»Bruno Latour riet mir: Es ist wichtig, Nikolaj Schultz zu lesen. Er hatte recht.« Hans Ulrich Obrist
Hitzewelle in Paris. Nachts liegen die Menschen schlaflos in verschwitzten T-Shirts unter ihren Zinkdächern. Soll man nicht besser die Klimaanlage anschalten? Oder macht das alles noch schlimmer? Und was ist eigentlich mit dem billigen T-Shirt, das über Tausende Kilometer nach Europa geschafft wurde? Der Autor bekommt Panik, will den Temperaturen und seinem schlechten Gewissen entfliehen. Er macht sich auf nach Porquerolles. Doch auch die Insel ist nicht länger unberührt, sondern ein überlaufenes Touristenziel. Im Sommer ist das Wasser knapp. Die ikonische Plage d'Argent wird von den Einheimischen nur noch »Bakterienstrand« genannt - wie in einem Prozess der umgekehrten Alchemie wird aus Schönheit Schmutz, aus Silber Dreck.
Nikolaj Schultz' Erlebnisse und Begegnungen werfen existenzielle Fragen auf: nach der Verantwortung jeder und jedes Einzelnen, nach ethischer und ökologischer Orientierung im Anthropozän. Seine Antworten sind nicht immer tröstend, aber er findet Einsichten und einen Ton, der ihn zur Stimme einer Generation machen könnte.
Hitzewelle in Paris. Nachts liegen die Menschen schlaflos in verschwitzten T-Shirts unter ihren Zinkdächern. Soll man nicht besser die Klimaanlage anschalten? Oder macht das alles noch schlimmer? Und was ist eigentlich mit dem billigen T-Shirt, das über Tausende Kilometer nach Europa geschafft wurde? Der Autor bekommt Panik, will den Temperaturen und seinem schlechten Gewissen entfliehen. Er macht sich auf nach Porquerolles. Doch auch die Insel ist nicht länger unberührt, sondern ein überlaufenes Touristenziel. Im Sommer ist das Wasser knapp. Die ikonische Plage d'Argent wird von den Einheimischen nur noch »Bakterienstrand« genannt - wie in einem Prozess der umgekehrten Alchemie wird aus Schönheit Schmutz, aus Silber Dreck.
Nikolaj Schultz' Erlebnisse und Begegnungen werfen existenzielle Fragen auf: nach der Verantwortung jeder und jedes Einzelnen, nach ethischer und ökologischer Orientierung im Anthropozän. Seine Antworten sind nicht immer tröstend, aber er findet Einsichten und einen Ton, der ihn zur Stimme einer Generation machen könnte.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Anschaulich verbindet der in Paris lebende dänische Soziologe Nikolaj Schultz in seinem Essay "Landkrank" persönliche Eindrücke und grundlegende Einsichten zur drohenden ökologischen Krise zu einer eingehenden literarisch-theoretischen Selbstbefragung, findet Rezensent Otto Langels. Eine unerträgliche Hitzewelle in Frankreichs Hauptstadt, wie sie mittlerweile keine Seltenheit mehr sind, wird dabei zum Ausgang für Reflexionen über die globale Verflechtung von Konsumption und Umweltzerstörung, dem Wunsch nach einer Flucht in eine intakte Welt und der weiteren Destabilisierung von Ökosystemen, die mit dem Massentourismus einhergeht. Eindrücklich plädiert Schultz, wie auch schon in seinem gemeinsam mit Bruno Latour verfassten Manifest, für eine Politik, deren erstes Ziel das Aufhalten der Klimakrise ist, und für eine "ökologische Klasse", die dies erkämpft. Für den Rezensenten lässt er es dabei an Konkretion vermissen, sodass der deprimierende Effekt seiner kritischen Reflexionen überwiegt. Nichtsdestotrotz zeigt Langels sich angetan von diesem politisch wichtigen Essay.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Verletzlichkeit des Individuums und seine unvermeidbare Verstrickung in diese Katastrophe steht einem nach der Lektüre schmerzhaft klar vor Augen. Was dieses schmale Büchlein aber vor allem bemerkenswert macht, ist, dass es eine Sprache findet für die seltsamen ... und manchmal widersprüchlichen emotionalen Zustände, die diese planetare Krise auslöst.« Julia Allison Simmons DIE ZEIT 20240315
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Die Oma ist schuld
Der Soziologe Nikolaj Schultz hat einen Essay zur Klimakrise geschrieben, der lange einer larmoyanten Bezichtigungsarie gleicht. Bis er dann auf einmal brillant ist.
