Mitten in der Nacht des Jahres 1942 wird in dem katholischen Mädcheninternat in Bordeaux ein verstörtes, kleines Mädchen abgeliefert: Lea Levy. Ihre Eltern, wohlhabende Pariser Juden, hatten angesichts ihrer bevorstehenden Deportation beschlossen, sich von ihrem Kind zu trennen und es zu verstecken. Für Lea sind die entbehrungsreichen Jahre im Nonnenkloster erfüllt von der Hoffnung und Sehnsucht, ihre Eltern eines Tages wiederzufinden - und von ihrer innigen Freundschaft zu der etwas älteren Benedicte, die ein ähnliches Schicksal getroffen hat. Als der Krieg endlich aus ist, geschieht ein Wunder: Benedictes Eltern, beides engagierte Widerstandskämpfer, kehrten tatsächlich zurück, um ihre Tochter zu holen - und nehmen schließlich auch Lea bei sich auf. Aber Lea läßt der Schmerz keine Ruhe: Sie muß die Wahrheit über das Verschwinden ihrer Eltern herausfinden und macht dabei grausige Entdeckungen, die auch ihr eigenes Leben für immer verändern werden...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1999Im Schatten der Eltern
Elisabeth Gilles Roman "Landschaft aus Asche"
Bordeaux, 1942. Mitten in der Nacht wird ein Kind in einem katholischen Mädchenpensionat abgegeben. Nonnen nehmen sich der Fünfjährigen an, die wütend um sich tritt. Die Eltern hatten sich kurz vor der Verhaftung von ihrem Kind trennen müssen. Eine Razzia hatte stattgefunden, weil die von den Deutschen festgelegte "Judenquote" noch nicht erreicht war. Die Eltern werden deportiert, das Mädchen entkommt diesem Schicksal.
Die französische Schriftstellerin Elisabeth Gille hat die Geschichte ihrer Kindheit in einem autobiographischen Roman verarbeitet. Sie wählte für ihre Erinnerungen die Form der Fiktion. Sie legt nicht Zeugnis ab, wie andere Überlebende des Holocaust. Elisabeth Gille nimmt den dokumentarischen Charakter ihres Buches durch die Wahl der Gattung zurück. Sie fügt den Zeugnissen eine fiktive Annäherung an das Leiden einer Verschonten hinzu.
Léa Lévy ist ein zügelloses Kind, das sich im Pensionat respektlos und hochmütig gebärdet. Die Nonnen bekreuzigen sich beim Anblick des Mädchens mit dem dunklen, wirren Haar. Ein wenig Ruhe gewinnt sie nur in der Freundschaft mit der etwas älteren Bénédicte. Gemeinsam bleiben die Mädchen im Pensionat zurück, wenn die Mitschülerinnen ihre Familien besuchen. Sie sitzen im Refektorium, wo es nach ranzigem Fett riecht, und reden. Vor Bénédictes verzichtet Léa auf ihre Prahlereien mit dem Reichtum und der Eleganz der Eltern. Die Erinnerung an die Eltern verblaßt zunehmend.
Elisabeth Gilles Erzählung wahrt Distanz zur eigenen Kindheit. Sie versucht erst gar nicht, die Perspektive des Kindes einzunehmen. Léa wird, wie alle anderen Figuren, von außen konturiert. Die Erzählerin möchte, so scheint es, dem Kind nicht zu nahe kommen. Vielleicht trägt sie damit einer Bedingung autobiographischen Schreibens Rechnung, der Differenz zwischen kindlichem und erwachsenem Bewußtsein. Vielleicht erlaubt ihr erst die Selbstdistanzierung die Darstellung des Schocks, den die Achtjährige erlitt, als sie das Schicksal der Eltern erahnte.
Eine der Nonnen fuhr mit Léa nach Paris, um dort etwas über die Deportierten zu erfahren. Sie geriet mit dem Kind in ein Hotel, das als Sammelstelle für die wenigen Zurückgekehrten diente. Das Mädchen sah in die ausdruckslosen Gesichter der Befreiten, sah die Menschen auf den Tragbahren. Ein Junge versuchte ihr zu erkären, was es mit dem Verschwinden ihrer Eltern auf sich habe. Darauf fiel Léa in Apathie, sagte sie nichts mehr.
