Auf der Suche nach der besten aller Welten
Der überzeugte Großstädter Martin Reichert macht sich auf die Suche nach der besten aller Welten und wundert sich: Die neue Sehnsucht nach Natur und der Kitsch, den viele Städter übers Landleben im Kopf haben, trifft auf die Realität in der deutschen Provinz. Es tobt der »Kampf der Kulturen« zwischen echten, EU-subventionierten Großbauern und Bio-Wochenendfarmern mit Manufactum-Gartengerät. Zwischen den Fronten steht Martin Reichert und geht der Frage nach, warum eigentlich nur noch in der Stadt die echte Natur zu finden ist und wie es um die »unberührte Natur« tatsächlich bestellt ist.
Der überzeugte Großstädter Martin Reichert macht sich auf die Suche nach der besten aller Welten und wundert sich: Die neue Sehnsucht nach Natur und der Kitsch, den viele Städter übers Landleben im Kopf haben, trifft auf die Realität in der deutschen Provinz. Es tobt der »Kampf der Kulturen« zwischen echten, EU-subventionierten Großbauern und Bio-Wochenendfarmern mit Manufactum-Gartengerät. Zwischen den Fronten steht Martin Reichert und geht der Frage nach, warum eigentlich nur noch in der Stadt die echte Natur zu finden ist und wie es um die »unberührte Natur« tatsächlich bestellt ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2011Einkochen, ausmisten, Schafsmilch besorgen
Gern möchte man im Stall aushelfen, aber woher wissen wir, was Tiere brauchen? Martin Reichert und Hilal Sezgin zieht es aufs Land
Moritz von Uslar war schon da, jetzt haben sie zwei weitere Journalisten entdeckt: die deutsche Provinz. Martin Reichert und Hilal Sezgin haben sich ihr mit Haut und Haaren ausgesetzt, Reichert allerdings nur an den Wochenenden. Dann verlässt er Landhaus samt Lebensgefährten wieder Richtung Großstadt. Dafür hat er sich ein raues Pflaster für seinen „Selbstversuch in der deutschen Provinz“ ausgesucht: das Berliner Umland. Sezgin zog es in die Lüneburger Heide, wo es so idyllisch ist, dass das Wort „Bullerbü“ fällt. Überhaupt lassen die beiden viel Natur an sich heran, taz-Autor Reichert zieht Cannabis und Tomaten, die freie Publizistin Sezgin züchtet Schafe. Und so klingen die Titel ihrer Bücher wie Gartenzeitschriften: „Landlust“ hier, „Landleben“ dort. Gut wäre auch „Landliebe“ gewesen, aber das war wohl titelgeschützt.
Wobei es mit der Landliebe nicht so einfach ist. „Wer wirklich zurück zur Natur möchte, muss zu Obi“, schreibt Reichert. Der Traum vom autarken Leben beginnt im Baumarkt, wo man erst einmal das Zeug kaufen muss, das man für die eigene Scholle braucht. Danach wird es nicht idyllischer. Auf dem Dorf ist es laut, aber nicht wegen der Natur. Sondern weil überall Autos mit tiefergelegten Motoren fahren. Es stinkt, aber nicht nach Kompost. Sondern weil alle Nase lang etwas abgebrannt wird. Und das Land ist hässlich. Platt, zersiedelt von Fertigteilhäusern und den Resten ehemaliger LPGs.
Zum bewussten Leben taugt das Land schon gar nicht. Wer Produkte aus ökologischem Anbau will, der muss in den Bioladen in die Stadt. Auf den Feldern wachsen Power-Weizen oder Gen-Kartoffeln, aus denen Pappbecher hergestellt werden. Artgerecht gehaltene Tiere gibt es zwar hie und da, aber sie werden in die Großstädte verkauft; die Landbewohner essen das Billigfleisch vom Discounter. Da ist Brandenburg nicht anders als Lateinamerika, wo man nirgendwo guten Kaffee bekommt, weil der exportiert wird. Überhaupt hat die ländliche Idylle bei Reichert viel mit sogenannten Urlaubsparadiesen gemeinsam. Der Unterschied zwischen denen, die sich nach dem Paradies sehnen, und denen, die darin leben müssen, ist enorm. Wer kann, haut ab. Oder fährt an den Wochenenden „in die große Stadt, um ‚Patti‘ zu machen“.