Der französische Soziologe Bruno Latour hat kurz vor seinem Tod vor zwei Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem er die Kontur einer neuen sozialen Klasse zeichnet, die er die „ökologische Klasse“ nennt. Latour schrieb das Buch nicht allein, sondern mit seinem Schüler Nikolaj Schultz, einem in Paris lebenden jungen Dänen. In die üblichen marxistisch-klassenkämpferischen Muster passte die neue Klasse der Umweltaktivisten nicht: Zu viele ihrer Gegner gehörten der Arbeiterschicht an, zu viele ihrer Unterstützer den Wohlhabenden. Deshalb müssten die eingeübten Gesetze durch eine neue Flexibilität in der Solidarisierungspraxis ersetzt werden: „Wenn sich Auseinandersetzungen um die Ökologie drehen, wem fühlst du dich nahe und wem erschreckend fern?“
Nikolaj Schultz hat diese klimapolitische Gretchenfrage jetzt mit einer Art ökologisch-introspektivem Selbstversuch beantwortet. „Landkrank“ heißt der „ethnografiktive“ Essay, mit dem Schultz nach dem eigenen Link zum ökologischen Gesamtdesaster sucht und dabei – ganz im Sinn des dänischen Totalpessimisten Sören Kierkegaard – aus der Selbstbezichtigungs-Spirale kaum mehr herauskommt.
Es beginnt mit einer in Verzweiflung vor der Hitze und deren Genese verbrachten Sommernacht in Paris, die zu einem Kassensturz der individuellen Alltagsmoral führt: Was er auch tut, sei es Duschen, Essen (auch ohne Fleisch), die Kleidung, die er trägt, kurz: Alles wird zur Untat. Jedwede Regung ist ein Beitrag zum ökologischen Desaster. Es folgt gewissermaßen eine vollständige kulturelle Entkleidung, nach deren Erledigung trotzdem die untilgbare, sich unablässig fortpflanzende Schuld bleibt.
Die noch mit Latour eher behutsam gesetzte Frage nach der soziologischen Nähe zu anderen Menschen, spitzt Schultz im Sinn seiner „neuen Conditio humana“, den Voraussetzungen des menschlichen Lebens in der Welt also, gleich zu Beginn seiner Überlegungen zu: Auf der einen Seite stehen die Entitäten, also alles von der Mikrobe zum Baum, von denen seine Existenz abhängt. Auf der anderen Seite wiegt seine Beteiligung an der Vernichtung der Existenz dieser Wesen schwer.
Aber die Schuld will Schultz nicht allein tragen, sie geht sozusagen rückwirkend auf die vorangegangen Generationen über. Denn auch die Großmutter mit ihrem Wunsch nach Freiheit und Wohlstand gehört zu den Schuldigen, weil sie die Geschichte ihres Wohlstands und ihrer Emanzipation als fortwährende Fortschrittserzählung begriffen habe – ohne die ökologischen Folgen zu erkennen. „Kollektiv gebe ich ihr und ihrer Generation die Schuld“. Damit ist gewissermaßen über dem gesellschaftlichen ein philosophischer Kampfplatz errichtet. Die Ereignisse des Sommers, die in Paris übrigens immer eher schwer erträgliche Hitze, werden in mehrfacher Vergrößerung zum Modell der ungeheuren Bezichtigungsmanie, welche dieses Buch durchzieht.
Ein Freund lädt den Erzähler zu einer Segelfahrt auf die Insel Porquerolles ein – ein Hotspot reicher Franzosen, eine Art Luxuskolonie der Pariser Rive Gauche. Schon auf der Fahrt übers Meer schimmert unter der ruhigen Wasseroberfläche der verheerende Befund durch: Die maritimen Ökosysteme sind irreparabel zerstört, die im Meer lebenden Tiere fast ausgerottet.
