebensgeschichte ihres Vaters und Großvaters plötzlich und unerwartet in einem erfundenen, aber äußerst genau der Realität entsprungenen, manchmal erschreckend detailreichen und selbst in der Fiktion noch die realen Menschen treffenden, bisweilen aber auch dichterisch frei erfundenen Werk in Schaufenstern steht und Gegenstand von Zeitungsartikeln und Ansprachen ist?

Nach erster Orientierung zuerst einmal: geehrt. Geehrt in der Würdigung meines Großvaters als Person und seiner Lebensgeschichte. Das Buch, um das es geht, ist "Landgericht" von Ursula Krechel, sein Protagonist heißt Richard Kornitzer. Den Kornitzer kenne ich gut, das ist mein Opa, Robert Bernd Michaelis! Die Begebenheiten kenne ich auch, das ist Familiengeschichte! Es stellt sich ein Gefühl dafür ein, dass Geschichte eben auch im Persönlichen geschieht, greifbar, real, nicht nur auf N24 als Rückblick. Als Kind war mir unsere persönliche Geschichte als selbstverständlich geläufig, sie bot mir nichts Außergewöhnliches: Mein Großvater hatte sieben Sprachen gesprochen und beim gemeinsamen Restaurantbesuch beim Chinesen auf Chinesisch bestellt (tatsächlich war mein Großvater in Schanghai während des Krieges und nicht wie Kornitzer auf Kuba). Häufig haben mein Vater und meine Tante vom Kindertransport nach England erzählt, und eine gewisse Grantigkeit im Bedürfnis meines Großvaters, oft seinen Sohn mit Frau und uns Enkelkinder um sich zu haben, habe ich mit zunehmendem Alter immer mehr in Bezug auf seine "verlorene" Familienzeit in den Kriegsjahren zu verstehen gewusst.

Familiengeschichte also, wie sie jede Familie hat: Von den Nachfolgenden werden die Ereignisse nur in ihren Auswirkungen erlebt und erfahren, die Ereignisse selbst bleiben Erzählungen.

Dann kommt die Auseinandersetzung mit den Details in Ursula Krechels Buch: Was stimmt, was stimmt nicht, was stimmt in welcher Nuance? An dieser Stelle spreche ich der Autorin meine Bewunderung dafür aus, wie sie aufgrund einer offensichtlich akribisch intensiven, aber eben auch intuitiv einfühlsamen Recherche meinen Großvater nachvollzieht, teilweise in Handlungen und Gedanken neu kreiert und bewusst beim Unbekannten im Roman bei Vermutungen bleibt.

Kornitzer ist 1903 in Breslau geboren, mein Großvater am 4. Juli 1903 in Berlin-Charlottenburg. An die Beerdigung meines Großvaters habe ich eine beklemmende Erinnerung, als Kind hatte ich den Tod noch nicht verstanden. Er starb am 1. Mai 1973, drei Jahre nach Kornitzer. In Mainz hat mein Großvater tatsächlich als Richter gearbeitet, und das Haus in Mombach, das Kornitzer im Roman bewohnt, gab es auch. Die Schreiben und Schriftstücke, die vielen Worte meines Großvaters in der Suche nach Anerkennung hatten Ursula Krechel auf ihn aufmerksam gemacht: Welcher Mensch schreibt so, welche Geschichte verbirgt sich dahinter? Viele Dokumente werden in ihrem Roman wörtlich zitiert.

Die "Tat" - jenes absurde Kapitel mit der Quintessenz all des Kämpfens meines Großvaters um Anerkennung - fand tatsächlich so statt: am 20. September 1956. Man sieht einen Richter, der zu Beginn einer Gerichtsverhandlung als persönliche Erklärung Artikel 3 und Artikel 97 des Grundgesetzes kommentarlos vorliest, und gleichwohl auch einen Menschen, der sich am Ende aller Versuche um Wiedergutmachung und Gerechtigkeit noch einmal aufzubäumen versucht, bevor er in den Ruhestand versetzt wird. Der Roman provoziert eine Auseinandersetzung von uns Enkelkindern mit der eigenen Familiengeschichte, die diese näher an uns rückt und einen neuen Blickwinkel erzeugt: den unseres Großvaters und einen zeitgeschichtlichen.