Reicherts journalistisches Genre ist die Kolumne, daher auch die Pointendichte von „Landlust“. Reichert hat zu allem eine Meinung, ob Popmusik, Homosexualität oder Keramik von Hedwig Bollhagen. Nicht, dass das unlustig wäre. Doch spätestens wenn Reichert über das Kreativprekariat von Berlin-Mitte ablästert, hat man das Gefühl, dass es ihm weniger um das Landleben geht als darum, als Cooler unter Coolen zu bestehen.
Reichert glaubt, dass die Leute gerade jetzt empfänglich für das Landleben seien. Wegen der Wirtschaftskrise und den Problemen des deutschen Mittelstandes. Eine typisch journalistische Übertreibung. Leute, die ihr Vermögen und ihre Beziehung riskieren, um an den Wochenenden ein verfallenes Bauernhaus zu renovieren, gab es schon immer. Die Literatur ist erst recht voll davon, man nehme nur die Werke von Henry D. Thoreau, dem Philosophen und Fabrikantensohn, der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine selbstgebaute Blockhütte im Wald zog.
Mit einem Zitat von Thoreau beginnt dann auch Hilal Sezgin ihr Buch „Landleben“. Sezgin ist Kulturjournalistin, was den schönen Untertitel erklärt: „Von einer, die raus zog“. Wer die Produktivität anderer auswerten muss, kann sich nichts Abenteuerlicheres vorstellen als selbst zu produzieren, und sei es nur Brennnesselgelee. So wie es beim Schreiben der Magisterarbeit nichts Befriedigenderes gibt als Fensterputzen. Sezgin selbst macht die Sehnsucht nach einem von Jahreszeiten erfüllten Leben dafür verantwortlich, dass sie alle Zelte in Frankfurt am Main abbrach. Sie zog in ein norddeutsches Dorf mit 500 Einwohnern, wo sie lebt und arbeitet.
Im Gegensatz zu Reichert, der zwischen Stadt und Land pendelt, geht Sezgin ganz in ihrem Leben auf. Sie baut Zäune und Ställe für ihre Hühner und Schafe. Sie kocht ein und mistet aus. Das Erste, was die Städterin lassen muss, ist ihre Kleidung. Es gibt nicht so viele Jeans, wie bei der Landarbeit kaputtgehen. Von den Gummistiefeln ganz zu schweigen. Die aus dem Schuhgeschäft halten nur Tage, Sezgin muss gülle-resistente Spezialstiefel ordern. Mit jedem Kleidungsstück streift Sezgin ein Stück Stadt und Kulturbetrieb ab. Sie lässt sich auf die Unwägbarkeiten der Natur ein, auf die Unmittelbarkeit von Leben und Tod. Auf neugeborene Küken und den Habicht, der ihre Hühner holen will (die sie nach Romanfiguren benennt).
„Landleben“ ist ein wunderbares Buch. Die vierzig Jahre alte Autorin ist nicht nur so sympathisch, dass man ihr sofort im Stall helfen möchte. Es gelingt ihr auch, gleichermaßen plastisch und unprätentiös zu schreiben. Sezgin stilisiert sich nicht zur Aussteigerin, und sie will nicht missionieren. Ihre Schlüsse zieht sie allein aus der mühevollen Routine täglicher Landarbeit. Einmal muss sie für ein Lamm, das von seiner Mutter nicht angenommen wird, Schafsmilch besorgen, weil es sonst sterben würde. Sie fährt über Stock und Stein durch die dunkle Nacht, und als sie endlich den Schäfer findet, ist der Stress nicht vorbei. Der Schäfer muss die Euter seiner Tiere abtasten und von denen, die noch nicht leer gesaugt sind, tröpfchenweise Milch abzapfen. Erst in diesem Moment, schreibt Sezgin, sei ihr bewusst geworden: „Milch ist Körperflüssigkeit, gespendet von einer Kuh oder einem Schaf.“ Eine Erkenntnis, einfach und voller Demut vor der Natur.