Zum Schlüsselerlebnis wird die Begegnung mit einer älteren einheimischen Frau am Strand. Sie bittet den Besucher, woanders hinzugehen, weil sie keinen Platz mehr am Strand für sich finden könne. Natürlich ist diese – im Alltag eher verschroben wirkende – Bitte für den Erzähler ein weiterer Anlass, seine Daseinsschuld mit weiteren ökokritischen Fakten einzukleiden: „Wenn diese Insel wegen der Spuren meiner Freiheit verschwindet, ist meine Freiheit offenbar eine archaische Bindung, die aufgegeben werden muss.“
Wenn man eine eher skeptische Lesart anschlägt, könnte man Schultz’ Leiden an seinen Verstrickungen in den Klimawandel auch als identitätsstiftende Leiden betrachten. Hier ist ein großer, spätmoderner Schmerzensmann unterwegs, der sich bei jedem Schritt die Geißel auf den Rücken knallt. Interessant und relevant wird Schultz immer dann, wenn es ihm gelingt, seine theoretischen Modelle zu stabilisieren. Wenn er die Theorie der Ausbeutung im Klassenkampf zu einer ökologischen Ausbeutungserzählung für die Menschheit umbaut. Ausbeutung, schreibt Schultz, wurzele im Boden und gründe auf dem Anspruch einiger Kollektive, „auf Kosten der Chancen anderer Menschen, die grundlegenden irdischen Bedingungen der Bewohnbarkeit aufrechtzuerhalten“.
Zwei theoretische Beutefänge hat sich Schultz also aus der täglich erfahrenen Schuld- und Hitzehölle gesichert: den Ansatz einer neuen Klassentheorie und eine Art Klimawandel-Ontologie, nach welcher sich der Mensch aus Luft, Bakterien und anderen Entitäten zusammensetze. Zugleich aber sind jene Entitäten aus dem gemacht, was der Mensch ist und absondert.
Diese Interferenz hat dann auch das Zeug dazu, Kants bestirnten Himmel über mir mitsamt dem moralischen Gesetz in mir außer Kraft zu setzen. Moral ist kein Rückzugsort mehr. Sie muss sich im Kampf um die Unversehrtheit des Kosmos erweisen. Sofern die Klimabewegung ein interessantes und kühnes Denkmodell brauchen sollte – hier wäre es.
Der Suhrkamp-Verlag hat „Landkrank“ mit zwei etwas ratlos daherkommenden Begleittexten eingerahmt. Das Vorwort stammt von der Klimaaktivisten Luisa Neubauer, das Nachwort schrieb der Historiker Dipesh Chakrabarty in dem Glauben, das Buch werde nachdenklichen Menschen als „anregender Wegweiser“ dienen. Schultz’ Text ist vieles: ein Neuaufriss der Klassentheorie und eine Neueinkleidung der Seinslehre. Um Wegweiser zu sein, ist er entschieden zu düster.
HILMAR KLUTE
Nikolaj Schultz:
Landkrank. Ein Essay.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2024.
122 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Soziologe Nikolaj Schultz hat einen Essay zur Klimakrise geschrieben, der lange einer larmoyanten Bezichtigungsarie gleicht. Bis er dann auf einmal brillant ist.
Der französische Soziologe Bruno Latour hat kurz vor seinem Tod vor zwei Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem er die Kontur einer neuen sozialen Klasse zeichnet, die er die „ökologische Klasse“ nennt. Latour schrieb das Buch nicht allein, sondern mit seinem Schüler Nikolaj Schultz, einem in Paris lebenden jungen Dänen. In die üblichen marxistisch-klassenkämpferischen Muster passte die neue Klasse der Umweltaktivisten nicht: Zu viele ihrer Gegner gehörten der Arbeiterschicht an, zu viele ihrer Unterstützer den Wohlhabenden. Deshalb müssten die eingeübten Gesetze durch eine neue Flexibilität in der Solidarisierungspraxis ersetzt werden: „Wenn sich Auseinandersetzungen um die Ökologie drehen, wem fühlst du dich nahe und wem erschreckend fern?“
Nikolaj Schultz hat diese klimapolitische Gretchenfrage jetzt mit einer Art ökologisch-introspektivem Selbstversuch beantwortet. „Landkrank“ heißt der „ethnografiktive“ Essay, mit dem Schultz nach dem eigenen Link zum ökologischen Gesamtdesaster sucht und dabei – ganz im Sinn des dänischen Totalpessimisten Sören Kierkegaard – aus der Selbstbezichtigungs-Spirale kaum mehr herauskommt.
