Das populärste Buch des großen amerikanischen Erzählers: Ein Haus auf dem Land, acht Freunde, vier Romanzen und sechs Monate in Isolation
Es ist März 2020, und eine uns wohlvertraute Katastrophe zieht am Horizont auf. In einem idyllischen Landhaus außerhalb von New York versammelt der russischstämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky eine illustre Gruppe alter Freunde und loser Bekanntschaften, um die Pandemie bei gutem Essen und anregenden Gesprächen auszusitzen. Über die nächsten Monate wachsen neue Freund- und Liebschaften, während sich längst vergessen geglaubte Kränkungen mit frischer Kraft manifestieren. Doch mit der Ankunft eines mythenumwobenen Hollywoodstars gerät das mühsam konstruierte Gleichgewicht dieser Wahlfamilie gefährlich ins Wanken ...
Eine ungemein zeitgenössische Geschichte, erzählt mit der Haltung eines großen Romanciers: Shteyngart dokumentiert die singuläre Gefühls- und Erlebniswelt des Jahres 2020 und verpackt sie in einen süffig-intelligenten Roman, der Erinnerungen an Boccaccios »Dekameron« und die großen Klassiker der russischen Literatur durchscheinen lässt - versetzt ins Amerika der Gegenwart.
»Gary Shteyngarts Romane sind amerikanisches Kulturgut. Er hat schon immer mit Humor und Herz geschrieben, aber nie so sehr wie hier. Wenn Sie dieses Buch in der Öffentlichkeit lesen, seien Sie bloß vorsichtig: Es kann sein, dass sie laut loslachen müssen - oder dass Ihnen die Tränen kommen.« Jonathan Safran Foer
Es ist März 2020, und eine uns wohlvertraute Katastrophe zieht am Horizont auf. In einem idyllischen Landhaus außerhalb von New York versammelt der russischstämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky eine illustre Gruppe alter Freunde und loser Bekanntschaften, um die Pandemie bei gutem Essen und anregenden Gesprächen auszusitzen. Über die nächsten Monate wachsen neue Freund- und Liebschaften, während sich längst vergessen geglaubte Kränkungen mit frischer Kraft manifestieren. Doch mit der Ankunft eines mythenumwobenen Hollywoodstars gerät das mühsam konstruierte Gleichgewicht dieser Wahlfamilie gefährlich ins Wanken ...
Eine ungemein zeitgenössische Geschichte, erzählt mit der Haltung eines großen Romanciers: Shteyngart dokumentiert die singuläre Gefühls- und Erlebniswelt des Jahres 2020 und verpackt sie in einen süffig-intelligenten Roman, der Erinnerungen an Boccaccios »Dekameron« und die großen Klassiker der russischen Literatur durchscheinen lässt - versetzt ins Amerika der Gegenwart.
»Gary Shteyngarts Romane sind amerikanisches Kulturgut. Er hat schon immer mit Humor und Herz geschrieben, aber nie so sehr wie hier. Wenn Sie dieses Buch in der Öffentlichkeit lesen, seien Sie bloß vorsichtig: Es kann sein, dass sie laut loslachen müssen - oder dass Ihnen die Tränen kommen.« Jonathan Safran Foer
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Seltsam fühlt es sich für den Rezensenten Kai Sina an, über die ersten Wochen des Corona-Lockdowns zu lesen - Erinnerung und Fiktion überlagerten sich. In Gary Shteyngarts "Landpartie" begleitet Sina eine Freundesgruppe, die sich wegen der Pandemie in ein Landhaus außerhalb New Yorks begibt. Alle Protagonist*innen sind ganz unterschiedlich, so kommt es auch, meint der Rezensent, dass das Buch nicht geschlossen, sondern episodenhaft anmutet. Sie passen alle nicht wirklich zueinander, was für Sina einen großen Teils des Witzes ausmacht, doch auch der Überdruss des Eingeschlossenseins, die Gefahr der Pandemie komme nicht zu kurz, auch auf soziale Herausforderungen werde eingegangen. Kai Sina empfiehlt das Buch auch deshalb als tastende, niemals voreilig vereinheitlichende Gesellschaftsdiagnose.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2022Im Bauch des
Murmeltiers
Gary Shteyngart erzählt in „Landpartie“ mit
eindrucksvoll leichter Hand von den Dämonen,
die das nicht gelebte Leben schickt
VON LOTHAR MÜLLER
Was macht die leichte Muse mit schweren Stoffen? Sie macht sie leicht. Vinod Mehta, Immigrant aus Indien, hat erst einen Lungenflügel an den Krebs verloren und dann seinen Job als außerordentlicher Professor an einem College in New York. Inzwischen arbeitet er als Koch in einem Schnellrestaurant in Queens. Er hat aber Glück. Als im Frühjahr 2020 das Virus die Stadt im Griff hat und hinter seinem örtlichen Krankenhaus Kühllaster mit den Leichen der Verstorbenen geparkt sind, gerät er in eine Komödie, die ihn aufs Land entführt. Sein alter College-Freund Sasha Senderovsky und dessen Frau haben ihn auf ihr Anwesen eingeladen. Die Komödie – vielleicht ist es auch die erste Staffel einer TV-Sitcom – trägt eine Maske. Sie sieht aus wie ein Corona-Roman.