"Er war angekommen. Angekommen, aber wo." So beginnt Ursula Krechels Roman. "Angekommen, aber wo" - diese mächtigen drei Worte, die das ganze Leben meines Großvaters ausdrücken, nein: bewerten, haben sich mir tief eingeprägt. Als Kind gab es solche Gedanken für mich nicht: Ich hatte einfach einen Großvater. In dem aktuellen Austausch über den Roman innerhalb unserer Familie schrieb mir mein Vetter Barry aus England (mein Großvater hatte sechs Enkelkinder, je drei von seinem Sohn, meinem Vater Martin Ludwig Michaelis, und drei von seiner Tochter, Ruth Barnett, die wie ihr Romanpendant Selma in England blieb): "Ich bin so stolz auf ihn. In meiner Erinnerung ist er ein sehr liebevoller Familienmensch, der immer freundlich zu mir war. Ich war so beeindruckt, dass er sieben Sprachen beherrschte! Ich erinnere mich, wie ich als Achtjähriger mit ihm gelacht habe!" Und dieser Mensch sollte nicht angekommen sein? Dagegen wehrte sich alles in mir!

Das hat sich geändert, und ich fange an, den Gedanken an mich heranzulassen, wie sich mein Großvater gefühlt haben könnte. Oft denke ich über diese drei mächtigen Worte "Angekommen, aber wo" nach, ohne Fragezeichen geschrieben, noch nicht einmal ein Ausrufezeichen angeboten, einfach mit einem Punkt hingesetzt. Keine Diskussion in dieser Aussage. Und so frage ich mich: Wer kommt wo an? Im Roman gönnt Ursula Krechel dem Sohn Kornitzers, Georg, ein Fragezeichen: "Er war angekommen. Angekommen, aber wo? Das Ankommen war eine Erschütterung wie das Weggehen, so hatte er es von seinem Vater erfahren. Aber er wollte sich solche Gedanken nicht machen."

In Georg hat Ursula Krechel meinen Vater nachempfunden. Sie schrieb ihm vor einigen Jahren, als er noch lebte, einen Brief mit der Bitte um Kontaktaufnahme. Mein Vater antwortete nicht. Auch nicht auf einen zweiten. Ein Anruf von Frau Krechel bei ihm endete abrupt mit dem schroffen Auflegen des Hörers. Nein, mein Vater wollte nicht noch einmal seiner Kindheit beraubt werden. In seinem Leben kämpfte er Kämpfe wie sein Vater. Geschichte vererbt sich an die Kinder. Sein englisches Studium der Chemie wurde in Deutschland nicht anerkannt - so studierte er nochmals, Physik an der Universität in Mainz. Er blieb sein Leben lang als Wissenschaftler beruflich selbständig. Eine Anstellung, die Integration ins System, war ihm wohl nicht möglich. Aber er bekämpfte es nicht. Mit der Universität arbeitete er sowohl bei seiner Grundlagenforschung über die DNA als auch über Aids zusammen.

Lebensinhalt meines Vaters aber war die Familie, da war er sicherlich angekommen. Seine Frau, meine beiden Geschwister und ich bedeuteten ihm alles - auch ein Erbe, aber ein gern angenommenes. Lebensziel meines Vaters war die Forschung. Sein Traum war die Anerkennung der von ihm entwickelten kosmologischen Theorie der Akinetik, aufbauend auf den Werken der Brüder Philberth. Deren Ansatz ist, dass der wesentliche Mechanismus des Universums eine kontinuierliche Emission von Wirk-Quanten ist. Dabei kann jeder Ort für sich als Mittelpunkt des Universums betrachtet werden. Bewegung, wie wir sie wahrnehmen, gibt es nicht tatsächlich, sie ist nur Ausdruck der stetigen Expansion aller Dinge.