Es beginnt mit einer in Verzweiflung vor der Hitze und deren Genese verbrachten Sommernacht in Paris, die zu einem Kassensturz der individuellen Alltagsmoral führt: Was er auch tut, sei es Duschen, Essen (auch ohne Fleisch), die Kleidung, die er trägt, kurz: Alles wird zur Untat. Jedwede Regung ist ein Beitrag zum ökologischen Desaster. Es folgt gewissermaßen eine vollständige kulturelle Entkleidung, nach deren Erledigung trotzdem die untilgbare, sich unablässig fortpflanzende Schuld bleibt.
Die noch mit Latour eher behutsam gesetzte Frage nach der soziologischen Nähe zu anderen Menschen, spitzt Schultz im Sinn seiner „neuen Conditio humana“, den Voraussetzungen des menschlichen Lebens in der Welt also, gleich zu Beginn seiner Überlegungen zu: Auf der einen Seite stehen die Entitäten, also alles von der Mikrobe zum Baum, von denen seine Existenz abhängt. Auf der anderen Seite wiegt seine Beteiligung an der Vernichtung der Existenz dieser Wesen schwer.
Aber die Schuld will Schultz nicht allein tragen, sie geht sozusagen rückwirkend auf die vorangegangen Generationen über. Denn auch die Großmutter mit ihrem Wunsch nach Freiheit und Wohlstand gehört zu den Schuldigen, weil sie die Geschichte ihres Wohlstands und ihrer Emanzipation als fortwährende Fortschrittserzählung begriffen habe – ohne die ökologischen Folgen zu erkennen. „Kollektiv gebe ich ihr und ihrer Generation die Schuld“. Damit ist gewissermaßen über dem gesellschaftlichen ein philosophischer Kampfplatz errichtet. Die Ereignisse des Sommers, die in Paris übrigens immer eher schwer erträgliche Hitze, werden in mehrfacher Vergrößerung zum Modell der ungeheuren Bezichtigungsmanie, welche dieses Buch durchzieht.
Ein Freund lädt den Erzähler zu einer Segelfahrt auf die Insel Porquerolles ein – ein Hotspot reicher Franzosen, eine Art Luxuskolonie der Pariser Rive Gauche. Schon auf der Fahrt übers Meer schimmert unter der ruhigen Wasseroberfläche der verheerende Befund durch: Die maritimen Ökosysteme sind irreparabel zerstört, die im Meer lebenden Tiere fast ausgerottet.
Zum Schlüsselerlebnis wird die Begegnung mit einer älteren einheimischen Frau am Strand. Sie bittet den Besucher, woanders hinzugehen, weil sie keinen Platz mehr am Strand für sich finden könne. Natürlich ist diese – im Alltag eher verschroben wirkende – Bitte für den Erzähler ein weiterer Anlass, seine Daseinsschuld mit weiteren ökokritischen Fakten einzukleiden: „Wenn diese Insel wegen der Spuren meiner Freiheit verschwindet, ist meine Freiheit offenbar eine archaische Bindung, die aufgegeben werden muss.“
Wenn man eine eher skeptische Lesart anschlägt, könnte man Schultz’ Leiden an seinen Verstrickungen in den Klimawandel auch als identitätsstiftende Leiden betrachten. Hier ist ein großer, spätmoderner Schmerzensmann unterwegs, der sich bei jedem Schritt die Geißel auf den Rücken knallt. Interessant und relevant wird Schultz immer dann, wenn es ihm gelingt, seine theoretischen Modelle zu stabilisieren. Wenn er die Theorie der Ausbeutung im Klassenkampf zu einer ökologischen Ausbeutungserzählung für die Menschheit umbaut. Ausbeutung, schreibt Schultz, wurzele im Boden und gründe auf dem Anspruch einiger Kollektive, „auf Kosten der Chancen anderer Menschen, die grundlegenden irdischen Bedingungen der Bewohnbarkeit aufrechtzuerhalten“.