Der amerikanische Schriftsteller Gary Shteyngart, 1972 als Sohn einer jüdischen Familie in St. Petersburg geboren, das damals noch Leningrad hieß, war noch jung, als seine Eltern die Sowjetunion verließen. Die Welt der russischen Immigranten ist in seinen Büchern allgegenwärtig. Schon sein Debüt, das „Handbuch für den russischen Debütanten“ (2002) war ein großer Erfolg. Eine seiner Spezialdisziplinen, nicht nur in dem Memoir „Little Failure“ („Kleiner Versager“), ist die Selbstparodie. In diese Kategorie gehört auch Alexander „Sasha“ Senderovsky, Schriftsteller und Drehbuchautor, exakt so alt wie sein Erfinder, gutem Essen und gutem Wein nicht abgeneigt. Er ist der Gastgeber im neuen Roman „Landpartie“, der im Original „Our Country Friends“ heißt.
Die Freunde, denen er in seinem Anwesen auf einem Hügel irgendwo in der Nähe des Hudson Zuflucht vor dem Virus bietet, sind fast alle Immigranten wie er und seine Frau Masha. Aber sie stammen nicht aus Russland. Ed, mit vollem Namen Edward Sungjoon Kim, Spross einer reichen Dynastie von Geschäftsleuten, Kosmopolit, Dandy und exzellenter Koch, ist 1975 in Seoul geboren. Auch Karen Cho, Softwareentwicklerin im Silicon Valley und Erfinderin einer spektakulär erfolgreichen Dating-App, hat einen koreanischen Migrationshintergrund. „Ich schätze, ich bin die einzige richtige Weißbacke hier“, sagt Dee Cameron. Sie kommt aus den Südstaaten, aus Georgia, und ist als Studentin in einem der Schreibkurse von Sasha Senderovsky einzige Repräsentantin der jüngeren Generation. Inzwischen ist sie Autorin einer erfolgreichen Essaysammlung.
Ihr Name ist einer der plakativen Scherze, die Senderovsky so wenig scheut wie sein Autor. Aber mit Boccaccios „Decamerone“, dem Urbild aller Landpartien in Seuchenzeiten, hat Shteyngarts Roman wenig am Hut. Er versammelt seine Akteure nicht, um sie von der Liebe und anderen Missgeschicken erzählen zu lassen, er verstrickt sie in erotische Abenteuer und in ihre eigene Vergangenheit. Für die Abenteuer greift er auf den Theaterfundus zurück. Karens Dating-App „Tröö Emotions“ ist eine moderne Wiedergängerin der Zaubertränke und Feenberührungen, die in alten Mittsommernachtsträumen Liebesrasereien bewirkten. Kaum ist der Stargast in der eingetroffen, der Schauspieler, dem die gesamte Nation – darunter Senderovskys Frau Masha – zu Füßen liegt, verkuppelt ihn die App mit Dee Cameron. Auch der Stargast gehört nicht zu den „Weißbacken“: „Wie ich höre, sind Sie zur Hälfte Ire, aber auch zu einem Viertel Türke?“
Die Tochter der Senderovskys, die achtjährige Natasha, genannt Nat, komplettiert das Immigranten-Tableau. Sie ist eine der hochbegabten Nervensägen, die zu Komödien in urbanen Intellektuellenmilieus gehören, schwärmt für eine koreanische Boyband, ist aber ein Adoptivkind eher chinesischer Herkunft. In einer der beiläufigen Pointen, die Shteyngart mindestens so gut gelingen wie die plakativen, spielt sie mit sich selbst „eine Einzelkindversion von Verstecken“.
Dem Übersetzer Nikolaus Stingl ist es zu verdanken, dass Shteyngarts leichter Ton samt aufgefächertem Pointenregister im Deutschen erhalten bleibt. Und das Spiel mit der russischen Literatur, vor allem mit den Erzählungen und Schauspielen von Anton Tschechow. Bei Tschechow sind die Grundbesitzer notorisch von Verarmung bedroht oder haben sie bereits hinter sich. Senderovsky kämpft zunehmend verzweifelt gegen die Erosion seiner Geschäfte, der Schauspieler ist nur eingeladen, weil an ihm die Hoffnung hängt, aus den Drehbüchern des Schriftstellers könne doch noch eine Fernsehserie werden.
Zur Tschechow-Karaoke trägt eine vom Schauspieler inszenierte „Onkel Wanja“-Aufführung bei, aber die „Szenen aus dem Landleben“ bringen zwar Spiegeleffekte zwischen den Darstellern und ihren Rollen hervor, aber den Gutsbesitzer nicht voran. Seine Hoffnung stirbt in Sätzen, in denen Stingl deutsche Tschechow-Übersetzungen anklingen lässt: „Er konnte sich ausmalen, wie er die besten Zeilen aus seiner Vergangenheit abschrieb, seine Jugend wiederkäute, nun da die Zukunft nichts als das langsame, stumpfsinnige Ticken eines Metronoms auf dem Steinway war.“ In den Episoden, die er dem Schauspieler spendiert, nachdem die Illusion der App-gestützten Liebe verflogen ist, verheddert sich Shteyngart ein wenig. Vielleicht, weil er dieser Figur deutlich weniger Vergangenheit mitgegeben hat als den alten College-Freunden. Sie sind zwar alle wegen des Virus auf dem Lande, und am Ende sehen die Gastgeber hinter ihren Plastikvisieren aus „wie zwei Teilnehmer eines Schweißerkongresses“. Aber hinter der Maske des Corona-Romans frönt Shteyngart seiner alten Leidenschaft, der komischen, manchmal tragikomischen Darstellung der Vereinigten Staaten aus der Sicht der Immigranten. Diesmal sind allerdings nicht die Russen in der Mehrzahl.