So wie die Brüder Josef und Bernhard Philberth, die beide 1972 zu katholischen Priestern geweiht wurden, in ihrem Werk das Verhältnis zwischen Physik und christlichem Glauben behandeln, so hat auch mein Vater die Wissenschaft immer innerhalb, nicht außerhalb des Göttlichen gesehen. Angekommen in Deutschland, in der Wissenschaft? Ursula Krechel hätte sicher nahtlos über meinen Vater weiterschreiben können, hätte er sich diesem Ansinnen zu öffnen vermocht.

Sie lachte, kurz, aber von Herzen. Ursula Krechel lachte als Antwort auf eine Frage meiner Schwester Miriam. Die hatte Ursula Krechel nach einem Termin beim SWR abgeholt. Beide trafen sich zum ersten Mal; ein Austauschen und langsames Annähern, ein Klären erster wichtiger Fragen. Meine Schwester hatte die Autorin eingeladen, das Grab des Mannes zu besuchen, dessen Leben sie mit ihrem Buch nun postum so große Aufmerksamkeit zukommen lässt. Die eine stand vor dem Grab des Mannes, der Gegenstand ihres Erfolgsromans ist, den sie kennt wie kein anderer und den sie nie kennenlernte. Die andere stand vor dem Grab des Mannes, dem sie ihr Leben verdankt und an den sie Erinnerungen aus der Kindheit hat. Ursula Krechel lachte als Antwort auf die Frage, ob sie, Ursula Krechel, selbst Amanda sei, diese im Roman aus dem exotischen Off auftauchende uneheliche Tochter.

Diese Frage hat uns als Familie beschäftigt: Gibt es da Informationen, die wir nicht kennen. Immer wieder wird sie nun von außen an uns herangetragen. Nein, diese Tochter gibt es nicht. Und ebendiese Frage brachte Ursula Krechel zum Lachen. Ein Lachen, mit dem sie nach meinem Empfinden bei der Familie ihrer Romanvorlage, bei uns, angekommen ist.

Wie steht es aber um das Ankommen der dritten Generation, wie sieht es mit meinem eigenen Ankommen aus? Die erste Generation erlebt Geschichte. Die zweite Generation, und dazu zähle ich meinen Vater, meine Tante und auch Ursula Krechel, verarbeitet sie. Anders als mein Vater hat sich meine Tante Ruth Barnett aktiv mit den Zusammenhängen beschäftigt. Sie ist Lehrerin und Therapeutin. Ihre eigenen Erlebnisse hat sie in dem Buch "Person of No Nationality" aufgearbeitet, und sie hält Vorträge in Schulklassen über den Kindertransport und die aktuelle Situation der Sinti und Roma, in der sie ihre eigenen Erlebnisse wiedererkennt. Ihr Buch diente Ursula Krechel als Vorlage für die Zeit der Kornitzer-Kinder in England.

Die dritte, meine Generation ist frei! Welch vermessene Behauptung, die scheinbar im Widerspruch zu vielen Aussagen, auch zu denen eines meiner eigenen Vorbilder, des Familientherapeuten Bert Hellinger, steht, der das System einer Familie in seinen Aufstellungen so kompromisslos aufdeckt. Selbst die Bibel gibt mir im Buch Exodus, der Schilderung des israelitischen Auszuges aus der ägyptischen Knechtschaft, folgende Worte mit: "aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!" (2. Moses 34, 7).

Aber in seinem Buch "Anerkennen was ist" (1996) plädiert Hellinger dafür, die Last zu lösen und sich von Familiengeschichte zu entbinden. Und die Bibel gibt schon drei Sätze später eine Antwort auf ihre eigene Aussage: "Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern." Geschichte wirkt auf die Nachkommen Abrahams ein; Jesus und Mohammed entfalten Wirkung über Generationen hinweg, und das Judentum leidet unter dem Schmerz der Tragödie auf dem Berg Masada, als die letzte Festung vor den Römern fiel und die Belagerten ihre Freiheit in den Tod mitnahmen. Die Auswirkungen dieser Geschichten erfahren wir alle hier und jetzt, täglich, aktuell.

