Eine verrückte, doch höchst reale Welt tut sich in diesem Buch auf, in dem der Protagonist durch das Sentier-Viertel von Paris streift - dort wohnt er in der Rue Poissoniere und ebenso seine Frau, die aber in einem eigenen Appartement haust, er verkehrt mit ihr durch Zettel, die er unter der Tür durchschiebt. "Was ihn anzieht - und seinem beklagenswert gröblichen Geschmack entgegenkommt -, ist das aufgepfropfte, postkoloniale, barbarisierte Paris von Belleville oder Barbes, ein Paris, das nichts Kosmopolitisches oder Kultiviertes hat, das Paris der Analphabeten und Metöken." Doch er treibt sich auch in seinen Phantasien, Obsessionen und Gedankenspielen herum, in denen es nicht schön, sittsam, friedlich und freundlich zugeht, sondern hässlich, unsauber, aggressiv und obszön. "In die Realitäten einzutauchen ist ein ebenso riskantes Unterfangen wie das Betreten eines Minenfeldes." Der Protagonist ist griesgrämig, neigt zur Pädophilie, schwärmt für Lewis Carroll, den Erfinder von "Alice im Wunderland", und stellt Collagen aus Zeitungsausschnitten und pornographischer Leserpost genauso zusammen, wie er sich Stalin zurechtträumt oder Albanien als surreales Paradies entwirft oder sich vorstellt, wie sich der Klimawandel konkret auswirkt auf die Küstenstreifen oder tiefliegende Länder. Und er liebt die Poesie der mystischen Sufi -Derwische...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.11.2007Planetarische Ungewissheit
Juan Goytisolo: „Landschaften nach der Schlacht”
Walter Benjamin schrieb über den Flaneur, er gehe müßig „als eine Persönlichkeit. So protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Leute zu Spezialisten macht.” „Unser Mann”, wie Goytisolos Held heißt, führt, seit ihm vom Arzt aufgrund eines Nierenleidens verordnet wurde, die Farbnuancen seines Urins zu überprüfen, das Leben eines Flaneurs, er mäandert durch Paris, allerdings weder durch das ruhige Paris der Benjaminschen Passagen noch das intellektuelle der Rive gauche, sondern durch die kleinwinklig-dreckigen Viertel Barbès und Belleville, „wo auf den Boulevards Afrika beginnt”, das Paris der irrlichternden Randexistenzen, Spinner, Immigranten, Pakistaner, Portugiesen, Bangladescher, die sich in den Wunden der Stadt, den aufgerissenen Bürgersteigen und Kanalschächten, abrackern. Während in den Straßencafés calavadostrinkende, verängstigte Kleinbürger den Reinheitstraum gegen alles Fremdrassige träumen, feiert das Buch alles Bastardisierte, das postkolonial durchmischte Paris in den Straßenbeschreibungen genauso wie die Bricolage in der Erzählstruktur, besteht es doch aus 75 mal längeren, mal kürzeren Skizzen, die insgesamt die Kakophonie einer Großstadt einfangen.
„Landschaften nach der Schlacht”, eine Art Karneval der Postmoderne, erschien 1982, und Goytisolo, der ehemals stramme Stalinist, der homosexuelle Anti-Europäer aus bürgerlichem Hause, der aus Francos Spanien fliehen musste, wirft darin alle Überzeugungen und Moralvorstellungen auf den schrill schillernden Müllhaufen der Geschichte. Das literarische Ideal seines Flaneurs ist der Sufi-Derwisch, weil er keine Jünger sucht, kein Lob duldet. Ähnlich sagte Goytisolo, Schreiben müsse immer auch die moralische Disqualifikation seiner selbst beinhalten, nur so sei das „bürgerliche Subjekt” zu überwinden.
Er macht sich lustig über die Biederkeit des „magischen Realismus”, lässt seinen Helden in den umliegenden Parks Hunde masturbieren oder kleine Mädchen anlocken, schreibt instruktive Texte für unauffälliges Terrorverhalten, durchforstet die Zeitungen nach Meldungen, Anzeigen, Leserbriefen für eigene Textcollagen, die in der „minutiösen Darlegung der gedanklichen Klischees der Epoche” Zeugnis ablegen von „der Weltkarte der Dummheit” und ist bei all diesem satirischen Unsinn ein beeindruckend genauer Seismograph seiner Zeit.