Karen, Inbegriff einer koreanischen Leistungsaufsteigerin, muss sich des Vorwurfs erwehren, sie gehöre trotz ihrer Herkunft zu den „Karen-Women“, dem jüngst erfundenen Label für typische Mehrheitsamerikanerinnen. Aber wenn sie mit Nat, der ziemlich asiatisch aussehenden Nervensäge, in der viele traurige Melodien stecken, auf den Straßen um das Landhaus unterwegs ist, werden die beiden von einem SUV aufs Korn genommen und fast angefahren. Es kann in Corona-Zeiten gefährlich sein, asiatisch auszusehen.
Nie fällt der Name des Präsidenten, aber dass Trump noch im Weißen Haus sitzt, gehört zu den Hintergrundvoraussetzungen des Romans: Der Tod von George Floyd, die Treuebekundungen zum Präsidenten und zur Polizei in der Nachbarschaft, die Aufkleber auf den Hecks der Pick-ups, der Shitstorm, der Dee Cameron erfasst, als in einem ihrer Essays Spurenelemente von Rassismus entdeckt werden, die dunklen SUVs auf der Kiesauffahrt zum Landhaus, all das öffnet den Rückzugsort der „Country Friends“ und Virus-Flüchtlinge auf die Außenwelt hin. Debatten über die Gesundheitspolitik und Virus-Fachsimpeleien gibt es nicht.
Wie Tschechows „Onkel Wanja“ ist Shteyngarts Roman in vier Akte eingeteilt, an Dialogen mangelt es nicht, vielleicht schafft er es, anders als Senderovskys Drehbücher, zur TV-Serie zu werden. Was er vor allem in die Waagschale werfen kann: die leichthändige Mimikry eines Grundmotivs der Tschechow-Welt, der Dämonen, die aus dem nicht gelebten Leben hervorgehen. Wenn er die Südstaatlerin Dee Cameron nach ihrer Eskapade mit dem Schauspieler umstandslos dem kosmopolitischen Ed zuführt (er verfügt über ein grandioses Vitello-Tonnato-Rezept), gehört das noch zur burlesken erotischen Komödie. Wenn aber die Softwarespezialistin Karen zum indischen Ex-Professor Vinod findet, hat die Dating-App längst ausgespielt. Die gemeinsame Vergangenheit reklamiert ihr melodramatisches Recht.
Überhaupt laufen in Vinod, dem hinfälligen Schnellkoch mit Patientenverfügung im Gepäck, die Fäden des nicht gelebten Lebens zusammen. Hartnäckig nährt Shteyngart den Verdacht, dass Vinod ein bedeutender Schriftsteller hätte werden können, hätte sein Jugendmanuskript den Weg in einen Verlag gefunden. Warum es stattdessen erst in einer Schuhschachtel und dann im Bau des Murmeltiers Steve landet, gehört jedoch – wie die von Vinod Mehta selbst – zu den gar nicht so lustigen Geschichten dieses mit leichter Hand geschriebenen Romans.
Die beiläufigen Pointen
gelingen hier mindestens so
gut wie die plakativen
Seine Name fällt nie, aber
dass Trump noch Präsident ist,
schwingt immer mit
Gary Shteyngart: Landpartie. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Penguin, München 2022.
488 Seiten, 25 Euro
Als sich New York im Frühjahr 2020 fest im Griff des Virus befindet, gerät Gary Shteyngarts Hauptfigur in eine Komödie, die ihn aufs Land entführt: Medizinschiff auf dem Hudson River am 30. März 2020.
Foto: BRYAN R. SMITH/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Murmeltiers
Gary Shteyngart erzählt in „Landpartie“ mit
eindrucksvoll leichter Hand von den Dämonen,
die das nicht gelebte Leben schickt
VON LOTHAR MÜLLER
Was macht die leichte Muse mit schweren Stoffen? Sie macht sie leicht. Vinod Mehta, Immigrant aus Indien, hat erst einen Lungenflügel an den Krebs verloren und dann seinen Job als außerordentlicher Professor an einem College in New York. Inzwischen arbeitet er als Koch in einem Schnellrestaurant in Queens. Er hat aber Glück. Als im Frühjahr 2020 das Virus die Stadt im Griff hat und hinter seinem örtlichen Krankenhaus Kühllaster mit den Leichen der Verstorbenen geparkt sind, gerät er in eine Komödie, die ihn aufs Land entführt. Sein alter College-Freund Sasha Senderovsky und dessen Frau haben ihn auf ihr Anwesen eingeladen. Die Komödie – vielleicht ist es auch die erste Staffel einer TV-Sitcom – trägt eine Maske. Sie sieht aus wie ein Corona-Roman.