Das Landleben beschreibt Sezgin mit der Empathie der Zugezogenen. In ihrem Dorf gibt es keine Arbeitslosigkeit und keine Neonazis, nur Leute, die unangemeldet zu Besuch kommen oder mit Arbeitskraft und Material aushelfen. Dass es nicht kitschig wird, liegt daran, dass Sezgin ihre kulturell geprägten Erwartungen an die Natur reflektiert. Woher weiß der Mensch, was Tiere brauchen? Welche Tiere darf man nützen, welche muss man retten? Ist es artgerecht oder anmaßend, das Leben von Tieren medizinisch zu verlängern? Sezgin trifft ihre Entscheidungen von Fall zu Fall. Sie päppelt zehn halbtote Hühner von einer Geflügelfarm auf, baut ihnen Ställe, passt sich ihrem Rhythmus an, der keine Urlaube duldet und keine Veränderungen. Aber sie beschließt, die Hühner bei Krankheiten „durch einen Nachbarn euthanasieren zu lassen“, weil ihr für den Tierarzt das Geld fehlt. Als sich aber ihr Gänserich Esmi verletzt, ein fieser Mobber ihrer Schafe, pflegt sie ihn wie einen kranken Säugling. Ethisches Handeln lässt sich nicht zum Gesetz machen.
Die großen Fragen beantworten sich dabei fast von selbst. Keine Tierprodukte zu essen, ist mühevoll, erleichtert aber das Gewissen. Ein Leben ohne kulturellen Input schränkt ein und erweitert den Horizont. Möglich ist diese Nähe zur Natur allerdings nur, weil Sezgin dank Technik und Internet ihrer journalistischen Tätigkeit von überall aus nachgehen kann. VERENA MAYER
HILAL SEZGIN: Landleben. Von einer, die rauszog. Dumont Buchverlag, Köln 2011. 270 Seiten, 19,90 Euro.
MARTIN REICHERT: Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011. 221 Seiten, 8,95 Euro.
Keine Tierprodukte zu essen,
ist mühevoll, erleichtert
aber das Gewissen
Die Ökoprodukte verlassen das Land und gehen in die Stadt – die Großstädter hingegen verspüren die neue Lust aufs Landleben und machen sich in die umgekehrte Richtung auf. Bevor man sich da richtig dreckig macht, sollte man sich aber erst einmal beschnuppern. Szene aus Sebastian Schippers Film „Mitte Ende August“ (2009, mit Marie Bäumer, Katze und Milan Peschel).
Foto: Cinetext
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Gern möchte man im Stall aushelfen, aber woher wissen wir, was Tiere brauchen? Martin Reichert und Hilal Sezgin zieht es aufs Land
Moritz von Uslar war schon da, jetzt haben sie zwei weitere Journalisten entdeckt: die deutsche Provinz. Martin Reichert und Hilal Sezgin haben sich ihr mit Haut und Haaren ausgesetzt, Reichert allerdings nur an den Wochenenden. Dann verlässt er Landhaus samt Lebensgefährten wieder Richtung Großstadt. Dafür hat er sich ein raues Pflaster für seinen „Selbstversuch in der deutschen Provinz“ ausgesucht: das Berliner Umland. Sezgin zog es in die Lüneburger Heide, wo es so idyllisch ist, dass das Wort „Bullerbü“ fällt. Überhaupt lassen die beiden viel Natur an sich heran, taz-Autor Reichert zieht Cannabis und Tomaten, die freie Publizistin Sezgin züchtet Schafe. Und so klingen die Titel ihrer Bücher wie Gartenzeitschriften: „Landlust“ hier, „Landleben“ dort. Gut wäre auch „Landliebe“ gewesen, aber das war wohl titelgeschützt.
Wobei es mit der Landliebe nicht so einfach ist. „Wer wirklich zurück zur Natur möchte, muss zu Obi“, schreibt Reichert. Der Traum vom autarken Leben beginnt im Baumarkt, wo man erst einmal das Zeug kaufen muss, das man für die eigene Scholle braucht. Danach wird es nicht idyllischer. Auf dem Dorf ist es laut, aber nicht wegen der Natur. Sondern weil überall Autos mit tiefergelegten Motoren fahren. Es stinkt, aber nicht nach Kompost. Sondern weil alle Nase lang etwas abgebrannt wird. Und das Land ist hässlich. Platt, zersiedelt von Fertigteilhäusern und den Resten ehemaliger LPGs.