Zwei theoretische Beutefänge hat sich Schultz also aus der täglich erfahrenen Schuld- und Hitzehölle gesichert: den Ansatz einer neuen Klassentheorie und eine Art Klimawandel-Ontologie, nach welcher sich der Mensch aus Luft, Bakterien und anderen Entitäten zusammensetze. Zugleich aber sind jene Entitäten aus dem gemacht, was der Mensch ist und absondert.
Diese Interferenz hat dann auch das Zeug dazu, Kants bestirnten Himmel über mir mitsamt dem moralischen Gesetz in mir außer Kraft zu setzen. Moral ist kein Rückzugsort mehr. Sie muss sich im Kampf um die Unversehrtheit des Kosmos erweisen. Sofern die Klimabewegung ein interessantes und kühnes Denkmodell brauchen sollte – hier wäre es.
Der Suhrkamp-Verlag hat „Landkrank“ mit zwei etwas ratlos daherkommenden Begleittexten eingerahmt. Das Vorwort stammt von der Klimaaktivisten Luisa Neubauer, das Nachwort schrieb der Historiker Dipesh Chakrabarty in dem Glauben, das Buch werde nachdenklichen Menschen als „anregender Wegweiser“ dienen. Schultz’ Text ist vieles: ein Neuaufriss der Klassentheorie und eine Neueinkleidung der Seinslehre. Um Wegweiser zu sein, ist er entschieden zu düster.
HILMAR KLUTE
Nikolaj Schultz:
Landkrank. Ein Essay.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2024.
122 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2024Es schwankt der Boden
Nikolaj Schultz leidet an der Verstrickung in den Klimawandel
Auf die Rückseite von Büchern gedruckte Zitate loben diese oder ihre Autoren üblicherweise über den grünen Klee. Das stimmt auch für fast alle, die auf dem Umschlag von Nikolaj Schultz' Bändchen "Landkrank" zu finden sind. Doch eines sticht durch Nüchternheit hervor. "Spätere Diagnostiker", so lautet die Zitatspende Peter Sloterdijks, "werden den Autor einen Geopathen nennen." Das gewählte Etikett ist überaus treffend. Nikolaj Schultz' Buch - Soziologe, Jahrgang 1990 und durch ein gemeinsam mit dem späten Bruno Latour geschriebenes "Memorandum" (F.A.Z. vom 29. Oktober 2022) einem breiteren Publikum bekannt geworden - handelt von unentrinnbaren Wirkungen individueller Lebensführung: kaum eine Entscheidung alltäglicher, mit genutzten Produkten oder Dienstleistungen zusammenhängender Art, die nicht letztlich auch zu fatalen Effekten beiträgt - für Klima, Böden, Lebewesen, Biodiversität, Gesellschaftsentwicklungen.
Von diesen Wirkungen, von denen er nun einmal weiß, nicht absehen zu können und seinen ökologischen "Fußabdruck" als beständigen Albtraum zu erleben, davon nicht zuletzt erzählt Schultz. Die dabei fälligen Hinweise auf die Verflochtenheit selbst einer bescheidenen westlichen Lebensführung in lokale wie globale Effekte bedrohlicher Art mögen für sich genommen wenig hermachen. Aber auf ihre entschieden persönliche, das eigene Befinden ins Spiel bringende Einbettung kommt es hier an, durch einen Autor, der überall "die verstörenden Spuren meines Seins und Tuns" erkennt und selbst dem Gedanken nicht zu widerstehen vermag, dass ihn jede Seite, ja jedes Wort seines Essays - durch das aufgewendete Papier, die von weither geholte Druckerschwärze . . . - tiefer in die Verstrickung als Mitakteur der planetarischen Notlage treibt. Symptome eben des "Mal de terre", wie der französische Originaltitel lautet, was eigentlich die körperliche Unsicherheit meint, die befällt, wer nach einiger Zeit auf einem von Wind und Wellen bewegten Boot zurück auf festen Boden kommt.