Der amerikanische Schriftsteller Gary Shteyngart, 1972 als Sohn einer jüdischen Familie in St. Petersburg geboren, das damals noch Leningrad hieß, war noch jung, als seine Eltern die Sowjetunion verließen. Die Welt der russischen Immigranten ist in seinen Büchern allgegenwärtig. Schon sein Debüt, das „Handbuch für den russischen Debütanten“ (2002) war ein großer Erfolg. Eine seiner Spezialdisziplinen, nicht nur in dem Memoir „Little Failure“ („Kleiner Versager“), ist die Selbstparodie. In diese Kategorie gehört auch Alexander „Sasha“ Senderovsky, Schriftsteller und Drehbuchautor, exakt so alt wie sein Erfinder, gutem Essen und gutem Wein nicht abgeneigt. Er ist der Gastgeber im neuen Roman „Landpartie“, der im Original „Our Country Friends“ heißt.
Die Freunde, denen er in seinem Anwesen auf einem Hügel irgendwo in der Nähe des Hudson Zuflucht vor dem Virus bietet, sind fast alle Immigranten wie er und seine Frau Masha. Aber sie stammen nicht aus Russland. Ed, mit vollem Namen Edward Sungjoon Kim, Spross einer reichen Dynastie von Geschäftsleuten, Kosmopolit, Dandy und exzellenter Koch, ist 1975 in Seoul geboren. Auch Karen Cho, Softwareentwicklerin im Silicon Valley und Erfinderin einer spektakulär erfolgreichen Dating-App, hat einen koreanischen Migrationshintergrund. „Ich schätze, ich bin die einzige richtige Weißbacke hier“, sagt Dee Cameron. Sie kommt aus den Südstaaten, aus Georgia, und ist als Studentin in einem der Schreibkurse von Sasha Senderovsky einzige Repräsentantin der jüngeren Generation. Inzwischen ist sie Autorin einer erfolgreichen Essaysammlung.
Ihr Name ist einer der plakativen Scherze, die Senderovsky so wenig scheut wie sein Autor. Aber mit Boccaccios „Decamerone“, dem Urbild aller Landpartien in Seuchenzeiten, hat Shteyngarts Roman wenig am Hut. Er versammelt seine Akteure nicht, um sie von der Liebe und anderen Missgeschicken erzählen zu lassen, er verstrickt sie in erotische Abenteuer und in ihre eigene Vergangenheit. Für die Abenteuer greift er auf den Theaterfundus zurück. Karens Dating-App „Tröö Emotions“ ist eine moderne Wiedergängerin der Zaubertränke und Feenberührungen, die in alten Mittsommernachtsträumen Liebesrasereien bewirkten. Kaum ist der Stargast in der eingetroffen, der Schauspieler, dem die gesamte Nation – darunter Senderovskys Frau Masha – zu Füßen liegt, verkuppelt ihn die App mit Dee Cameron. Auch der Stargast gehört nicht zu den „Weißbacken“: „Wie ich höre, sind Sie zur Hälfte Ire, aber auch zu einem Viertel Türke?“
Die Tochter der Senderovskys, die achtjährige Natasha, genannt Nat, komplettiert das Immigranten-Tableau. Sie ist eine der hochbegabten Nervensägen, die zu Komödien in urbanen Intellektuellenmilieus gehören, schwärmt für eine koreanische Boyband, ist aber ein Adoptivkind eher chinesischer Herkunft. In einer der beiläufigen Pointen, die Shteyngart mindestens so gut gelingen wie die plakativen, spielt sie mit sich selbst „eine Einzelkindversion von Verstecken“.
Dem Übersetzer Nikolaus Stingl ist es zu verdanken, dass Shteyngarts leichter Ton samt aufgefächertem Pointenregister im Deutschen erhalten bleibt. Und das Spiel mit der russischen Literatur, vor allem mit den Erzählungen und Schauspielen von Anton Tschechow. Bei Tschechow sind die Grundbesitzer notorisch von Verarmung bedroht oder haben sie bereits hinter sich. Senderovsky kämpft zunehmend verzweifelt gegen die Erosion seiner Geschäfte, der Schauspieler ist nur eingeladen, weil an ihm die Hoffnung hängt, aus den Drehbüchern des Schriftstellers könne doch noch eine Fernsehserie werden.
Zur Tschechow-Karaoke trägt eine vom Schauspieler inszenierte „Onkel Wanja“-Aufführung bei, aber die „Szenen aus dem Landleben“ bringen zwar Spiegeleffekte zwischen den Darstellern und ihren Rollen hervor, aber den Gutsbesitzer nicht voran. Seine Hoffnung stirbt in Sätzen, in denen Stingl deutsche Tschechow-Übersetzungen anklingen lässt: „Er konnte sich ausmalen, wie er die besten Zeilen aus seiner Vergangenheit abschrieb, seine Jugend wiederkäute, nun da die Zukunft nichts als das langsame, stumpfsinnige Ticken eines Metronoms auf dem Steinway war.“ In den Episoden, die er dem Schauspieler spendiert, nachdem die Illusion der App-gestützten Liebe verflogen ist, verheddert sich Shteyngart ein wenig. Vielleicht, weil er dieser Figur deutlich weniger Vergangenheit mitgegeben hat als den alten College-Freunden. Sie sind zwar alle wegen des Virus auf dem Lande, und am Ende sehen die Gastgeber hinter ihren Plastikvisieren aus „wie zwei Teilnehmer eines Schweißerkongresses“. Aber hinter der Maske des Corona-Romans frönt Shteyngart seiner alten Leidenschaft, der komischen, manchmal tragikomischen Darstellung der Vereinigten Staaten aus der Sicht der Immigranten. Diesmal sind allerdings nicht die Russen in der Mehrzahl.