Mich motiviert das dazu, für die Versöhnung der Menschen in Israel und im Westjordanland aktiv zu werden. Eine scheinbar unlösbare Aufgabe, treffen dort doch die persönlichen Schicksale von Menschen direkt aufeinander. Eine Aufgabe, die gelöst werden will - mein Ankommen und mein Weitergehen.

MARTIN BERND MICHAELIS

Der Verfasser ist der Enkel von Robert Bernd Michaelis, dessen Leben Ursula Krechel als Vorlage für ihren Protagonisten Richard Kornitzer im Roman "Landgericht" diente, der in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis gewann.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Über Ursula Krechels "Landgericht", soeben mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, schreibt in der Zeit Andreas Isenschmid, der der diesjährigen Buchpreis-Jury angehörte und als Sprecher vorstand. Seine Besprechung fällt entsprechend hymnisch aus und liest sich wie eine Jury-Begründung. Isenschmid referiert die Handlung und legt besonderen Wert darauf, dass Krechel diese Geschichte nicht erfunden, sondern gefunden hat: bei der Recherche für ihr voriges Buch machte die Autorin "Archivfunde, wie sie nur sehr guten Historikern glücken". Die große Schwierigkeit bestand nun darin, bei der Verarbeitung der historischen Quellen zu einem Roman den richtigen Ton zu treffen. Das sei Krechel mit ihrem "kühlen, distanzierten, bisweilen analytischen und essayistischen Erzählstil" meisterhaft gelungen. Eine uneingeschränkte Hymne also auf "dieses wahrheitsliebende, schöne und wirklich einzigartige Buch".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2012