Die Darstellung des Schrecklichen erscheint bei Elisabeth Gille manchmal formelhaft, als müßten die Erinnerungen mit vorgefertigten Worten überdeckt werden. Es mag sein, daß erst der Rückgriff auf bekannte Bilder ihr die Annäherung an das Schicksal der Eltern und den Umgang damit erlaubt. Es mag sein, daß erst die Formelhaftigkeit die Distanz erzeugt, aus der heraus eine Darstellung überhaupt gelingen kann.
Das verstörte Mädchen Léa wurde nach dem Krieg von den Eltern ihrer Freundin Bénédicte aufgenommen. Ihre ganze Energie steckte die Heranwachsende darein, Informationen zu sammeln. Schon frühmorgens saß sie am Radioapparat und folgte der Berichterstattung über Kriegsverbrecherprozesse. Endlos hörte sie sich Suchmeldungen an: "Paul Weil sucht seine Frau Emma und die gemeinsamen Kinder: Hélène, elf Jahre, Max, zehn Jahre, Françoise, sieben Jahre, Albert, zwei Jahre, im November '42 aus Drancy deportiert." Danach zerkratzte sie sich das Gesicht. Dem übermächtigen Gedächtnis der Toten stand der Lebenswille entgegen, den die Freundin Bénédicte verkörperte - ein Zwiespalt, mit dem Léa nur langsam zu leben lernte.
Elisabeth Gille hat mit ihrem letzten Buch die Geschichte ihrer Familie fortgeschrieben. Die Beschreibung der eigenen Kindheit ergänzt das erste Buch der Autorin, die fiktive Rekonstruktion der Biographie ihrer Mutter Irène Némirovsky. In den "Erträumten Erinnerungen", mit denen die Übersetzerin und Lektorin Elisabeth Gille am Anfang der neunziger Jahre bekannt wurde, erzählt sie in der ersten Person das Leben ihrer Mutter. Schon der Titel verweist auf den für die Autorin typischen Grenzgang zwischen Fiktion und Wirklichkeit. In die Erzählung vom Leben des jüdischen Großbürgertums im vorrevolutionären Rußland, von der Emigration der mütterlichen Familie nach Frankreich und der Unterhöhlung des Lebens der erfolgreichen Autorin Némirovsky durch den Antisemitismus sind Bruchstücke aus der Biographie der Tochter eingestreut. Sie deuten voraus auf das Buch, das jetzt auf deutsch erschienen ist, zwei Jahre nach dem Tod Elisabeth Gilles. SANDRA KERSCHBAUMER
Elisabeth Gille: "Landschaft aus Asche". Roman. Piper Verlag, München, Zürich 1998. 203 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elisabeth Gilles Roman "Landschaft aus Asche"
Bordeaux, 1942. Mitten in der Nacht wird ein Kind in einem katholischen Mädchenpensionat abgegeben. Nonnen nehmen sich der Fünfjährigen an, die wütend um sich tritt. Die Eltern hatten sich kurz vor der Verhaftung von ihrem Kind trennen müssen. Eine Razzia hatte stattgefunden, weil die von den Deutschen festgelegte "Judenquote" noch nicht erreicht war. Die Eltern werden deportiert, das Mädchen entkommt diesem Schicksal.
Die französische Schriftstellerin Elisabeth Gille hat die Geschichte ihrer Kindheit in einem autobiographischen Roman verarbeitet. Sie wählte für ihre Erinnerungen die Form der Fiktion. Sie legt nicht Zeugnis ab, wie andere Überlebende des Holocaust. Elisabeth Gille nimmt den dokumentarischen Charakter ihres Buches durch die Wahl der Gattung zurück. Sie fügt den Zeugnissen eine fiktive Annäherung an das Leiden einer Verschonten hinzu.
Léa Lévy ist ein zügelloses Kind, das sich im Pensionat respektlos und hochmütig gebärdet. Die Nonnen bekreuzigen sich beim Anblick des Mädchens mit dem dunklen, wirren Haar. Ein wenig Ruhe gewinnt sie nur in der Freundschaft mit der etwas älteren Bénédicte. Gemeinsam bleiben die Mädchen im Pensionat zurück, wenn die Mitschülerinnen ihre Familien besuchen. Sie sitzen im Refektorium, wo es nach ranzigem Fett riecht, und reden. Vor Bénédictes verzichtet Léa auf ihre Prahlereien mit dem Reichtum und der Eleganz der Eltern. Die Erinnerung an die Eltern verblaßt zunehmend.