Goytisolo, der rund 30 Jahre selbst in der Straße lebte, in der auch „Unser Mann” respektive das „Monster” oder „die verdächtige Person” haust, sagt in diesem Buch aus dem Jahr 1980 anhand einer beißenden Albaniensatire den baldigen Zusammenbruch des Warschauer Paktes voraus. Er bringt genaue Studien des Pariser Intellektuellentreibens auf der Rive gauche. Und er weiß, dass die Wirklichkeit am Ende alle „herbstmüden Inventionen” zermalmt, aber macht trotzdem immer weiter, denn er weiß, dass nur „die jähe Intensivierung Ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten ein wenig Trost in Ihr Leben bringt in dieser Periode planetarischer Ungewissheit, kurz vor der Zielgeraden.” ALEX RÜHLE
Juan Goytisolo Foto: Diana Walker/Getty Images
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Juan Goytisolo: „Landschaften nach der Schlacht”
Walter Benjamin schrieb über den Flaneur, er gehe müßig „als eine Persönlichkeit. So protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Leute zu Spezialisten macht.” „Unser Mann”, wie Goytisolos Held heißt, führt, seit ihm vom Arzt aufgrund eines Nierenleidens verordnet wurde, die Farbnuancen seines Urins zu überprüfen, das Leben eines Flaneurs, er mäandert durch Paris, allerdings weder durch das ruhige Paris der Benjaminschen Passagen noch das intellektuelle der Rive gauche, sondern durch die kleinwinklig-dreckigen Viertel Barbès und Belleville, „wo auf den Boulevards Afrika beginnt”, das Paris der irrlichternden Randexistenzen, Spinner, Immigranten, Pakistaner, Portugiesen, Bangladescher, die sich in den Wunden der Stadt, den aufgerissenen Bürgersteigen und Kanalschächten, abrackern. Während in den Straßencafés calavadostrinkende, verängstigte Kleinbürger den Reinheitstraum gegen alles Fremdrassige träumen, feiert das Buch alles Bastardisierte, das postkolonial durchmischte Paris in den Straßenbeschreibungen genauso wie die Bricolage in der Erzählstruktur, besteht es doch aus 75 mal längeren, mal kürzeren Skizzen, die insgesamt die Kakophonie einer Großstadt einfangen.
„Landschaften nach der Schlacht”, eine Art Karneval der Postmoderne, erschien 1982, und Goytisolo, der ehemals stramme Stalinist, der homosexuelle Anti-Europäer aus bürgerlichem Hause, der aus Francos Spanien fliehen musste, wirft darin alle Überzeugungen und Moralvorstellungen auf den schrill schillernden Müllhaufen der Geschichte. Das literarische Ideal seines Flaneurs ist der Sufi-Derwisch, weil er keine Jünger sucht, kein Lob duldet. Ähnlich sagte Goytisolo, Schreiben müsse immer auch die moralische Disqualifikation seiner selbst beinhalten, nur so sei das „bürgerliche Subjekt” zu überwinden.
Er macht sich lustig über die Biederkeit des „magischen Realismus”, lässt seinen Helden in den umliegenden Parks Hunde masturbieren oder kleine Mädchen anlocken, schreibt instruktive Texte für unauffälliges Terrorverhalten, durchforstet die Zeitungen nach Meldungen, Anzeigen, Leserbriefen für eigene Textcollagen, die in der „minutiösen Darlegung der gedanklichen Klischees der Epoche” Zeugnis ablegen von „der Weltkarte der Dummheit” und ist bei all diesem satirischen Unsinn ein beeindruckend genauer Seismograph seiner Zeit.
Goytisolo, der rund 30 Jahre selbst in der Straße lebte, in der auch „Unser Mann” respektive das „Monster” oder „die verdächtige Person” haust, sagt in diesem Buch aus dem Jahr 1980 anhand einer beißenden Albaniensatire den baldigen Zusammenbruch des Warschauer Paktes voraus. Er bringt genaue Studien des Pariser Intellektuellentreibens auf der Rive gauche. Und er weiß, dass die Wirklichkeit am Ende alle „herbstmüden Inventionen” zermalmt, aber macht trotzdem immer weiter, denn er weiß, dass nur „die jähe Intensivierung Ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten ein wenig Trost in Ihr Leben bringt in dieser Periode planetarischer Ungewissheit, kurz vor der Zielgeraden.” ALEX RÜHLE
Juan Goytisolo Foto: Diana Walker/Getty Images
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