Zum bewussten Leben taugt das Land schon gar nicht. Wer Produkte aus ökologischem Anbau will, der muss in den Bioladen in die Stadt. Auf den Feldern wachsen Power-Weizen oder Gen-Kartoffeln, aus denen Pappbecher hergestellt werden. Artgerecht gehaltene Tiere gibt es zwar hie und da, aber sie werden in die Großstädte verkauft; die Landbewohner essen das Billigfleisch vom Discounter. Da ist Brandenburg nicht anders als Lateinamerika, wo man nirgendwo guten Kaffee bekommt, weil der exportiert wird. Überhaupt hat die ländliche Idylle bei Reichert viel mit sogenannten Urlaubsparadiesen gemeinsam. Der Unterschied zwischen denen, die sich nach dem Paradies sehnen, und denen, die darin leben müssen, ist enorm. Wer kann, haut ab. Oder fährt an den Wochenenden „in die große Stadt, um ‚Patti‘ zu machen“.
Reicherts journalistisches Genre ist die Kolumne, daher auch die Pointendichte von „Landlust“. Reichert hat zu allem eine Meinung, ob Popmusik, Homosexualität oder Keramik von Hedwig Bollhagen. Nicht, dass das unlustig wäre. Doch spätestens wenn Reichert über das Kreativprekariat von Berlin-Mitte ablästert, hat man das Gefühl, dass es ihm weniger um das Landleben geht als darum, als Cooler unter Coolen zu bestehen.
Reichert glaubt, dass die Leute gerade jetzt empfänglich für das Landleben seien. Wegen der Wirtschaftskrise und den Problemen des deutschen Mittelstandes. Eine typisch journalistische Übertreibung. Leute, die ihr Vermögen und ihre Beziehung riskieren, um an den Wochenenden ein verfallenes Bauernhaus zu renovieren, gab es schon immer. Die Literatur ist erst recht voll davon, man nehme nur die Werke von Henry D. Thoreau, dem Philosophen und Fabrikantensohn, der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine selbstgebaute Blockhütte im Wald zog.
Mit einem Zitat von Thoreau beginnt dann auch Hilal Sezgin ihr Buch „Landleben“. Sezgin ist Kulturjournalistin, was den schönen Untertitel erklärt: „Von einer, die raus zog“. Wer die Produktivität anderer auswerten muss, kann sich nichts Abenteuerlicheres vorstellen als selbst zu produzieren, und sei es nur Brennnesselgelee. So wie es beim Schreiben der Magisterarbeit nichts Befriedigenderes gibt als Fensterputzen. Sezgin selbst macht die Sehnsucht nach einem von Jahreszeiten erfüllten Leben dafür verantwortlich, dass sie alle Zelte in Frankfurt am Main abbrach. Sie zog in ein norddeutsches Dorf mit 500 Einwohnern, wo sie lebt und arbeitet.
Im Gegensatz zu Reichert, der zwischen Stadt und Land pendelt, geht Sezgin ganz in ihrem Leben auf. Sie baut Zäune und Ställe für ihre Hühner und Schafe. Sie kocht ein und mistet aus. Das Erste, was die Städterin lassen muss, ist ihre Kleidung. Es gibt nicht so viele Jeans, wie bei der Landarbeit kaputtgehen. Von den Gummistiefeln ganz zu schweigen. Die aus dem Schuhgeschäft halten nur Tage, Sezgin muss gülle-resistente Spezialstiefel ordern. Mit jedem Kleidungsstück streift Sezgin ein Stück Stadt und Kulturbetrieb ab. Sie lässt sich auf die Unwägbarkeiten der Natur ein, auf die Unmittelbarkeit von Leben und Tod. Auf neugeborene Küken und den Habicht, der ihre Hühner holen will (die sie nach Romanfiguren benennt).