Die Moral von der
Geschicht’
Zeithistorie als Problem:
Ursula Krechels „Landgericht“
Dem Roman „Landgericht“, für den die Berliner Schriftstellerin Ursula Krechel an diesem Montag den „Deutschen Buchpreis 2012“ erhielt, ist ein Motto vorangestellt: „Mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckt die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen.“ Der Satz stammt aus dem „Michael Kohlhaas“ des Heinrich von Kleist. Es ist der Satz eines Helden, der sich, mit der Welt zerfallen, nun außerhalb der Rechtsordnung ansiedelt und dem Furor, mit dem er vertritt, was ihm als Unrecht bescheinigt wurde, keine Zügel mehr anlegen wird.
  Der Moderator Gert Scobel hat während der Preiszeremonie im Frankfurter Römer zu Recht auf den Doppelsinn des Titels „Landgericht“ verwiesen. Es ist das Mainzer Landgericht gemeint, an dem der Held des Romans, der aus dem Exil zurückgekehrte Jurist Richard Kornitzer als Direktor arbeitet. Und zugleich wird, wer den Roman gelesen hat, ihn am Ende als Gericht über das Land in Erinnerung behalten, in dem er angesiedelt ist, als Gericht über den Umgang mit den Emigranten und den Opfern des Nationalsozialismus im Deutschland der fünfziger Jahre.
  Diesen Stoff teilt der Roman mit der Zeitgeschichte, er ist wie sie mit dem Archiv im Bunde, er kennt das Bundesergänzungsgesetz und das Entschädigungsgesetz genau, mit dem sich seine Figuren herumzuschlagen haben. Diese Figuren bewegen sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Figuren des Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, mit dem Eugen Ruge im vergangenen Jahr den Buchpreis gewann. Was bei Ruge das Exil der Sozialisten und Kommunisten in Mexiko war, das ist bei Ursula Krechel das Exil der Sozialisten im Kuba der späten dreißiger Jahre.
  Ursula Krechel begleitet ihren Helden in der Nahsicht durch sein Exil und durch die junge Bundesrepublik. Und was sie an historischem Material beibringt, um den Doppelsinn ihres Romantitels einzulösen, ist beeindruckend. Und sie lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Roman dazu da ist, eine Leerstelle symbolisch zu füllen. Sie wird durch den Schlusssatz bezeichnet: „Im Biografischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration kommt Richard Kornitzer nicht vor.“
  Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass die Autorin in ihrer kleinen Dankesrede einen Begriff so unbefangen benutzte, der in der Nachkriegszeit geboren wurde und daher in ihrem Roman eine große Rolle spielt: „Wiedergutmachung“. Es ist zu Recht unüblich geworden, diesen Begriff in dem Wortsinn zu benutzen, den er suggeriert. Auch Ursula Krechel kann ihren Roman nicht als „Wiedergutmachung“ begreifen, sondern nur als Rehabilitierung und als Gedenken.
  Und dennoch bezeichnet dieser Begriff ein Risiko, das dem Bündnis der Gegenwartsliteratur mit der Zeitgeschichte innewohnt: das gute Gefühl des Lesers, beim „Landgericht“ – zum Glück – nicht auf der Anklagebank zu sitzen, sondern als Schöffe mitwirken zu dürfen. Denn an dem historischen Urteil, etwa über die in diesem Roman vorkommenden Figuren aus dem Umkreis der Rassehygieniker um Mengele und Leopold von Verschuer kann ja kein Zweifel bestehen.
  Was aber kann der innerlichen Zufriedenheit, „die eigene Brust nunmehr in Ordnung zu sehen“, entgegenwirken? Dies können im zeithistorischen Roman nur die Schreckbilder sein, mit der er die „ungeheure Unordnung“ der Geschichte so darstellt, dass ihr kein Landgerichtsurteil die Waage halten kann. Darum wäre dem Gegenwartsroman, der sich in die Schreckensregionen der Geschichte wagt, zu wünschen, dass er nach der verdienstvollen historischen Recherche nun, gestärkt von seinen Buchpreis-Erfolgen, die zweite Stufe zündet: den ästhetischen Furor, der den Ton der Zeitgeschichte und das Landgericht sprengt.
  Dieser ästhetische Furor kam in die Literatur der Bundesrepublik hinein, als die Zeitgeschichte noch nicht allgegenwärtig, das Urteil über den Nationalsozialismus noch nicht einhellig und die Meinungen über Emigranten und ihr Recht, in Deutschland wieder eine Rolle zu spielen, noch sehr geteilt waren. Er begegnete als Furor der Kälte in den „Lebensläufen“ und „Geschichten“ Alexander Kluges, als explosive Fusion von Surrealismus, dokumentarischer Montage und Geschichtsschreibung der Unterlegenen bei Peter Weiss von der „Ermittlung“ bis zur „Ästhetik des Widerstands“, im monomanischen Kampf mit dem Dickicht der Details in Uwe Johnsons „Jahrestagen“.
  Der gute Held, den Ursula Krechel ins Zentrum ihres Romans gestellt hat, ist in seinen Umrissen von der Zeitgeschichte vollkommen gedeckt. Er findet zu Recht das Mitgefühl des Lesers, dem es die Romanform ermöglicht, scheinbar in seine Seele zu blicken. Das Urteil des „Landgerichts“ ist nicht anzuzweifeln. Eben deshalb steckt in Romanen wie diesen ein ästhetisches Problem. Ihnen droht der Verlust der „ungeheuren Unordnung“.
LOTHAR MÜLLER
Das Urteil, das der Roman fällt,
steht außer Frage – das eben
macht die Sache so zwiespältig
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»Romane wie dieser sind selten. Ursula Krechels Landgericht ist ein Glücksfall.« Martin Zingg / Neue Zürcher Zeitung

»Es brauchte Ursula Krechel, um dieses wahrheitsliebende, schöne und wirklich einzigartige Buch in die Welt zu bringen.« Andreas Isenschmid / Die Zeit