Karen, Inbegriff einer koreanischen Leistungsaufsteigerin, muss sich des Vorwurfs erwehren, sie gehöre trotz ihrer Herkunft zu den „Karen-Women“, dem jüngst erfundenen Label für typische Mehrheitsamerikanerinnen. Aber wenn sie mit Nat, der ziemlich asiatisch aussehenden Nervensäge, in der viele traurige Melodien stecken, auf den Straßen um das Landhaus unterwegs ist, werden die beiden von einem SUV aufs Korn genommen und fast angefahren. Es kann in Corona-Zeiten gefährlich sein, asiatisch auszusehen.
Nie fällt der Name des Präsidenten, aber dass Trump noch im Weißen Haus sitzt, gehört zu den Hintergrundvoraussetzungen des Romans: Der Tod von George Floyd, die Treuebekundungen zum Präsidenten und zur Polizei in der Nachbarschaft, die Aufkleber auf den Hecks der Pick-ups, der Shitstorm, der Dee Cameron erfasst, als in einem ihrer Essays Spurenelemente von Rassismus entdeckt werden, die dunklen SUVs auf der Kiesauffahrt zum Landhaus, all das öffnet den Rückzugsort der „Country Friends“ und Virus-Flüchtlinge auf die Außenwelt hin. Debatten über die Gesundheitspolitik und Virus-Fachsimpeleien gibt es nicht.
Wie Tschechows „Onkel Wanja“ ist Shteyngarts Roman in vier Akte eingeteilt, an Dialogen mangelt es nicht, vielleicht schafft er es, anders als Senderovskys Drehbücher, zur TV-Serie zu werden. Was er vor allem in die Waagschale werfen kann: die leichthändige Mimikry eines Grundmotivs der Tschechow-Welt, der Dämonen, die aus dem nicht gelebten Leben hervorgehen. Wenn er die Südstaatlerin Dee Cameron nach ihrer Eskapade mit dem Schauspieler umstandslos dem kosmopolitischen Ed zuführt (er verfügt über ein grandioses Vitello-Tonnato-Rezept), gehört das noch zur burlesken erotischen Komödie. Wenn aber die Softwarespezialistin Karen zum indischen Ex-Professor Vinod findet, hat die Dating-App längst ausgespielt. Die gemeinsame Vergangenheit reklamiert ihr melodramatisches Recht.
Überhaupt laufen in Vinod, dem hinfälligen Schnellkoch mit Patientenverfügung im Gepäck, die Fäden des nicht gelebten Lebens zusammen. Hartnäckig nährt Shteyngart den Verdacht, dass Vinod ein bedeutender Schriftsteller hätte werden können, hätte sein Jugendmanuskript den Weg in einen Verlag gefunden. Warum es stattdessen erst in einer Schuhschachtel und dann im Bau des Murmeltiers Steve landet, gehört jedoch – wie die von Vinod Mehta selbst – zu den gar nicht so lustigen Geschichten dieses mit leichter Hand geschriebenen Romans.
Die beiläufigen Pointen
gelingen hier mindestens so
gut wie die plakativen
Seine Name fällt nie, aber
dass Trump noch Präsident ist,
schwingt immer mit
Gary Shteyngart: Landpartie. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Penguin, München 2022.
488 Seiten, 25 Euro
Als sich New York im Frühjahr 2020 fest im Griff des Virus befindet, gerät Gary Shteyngarts Hauptfigur in eine Komödie, die ihn aufs Land entführt: Medizinschiff auf dem Hudson River am 30. März 2020.
Foto: BRYAN R. SMITH/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2022Mit Tschechow lernen, das Leid zu lieben
Zeit der Angst, Zeit der Freude? Gary Shteyngarts amerikanischer
Gesellschaftsroman "Landpartie" fragt, was uns die Pandemie gewesen sein wird.
Die ersten Tage und Wochen des Lockdowns im März, April 2020 - sie muten aus der Rückschau fast unwirklich an. Die leeren Straßen der Stadt. Die rasch mit Absperrband versehenen Spielgeräte im Park. In den Fenstern die von Kinderhand gebastelten Regenbögen: Alles wird gut! (Oder gab es sie erst später?) Und alles getaucht in ein ungewohnt gleißendes Frühjahrslicht, das durch die noch blätterlosen Bäume fiel. Die Erinnerung an diese Zeit ist ein unzuverlässig erzählter Film, der nicht klar unterscheidet zwischen realer und vorgestellter Welt und dessen finaler Schnitt weiterhin aussteht.
Umso eigenartiger ist es, bereits heute Romane zu lesen, die nicht nur während des Lockdowns entstanden sind, sondern diesen selbst thematisieren - wie zum Beispiel Gary Shteyngarts "Landpartie". Eigenartig, weil sich die noch nicht verfestigte Erinnerung mit der literarischen Darstellung verbindet. Wenn ich lese, wie Shteyngarts Protagonist in Anwesenheit seiner hochsensiblen Tochter über den pandemischen Ausnahmezustand spricht ("eine Zeit der Angst"), während ihn seine Frau mit strengem Blick ermahnt, nicht zu drastisch vor dem Kind zu sprechen (weshalb er sogleich ergänzt: "aber auch eine Zeit der Freude") - wenn ich diese komische Passage lese, komme ich nicht umhin, daran zu denken, wie ich mich selbst in einer ähnlichen Situation befand. Und es ist gut möglich, dass in einiger Zeit, wenn ich von dieser Erfahrung berichten möchte, Shteyngarts Romanszene zu meiner eigenen Anekdote wird. Gerade so entsteht vermutlich "Geschichte": durch die Verbindung individueller Erfahrungen zu einer überindividuellen Erzählung.