„Landleben“ ist ein wunderbares Buch. Die vierzig Jahre alte Autorin ist nicht nur so sympathisch, dass man ihr sofort im Stall helfen möchte. Es gelingt ihr auch, gleichermaßen plastisch und unprätentiös zu schreiben. Sezgin stilisiert sich nicht zur Aussteigerin, und sie will nicht missionieren. Ihre Schlüsse zieht sie allein aus der mühevollen Routine täglicher Landarbeit. Einmal muss sie für ein Lamm, das von seiner Mutter nicht angenommen wird, Schafsmilch besorgen, weil es sonst sterben würde. Sie fährt über Stock und Stein durch die dunkle Nacht, und als sie endlich den Schäfer findet, ist der Stress nicht vorbei. Der Schäfer muss die Euter seiner Tiere abtasten und von denen, die noch nicht leer gesaugt sind, tröpfchenweise Milch abzapfen. Erst in diesem Moment, schreibt Sezgin, sei ihr bewusst geworden: „Milch ist Körperflüssigkeit, gespendet von einer Kuh oder einem Schaf.“ Eine Erkenntnis, einfach und voller Demut vor der Natur.
Das Landleben beschreibt Sezgin mit der Empathie der Zugezogenen. In ihrem Dorf gibt es keine Arbeitslosigkeit und keine Neonazis, nur Leute, die unangemeldet zu Besuch kommen oder mit Arbeitskraft und Material aushelfen. Dass es nicht kitschig wird, liegt daran, dass Sezgin ihre kulturell geprägten Erwartungen an die Natur reflektiert. Woher weiß der Mensch, was Tiere brauchen? Welche Tiere darf man nützen, welche muss man retten? Ist es artgerecht oder anmaßend, das Leben von Tieren medizinisch zu verlängern? Sezgin trifft ihre Entscheidungen von Fall zu Fall. Sie päppelt zehn halbtote Hühner von einer Geflügelfarm auf, baut ihnen Ställe, passt sich ihrem Rhythmus an, der keine Urlaube duldet und keine Veränderungen. Aber sie beschließt, die Hühner bei Krankheiten „durch einen Nachbarn euthanasieren zu lassen“, weil ihr für den Tierarzt das Geld fehlt. Als sich aber ihr Gänserich Esmi verletzt, ein fieser Mobber ihrer Schafe, pflegt sie ihn wie einen kranken Säugling. Ethisches Handeln lässt sich nicht zum Gesetz machen.
Die großen Fragen beantworten sich dabei fast von selbst. Keine Tierprodukte zu essen, ist mühevoll, erleichtert aber das Gewissen. Ein Leben ohne kulturellen Input schränkt ein und erweitert den Horizont. Möglich ist diese Nähe zur Natur allerdings nur, weil Sezgin dank Technik und Internet ihrer journalistischen Tätigkeit von überall aus nachgehen kann. VERENA MAYER
HILAL SEZGIN: Landleben. Von einer, die rauszog. Dumont Buchverlag, Köln 2011. 270 Seiten, 19,90 Euro.
MARTIN REICHERT: Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011. 221 Seiten, 8,95 Euro.
Keine Tierprodukte zu essen,
ist mühevoll, erleichtert
aber das Gewissen
Die Ökoprodukte verlassen das Land und gehen in die Stadt – die Großstädter hingegen verspüren die neue Lust aufs Landleben und machen sich in die umgekehrte Richtung auf. Bevor man sich da richtig dreckig macht, sollte man sich aber erst einmal beschnuppern. Szene aus Sebastian Schippers Film „Mitte Ende August“ (2009, mit Marie Bäumer, Katze und Milan Peschel).
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Verena Mayer muss schon lachen, wenn Martin Reichert über Bollhagen-Keramik sinniert. Allerdings geht ihr Reicherts Pointengier im Lauf der Lektüre doch auch gehörig auf den Nerv. Geht es dem Autor am Ende gar nicht ums Landleben, so mutmaßt sie, sondern um den eigenen coolen Standpunkt? In einem Punkt jedenfalls kann Mayer dem Autor Nachhilfe geben: Die von Reichert angebotene These, dass den Menschen das Leben auf dem Lande ausgerechnet heute erstrebenswert erscheint (Stichwort: Mittelstandsprekariat), lässt sich leicht widerlegen. Mayer sagt nur: Thoreau.
© Perlentaucher Medien GmbH
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