Auf ein Boot flüchtet sich der Erzähler tatsächlich, nachdem er den Leser eingangs am Leiden an einer tropischen Pariser Sommernacht teilnehmen ließ. Da geht es nicht nur um die Hitze der Hundstage - "Das Anthropozän ist offenbar kein guter Ort zum Schlafen" -, sondern um eine körperliches Empfinden gewordene Verstörung angesichts all der Probleme, die er nicht loswird. Wo doch selbst der Kaffee, den er morgens braucht, "für eine Verschlechterung der Böden und für Wasserknappheit" sorgt und das Duschen CO2 in die Atmosphäre bläst.
Also erst einmal weg aus Paris und auf die kleine Insel Porquerolles vor der französischen Mittelmeerküste, wo Bekannte ein hübsches Boot unterhalten. Wobei den Problemen freilich so nicht zu entkommen ist, denn sie haben sich, das will damit bedeutet sein, überall eingestellt, nunmehr unter den Bedingungen einer Insel, die Naturschutzgebiet und touristischer Anziehungspunkt ist. Der Erzähler sieht aufs Meer, und er weiß, dass unter seiner Oberfläche die Zerstörungen fortschreiten und die Küsten erodieren. Der Aufenthalt gibt ihm Gelegenheit, auf diese Entwicklungen einzugehen, schon bestehende Konflikte zu benennen, deren Verschärfung in den nächsten Jahrzehnten unabwendbar scheint.
Auch der Yachttourismus vor der Mittelmeerküste hat daran seinen Anteil, samt den Superyachten, die in den Sommermonaten dort zahlreich unterwegs sind. Man kann diese maritimen Luxusmobilien auch als Boot gewordene Wunschvorstellung ansehen, sich von allen terrestrischen Verbindungen zu befreien, so wie schon Inseln etwas von solcher Autarkie versprechen. Für Schultz ist das Anknüpfungspunkt, einem Begriff von Freiheit als Abstreifen möglichst vieler Abhängigkeiten einen anderen Begriff entgegenzusetzen, der sich in der "Nutzung und Pflege von Verbindungen und Beziehungen zu allen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen" erfüllt.
Womit sich auf triftige Weise zeigt, wie didaktisch umsichtig der Ausflug auf Boot und Insel gewählt war. Ob der Autor der "Nachwuchsstar der Soziologie" ist, wie ein anderes Zitat auf der Umschlagrückseite behauptet, darüber lässt dieses Bändchen keinen Schluss zu. Oder doch nur dann, wenn das weniger auf Inhalte zielte als auf eine Weise der erzählenden, im Erleben verankerten Darstellung. Die aufwendige Rahmung mit Vor- und Nachwort ist vielleicht als Beleg für die Attraktivität dieses "geopathischen" Genres anzusehen. HELMUT MAYER
Nikolaj Schultz: "Landkrank". Ein Essay.
Vorwort v. Luisa Neubauer, Nachwort v. Dipesh Chakrabarty. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
122 S., br., 15,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nikolaj Schultz leidet an der Verstrickung in den Klimawandel
Auf die Rückseite von Büchern gedruckte Zitate loben diese oder ihre Autoren üblicherweise über den grünen Klee. Das stimmt auch für fast alle, die auf dem Umschlag von Nikolaj Schultz' Bändchen "Landkrank" zu finden sind. Doch eines sticht durch Nüchternheit hervor. "Spätere Diagnostiker", so lautet die Zitatspende Peter Sloterdijks, "werden den Autor einen Geopathen nennen." Das gewählte Etikett ist überaus treffend. Nikolaj Schultz' Buch - Soziologe, Jahrgang 1990 und durch ein gemeinsam mit dem späten Bruno Latour geschriebenes "Memorandum" (F.A.Z. vom 29. Oktober 2022) einem breiteren Publikum bekannt geworden - handelt von unentrinnbaren Wirkungen individueller Lebensführung: kaum eine Entscheidung alltäglicher, mit genutzten Produkten oder Dienstleistungen zusammenhängender Art, die nicht letztlich auch zu fatalen Effekten beiträgt - für Klima, Böden, Lebewesen, Biodiversität, Gesellschaftsentwicklungen.