"Landpartie" handelt von einer aus Freunden und Bekannten zusammengesetzten Gruppe, die sich mit Beginn der Pandemie in das außerhalb von New York gelegene Landhaus des russischstämmigen Schriftstellers Sasha Senderovsky und seiner Familie zurückzieht. Sie alle sind hochidiosynkratische Individuen, und fast alle entstammen einem "Immigranten-Mischmasch": Karen Cho arbeitet im Silicon Valley und hat eine erfolgreiche Dating-App namens "Tröö Emotions" entwickelt; Vinod Mehta war einmal außerordentlicher Professor an einem New Yorker College, bevor er an Krebs erkrankte, seinen Job verlor und als Koch in einem Fast-Food-Restaurant in Queens anheuern musste; und Dee Cameron ist die Autorin einer viel gelesenen Essaysammlung mit dem aufmunternden Titel "Wie man sich selbst Steine in die Welt legt und kapituliert". Hinzu kommen noch ein paar Figuren, darunter ein Schauspieler, den der Gastgeber für eines seiner Drehbücher gewinnen will und der nicht nur von der ganzen Film- und Fernsehnation angehimmelt wird, sondern auch von Masha, Senderovskys Ehefrau.
Der Roman entwickelt keine geschlossene Erzählung, sondern schildert ein Sozialexperiment in vielfältigsten Episoden. Sein Witz besteht darin, ausgerechnet solche Charaktere zusammenzuführen, die sich normalerweise als superindividuell und komplett autonom begreifen, aber von nun an irgendwie miteinander auskommen müssen. Zunächst geht das auch gut: Man führt stundenlange Gespräche und kocht aufwendige Pastagerichte, während im Hintergrund die Lieder von Caetano Veloso erklingen. Vor allem aber kommt es zu mehreren, teils erotischen Verwicklungen zwischen "unseren Freunden auf dem Lande" (so lautet der wohl bewusst etwas zu betuliche Originaltitel des Romans: "Our Country Friends"). Etwa beginnen Dee und der Schauspieler eine Liaison, nachdem sie unversehens durch Karens Dating-App miteinander verkuppelt worden sind. Dies wiederum hält den "größten Mimen" der Welt, von dem einmal in der fernen "Neuen Zürcher Zeitung" die Rede war, mitnichten davon ab, sich einer intimen Waschung durch Masha zu unterziehen. So geht es über die ersten zweihundert Seiten weiter - burlesk, verspielt, intensiv.
Aber natürlich bleibt es nicht dabei. So machen sich nicht nur zunehmend "Schuldgefühle" in der Kolonie breit, immerhin sterben "in der City" immer mehr Menschen am Virus. Außerdem stellt sich mit der Zeit eine gewisse Gereiztheit ein, weshalb das Setting des Romans auch eher an den "Zauberberg" erinnert als an das "Decamerone". Am Ende ist gar die Rede vom kompletten Scheitern des Zusammenlebens, ja von einem "Scherbenhaufen", zumal es mittlerweile doch einige Infizierte und Erkrankte unter den Bewohnern gibt: "Es hat Spaß gemacht, als wir alle zum Essen an einem Tisch zusammenkamen, aber jetzt, wo wir alle in Quarantäne sind?"
Nicht zuletzt tragen die dramatischen Entwicklungen in der Außenwelt, mit der man vornehmlich über digitale Kanäle in Verbindung steht, zu jener Gereiztheit bei. Während sich im Land die Leichen stapeln und von Kühllastern von Süden nach Westen transportiert werden, zeichnet sich nämlich mehr und mehr ab, dass der (nicht nur) am Pandemiemanagement scheiternde Präsident "seine Macht vielleicht niemals abtreten würde". Gefährlicher noch werden Karen und Sashas Adoptivtochter Nat, die beide koreanische Wurzeln haben, in die gesellschaftlichen Verwerfungen hineingezogen: Als den beiden auf einem Spaziergang ein Pick-up-Truck bedrohlich nahe kommt, führt man dies später auf die "doppelte Bedrohung" zurück, die man für den Fahrer offenbar dargestellt habe: "eine Asiatin und ein asiatisches Mädchen, die beide Maske trugen, und das zu einer Zeit, da Leute, die schwarz-blaue Fahnen zu Ehren der Polizei aufzogen, solche Menschen in aller Regel hassten". "Zu einer Zeit", das meint den hocherregten gesellschaftlichen Zustand infolge des Mordes an George Floyd. Shteyngarts Kammerspiel wird hier zum Gesellschaftsroman, allerdings ohne den überspannten Anspruch einer Great American Novel.
Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die literarischen Bezugsgrößen Shteyngarts - 1972 in St. Petersburg geboren, in frühen Jahren mit den Eltern in die USA emigriert und bekannt geworden mit einem "Handbuch für den russischen Debütanten" - nicht in erster Linie in der amerikanischen Literatur zu suchen sind. Stattdessen finden sich zahlreiche Referenzen auf Werke Anton Tschechows, besonders auf das Schauspiel "Onkel Wanja", das die Freunde auf die Wohnzimmerbühne bringen. Die Welt Tschechows dient Shteyngarts Charakteren als Projektionsfläche, wobei ihre tiefexistenzielle Gestimmtheit nicht ohne Komik ist: Die Tschechow'schen Stücke seien ganz frei von "schneidenden Persönlichkeiten", räsoniert eine der Figuren ernst vor sich hin, es gebe in ihnen nur "verschwindende Horizonte, nur verwilderte Wiesen, von denen man nach oben schauen und versuchen konnte, in Dunst gehüllte Landschaften zu erkennen". Doch, so lässt es sich genießen, das Leid.
Shteyngart schreibt Gegenwartsliteratur im besten, stärksten Sinne, indem er gar nicht erst so tut, als sei es bereits an der Zeit für gut abgehangene Deutungen und klare Urteile. "Landpartie" erzählt von Menschen, die versuchen, sich irgendwie einen Reim auf all die Merkwürdigkeiten zu machen, die in ihnen und um sie herum geschehen. Gerade das macht den Roman trotz seines ernsten Sujets so erfrischend und aufrichtig: Er gibt nicht Meinungen (schon das Wort will man ja eigentlich nicht mehr hören), sondern Erfahrungen den Vorrang, die wir Leser mit unserem eigenen Erlebten in Verbindung bringen können. Der Weg zu dem, was die Pandemie für uns einmal gewesen sein wird, zu einer mehr oder weniger einheitlichen Kollektiverzählung also, lässt sich in Shteyngarts Roman und zugleich in dessen Lektüre mitverfolgen. Es ist eine Literatur in Annäherung an das zweite Futur. KAI SINA
Gary Shteyngart: "Landpartie". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Penguin Verlag, München 2022. 480 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeit der Angst, Zeit der Freude? Gary Shteyngarts amerikanischer
Gesellschaftsroman "Landpartie" fragt, was uns die Pandemie gewesen sein wird.
Die ersten Tage und Wochen des Lockdowns im März, April 2020 - sie muten aus der Rückschau fast unwirklich an. Die leeren Straßen der Stadt. Die rasch mit Absperrband versehenen Spielgeräte im Park. In den Fenstern die von Kinderhand gebastelten Regenbögen: Alles wird gut! (Oder gab es sie erst später?) Und alles getaucht in ein ungewohnt gleißendes Frühjahrslicht, das durch die noch blätterlosen Bäume fiel. Die Erinnerung an diese Zeit ist ein unzuverlässig erzählter Film, der nicht klar unterscheidet zwischen realer und vorgestellter Welt und dessen finaler Schnitt weiterhin aussteht.
Umso eigenartiger ist es, bereits heute Romane zu lesen, die nicht nur während des Lockdowns entstanden sind, sondern diesen selbst thematisieren - wie zum Beispiel Gary Shteyngarts "Landpartie". Eigenartig, weil sich die noch nicht verfestigte Erinnerung mit der literarischen Darstellung verbindet. Wenn ich lese, wie Shteyngarts Protagonist in Anwesenheit seiner hochsensiblen Tochter über den pandemischen Ausnahmezustand spricht ("eine Zeit der Angst"), während ihn seine Frau mit strengem Blick ermahnt, nicht zu drastisch vor dem Kind zu sprechen (weshalb er sogleich ergänzt: "aber auch eine Zeit der Freude") - wenn ich diese komische Passage lese, komme ich nicht umhin, daran zu denken, wie ich mich selbst in einer ähnlichen Situation befand. Und es ist gut möglich, dass in einiger Zeit, wenn ich von dieser Erfahrung berichten möchte, Shteyngarts Romanszene zu meiner eigenen Anekdote wird. Gerade so entsteht vermutlich "Geschichte": durch die Verbindung individueller Erfahrungen zu einer überindividuellen Erzählung.
"Landpartie" handelt von einer aus Freunden und Bekannten zusammengesetzten Gruppe, die sich mit Beginn der Pandemie in das außerhalb von New York gelegene Landhaus des russischstämmigen Schriftstellers Sasha Senderovsky und seiner Familie zurückzieht. Sie alle sind hochidiosynkratische Individuen, und fast alle entstammen einem "Immigranten-Mischmasch": Karen Cho arbeitet im Silicon Valley und hat eine erfolgreiche Dating-App namens "Tröö Emotions" entwickelt; Vinod Mehta war einmal außerordentlicher Professor an einem New Yorker College, bevor er an Krebs erkrankte, seinen Job verlor und als Koch in einem Fast-Food-Restaurant in Queens anheuern musste; und Dee Cameron ist die Autorin einer viel gelesenen Essaysammlung mit dem aufmunternden Titel "Wie man sich selbst Steine in die Welt legt und kapituliert". Hinzu kommen noch ein paar Figuren, darunter ein Schauspieler, den der Gastgeber für eines seiner Drehbücher gewinnen will und der nicht nur von der ganzen Film- und Fernsehnation angehimmelt wird, sondern auch von Masha, Senderovskys Ehefrau.