Elisabeth Gilles Erzählung wahrt Distanz zur eigenen Kindheit. Sie versucht erst gar nicht, die Perspektive des Kindes einzunehmen. Léa wird, wie alle anderen Figuren, von außen konturiert. Die Erzählerin möchte, so scheint es, dem Kind nicht zu nahe kommen. Vielleicht trägt sie damit einer Bedingung autobiographischen Schreibens Rechnung, der Differenz zwischen kindlichem und erwachsenem Bewußtsein. Vielleicht erlaubt ihr erst die Selbstdistanzierung die Darstellung des Schocks, den die Achtjährige erlitt, als sie das Schicksal der Eltern erahnte.
Eine der Nonnen fuhr mit Léa nach Paris, um dort etwas über die Deportierten zu erfahren. Sie geriet mit dem Kind in ein Hotel, das als Sammelstelle für die wenigen Zurückgekehrten diente. Das Mädchen sah in die ausdruckslosen Gesichter der Befreiten, sah die Menschen auf den Tragbahren. Ein Junge versuchte ihr zu erkären, was es mit dem Verschwinden ihrer Eltern auf sich habe. Darauf fiel Léa in Apathie, sagte sie nichts mehr.
Die Darstellung des Schrecklichen erscheint bei Elisabeth Gille manchmal formelhaft, als müßten die Erinnerungen mit vorgefertigten Worten überdeckt werden. Es mag sein, daß erst der Rückgriff auf bekannte Bilder ihr die Annäherung an das Schicksal der Eltern und den Umgang damit erlaubt. Es mag sein, daß erst die Formelhaftigkeit die Distanz erzeugt, aus der heraus eine Darstellung überhaupt gelingen kann.
Das verstörte Mädchen Léa wurde nach dem Krieg von den Eltern ihrer Freundin Bénédicte aufgenommen. Ihre ganze Energie steckte die Heranwachsende darein, Informationen zu sammeln. Schon frühmorgens saß sie am Radioapparat und folgte der Berichterstattung über Kriegsverbrecherprozesse. Endlos hörte sie sich Suchmeldungen an: "Paul Weil sucht seine Frau Emma und die gemeinsamen Kinder: Hélène, elf Jahre, Max, zehn Jahre, Françoise, sieben Jahre, Albert, zwei Jahre, im November '42 aus Drancy deportiert." Danach zerkratzte sie sich das Gesicht. Dem übermächtigen Gedächtnis der Toten stand der Lebenswille entgegen, den die Freundin Bénédicte verkörperte - ein Zwiespalt, mit dem Léa nur langsam zu leben lernte.
Elisabeth Gille hat mit ihrem letzten Buch die Geschichte ihrer Familie fortgeschrieben. Die Beschreibung der eigenen Kindheit ergänzt das erste Buch der Autorin, die fiktive Rekonstruktion der Biographie ihrer Mutter Irène Némirovsky. In den "Erträumten Erinnerungen", mit denen die Übersetzerin und Lektorin Elisabeth Gille am Anfang der neunziger Jahre bekannt wurde, erzählt sie in der ersten Person das Leben ihrer Mutter. Schon der Titel verweist auf den für die Autorin typischen Grenzgang zwischen Fiktion und Wirklichkeit. In die Erzählung vom Leben des jüdischen Großbürgertums im vorrevolutionären Rußland, von der Emigration der mütterlichen Familie nach Frankreich und der Unterhöhlung des Lebens der erfolgreichen Autorin Némirovsky durch den Antisemitismus sind Bruchstücke aus der Biographie der Tochter eingestreut. Sie deuten voraus auf das Buch, das jetzt auf deutsch erschienen ist, zwei Jahre nach dem Tod Elisabeth Gilles. SANDRA KERSCHBAUMER
Elisabeth Gille: "Landschaft aus Asche". Roman. Piper Verlag, München, Zürich 1998. 203 S., geb., 34,- DM.
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