Von diesen Wirkungen, von denen er nun einmal weiß, nicht absehen zu können und seinen ökologischen "Fußabdruck" als beständigen Albtraum zu erleben, davon nicht zuletzt erzählt Schultz. Die dabei fälligen Hinweise auf die Verflochtenheit selbst einer bescheidenen westlichen Lebensführung in lokale wie globale Effekte bedrohlicher Art mögen für sich genommen wenig hermachen. Aber auf ihre entschieden persönliche, das eigene Befinden ins Spiel bringende Einbettung kommt es hier an, durch einen Autor, der überall "die verstörenden Spuren meines Seins und Tuns" erkennt und selbst dem Gedanken nicht zu widerstehen vermag, dass ihn jede Seite, ja jedes Wort seines Essays - durch das aufgewendete Papier, die von weither geholte Druckerschwärze . . . - tiefer in die Verstrickung als Mitakteur der planetarischen Notlage treibt. Symptome eben des "Mal de terre", wie der französische Originaltitel lautet, was eigentlich die körperliche Unsicherheit meint, die befällt, wer nach einiger Zeit auf einem von Wind und Wellen bewegten Boot zurück auf festen Boden kommt.
Auf ein Boot flüchtet sich der Erzähler tatsächlich, nachdem er den Leser eingangs am Leiden an einer tropischen Pariser Sommernacht teilnehmen ließ. Da geht es nicht nur um die Hitze der Hundstage - "Das Anthropozän ist offenbar kein guter Ort zum Schlafen" -, sondern um eine körperliches Empfinden gewordene Verstörung angesichts all der Probleme, die er nicht loswird. Wo doch selbst der Kaffee, den er morgens braucht, "für eine Verschlechterung der Böden und für Wasserknappheit" sorgt und das Duschen CO2 in die Atmosphäre bläst.
Also erst einmal weg aus Paris und auf die kleine Insel Porquerolles vor der französischen Mittelmeerküste, wo Bekannte ein hübsches Boot unterhalten. Wobei den Problemen freilich so nicht zu entkommen ist, denn sie haben sich, das will damit bedeutet sein, überall eingestellt, nunmehr unter den Bedingungen einer Insel, die Naturschutzgebiet und touristischer Anziehungspunkt ist. Der Erzähler sieht aufs Meer, und er weiß, dass unter seiner Oberfläche die Zerstörungen fortschreiten und die Küsten erodieren. Der Aufenthalt gibt ihm Gelegenheit, auf diese Entwicklungen einzugehen, schon bestehende Konflikte zu benennen, deren Verschärfung in den nächsten Jahrzehnten unabwendbar scheint.
Auch der Yachttourismus vor der Mittelmeerküste hat daran seinen Anteil, samt den Superyachten, die in den Sommermonaten dort zahlreich unterwegs sind. Man kann diese maritimen Luxusmobilien auch als Boot gewordene Wunschvorstellung ansehen, sich von allen terrestrischen Verbindungen zu befreien, so wie schon Inseln etwas von solcher Autarkie versprechen. Für Schultz ist das Anknüpfungspunkt, einem Begriff von Freiheit als Abstreifen möglichst vieler Abhängigkeiten einen anderen Begriff entgegenzusetzen, der sich in der "Nutzung und Pflege von Verbindungen und Beziehungen zu allen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen" erfüllt.
Womit sich auf triftige Weise zeigt, wie didaktisch umsichtig der Ausflug auf Boot und Insel gewählt war. Ob der Autor der "Nachwuchsstar der Soziologie" ist, wie ein anderes Zitat auf der Umschlagrückseite behauptet, darüber lässt dieses Bändchen keinen Schluss zu. Oder doch nur dann, wenn das weniger auf Inhalte zielte als auf eine Weise der erzählenden, im Erleben verankerten Darstellung. Die aufwendige Rahmung mit Vor- und Nachwort ist vielleicht als Beleg für die Attraktivität dieses "geopathischen" Genres anzusehen. HELMUT MAYER
Nikolaj Schultz: "Landkrank". Ein Essay.
Vorwort v. Luisa Neubauer, Nachwort v. Dipesh Chakrabarty. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
122 S., br., 15,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main