Der Roman entwickelt keine geschlossene Erzählung, sondern schildert ein Sozialexperiment in vielfältigsten Episoden. Sein Witz besteht darin, ausgerechnet solche Charaktere zusammenzuführen, die sich normalerweise als superindividuell und komplett autonom begreifen, aber von nun an irgendwie miteinander auskommen müssen. Zunächst geht das auch gut: Man führt stundenlange Gespräche und kocht aufwendige Pastagerichte, während im Hintergrund die Lieder von Caetano Veloso erklingen. Vor allem aber kommt es zu mehreren, teils erotischen Verwicklungen zwischen "unseren Freunden auf dem Lande" (so lautet der wohl bewusst etwas zu betuliche Originaltitel des Romans: "Our Country Friends"). Etwa beginnen Dee und der Schauspieler eine Liaison, nachdem sie unversehens durch Karens Dating-App miteinander verkuppelt worden sind. Dies wiederum hält den "größten Mimen" der Welt, von dem einmal in der fernen "Neuen Zürcher Zeitung" die Rede war, mitnichten davon ab, sich einer intimen Waschung durch Masha zu unterziehen. So geht es über die ersten zweihundert Seiten weiter - burlesk, verspielt, intensiv.
Aber natürlich bleibt es nicht dabei. So machen sich nicht nur zunehmend "Schuldgefühle" in der Kolonie breit, immerhin sterben "in der City" immer mehr Menschen am Virus. Außerdem stellt sich mit der Zeit eine gewisse Gereiztheit ein, weshalb das Setting des Romans auch eher an den "Zauberberg" erinnert als an das "Decamerone". Am Ende ist gar die Rede vom kompletten Scheitern des Zusammenlebens, ja von einem "Scherbenhaufen", zumal es mittlerweile doch einige Infizierte und Erkrankte unter den Bewohnern gibt: "Es hat Spaß gemacht, als wir alle zum Essen an einem Tisch zusammenkamen, aber jetzt, wo wir alle in Quarantäne sind?"
Nicht zuletzt tragen die dramatischen Entwicklungen in der Außenwelt, mit der man vornehmlich über digitale Kanäle in Verbindung steht, zu jener Gereiztheit bei. Während sich im Land die Leichen stapeln und von Kühllastern von Süden nach Westen transportiert werden, zeichnet sich nämlich mehr und mehr ab, dass der (nicht nur) am Pandemiemanagement scheiternde Präsident "seine Macht vielleicht niemals abtreten würde". Gefährlicher noch werden Karen und Sashas Adoptivtochter Nat, die beide koreanische Wurzeln haben, in die gesellschaftlichen Verwerfungen hineingezogen: Als den beiden auf einem Spaziergang ein Pick-up-Truck bedrohlich nahe kommt, führt man dies später auf die "doppelte Bedrohung" zurück, die man für den Fahrer offenbar dargestellt habe: "eine Asiatin und ein asiatisches Mädchen, die beide Maske trugen, und das zu einer Zeit, da Leute, die schwarz-blaue Fahnen zu Ehren der Polizei aufzogen, solche Menschen in aller Regel hassten". "Zu einer Zeit", das meint den hocherregten gesellschaftlichen Zustand infolge des Mordes an George Floyd. Shteyngarts Kammerspiel wird hier zum Gesellschaftsroman, allerdings ohne den überspannten Anspruch einer Great American Novel.
Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die literarischen Bezugsgrößen Shteyngarts - 1972 in St. Petersburg geboren, in frühen Jahren mit den Eltern in die USA emigriert und bekannt geworden mit einem "Handbuch für den russischen Debütanten" - nicht in erster Linie in der amerikanischen Literatur zu suchen sind. Stattdessen finden sich zahlreiche Referenzen auf Werke Anton Tschechows, besonders auf das Schauspiel "Onkel Wanja", das die Freunde auf die Wohnzimmerbühne bringen. Die Welt Tschechows dient Shteyngarts Charakteren als Projektionsfläche, wobei ihre tiefexistenzielle Gestimmtheit nicht ohne Komik ist: Die Tschechow'schen Stücke seien ganz frei von "schneidenden Persönlichkeiten", räsoniert eine der Figuren ernst vor sich hin, es gebe in ihnen nur "verschwindende Horizonte, nur verwilderte Wiesen, von denen man nach oben schauen und versuchen konnte, in Dunst gehüllte Landschaften zu erkennen". Doch, so lässt es sich genießen, das Leid.
Shteyngart schreibt Gegenwartsliteratur im besten, stärksten Sinne, indem er gar nicht erst so tut, als sei es bereits an der Zeit für gut abgehangene Deutungen und klare Urteile. "Landpartie" erzählt von Menschen, die versuchen, sich irgendwie einen Reim auf all die Merkwürdigkeiten zu machen, die in ihnen und um sie herum geschehen. Gerade das macht den Roman trotz seines ernsten Sujets so erfrischend und aufrichtig: Er gibt nicht Meinungen (schon das Wort will man ja eigentlich nicht mehr hören), sondern Erfahrungen den Vorrang, die wir Leser mit unserem eigenen Erlebten in Verbindung bringen können. Der Weg zu dem, was die Pandemie für uns einmal gewesen sein wird, zu einer mehr oder weniger einheitlichen Kollektiverzählung also, lässt sich in Shteyngarts Roman und zugleich in dessen Lektüre mitverfolgen. Es ist eine Literatur in Annäherung an das zweite Futur. KAI SINA
Gary Shteyngart: "Landpartie". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Penguin Verlag, München 2022. 480 S., geb., 25,- Euro.
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»Die Idee ist schlicht und großartig zugleich. ... Ein leichter, pointenreicher, ziemlich burlesker Roman, den man so schnell unterschätzen kann.« DIE ZEIT, Adam Soboczynski