Produktdetails
  • btb Bd.72066
  • Verlag: btb
  • 1997.
  • Deutsch
  • Abmessung: 188mm x 118mm x 15mm
  • Gewicht: 232g
  • ISBN-13: 9783442720668
  • ISBN-10: 3442720664
  • Artikelnr.: 06491297
Autorenporträt
Burkhard Spinnen, geboren 1956 in Mönchengladbach, Studium der Germanistik, Publizistik und Soziologie in Münster, 1989 Promotion. Wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 1996 freier Autor in Münster. Preise und Auszeichnungen: u. a. 1991 aspekte-Literaturpreis, 1996 Kranichsteiner Literaturpreis, 1999 Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und 2004 den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld für sein bisheriges Gesamtwerk.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Kalter Wind im Setzkasten
Burkhard Spinnen am Regal Von Michael Allmaier

Die kleinen Dinge, so will es die Redensart, machen das Leben zu dem, was es ist. Kein profunder Gedanke - es sei denn, man nimmt ihn ernst. Burkhard Spinnen hat das getan. "Langer Samstag", sein erster Roman nach zwei Bänden mit Erzählungen, ist dem Objekt und seinen Tücken gewidmet. In sechzehn Kapiteln, die ihrerseits in mehrere Abschnitte unterteilt sind, baut Spinnen einen Setzkasten der Alltagsgegenstände und Alltagserlebnisse vor dem Leser auf. Das Leben wird verstanden als die Summe seiner Einzelteile - Physik statt Psychologie. Was der Autor "das Fallen kleiner Teile" nennt, beschreibt die tragikomischen Verstrickungen der Alltagswelt. Es geht nicht so sehr um Bananenschalen, mehr um Erinnerungen, die ihren Träger gefunden haben in einer Nippesfigur, Spielarten der Lüge, die mit dem Anrufbeantworter entstanden.

Im Mittelpunkt steht der Verwaltungsjurist Ulrich Lofart (etwas böllig kommen die Namen daher: Schwering, Froitzheim, Gernun, Hansberger), dem die Dinge entgleiten, obwohl er stets ihr Anwalt bleibt. "Nein, sagte er einmal, mit einem Satz wie, das sei ja alles nur Kitsch, lasse sich die Sache nicht in den Griff bringen. Und er hob eine Glaskugel hoch; in der klaren Flüssigkeit stand eine Wallfahrtskirche mit kleinen Häusern drumherum, und wenn man die Kugel schüttelte, wirbelten kleine weiße Flocken auf. ,Bitte hier!', sagte er. Auch so was falle schließlich nicht vom Himmel."

Nach dem Debüt mit "Dicker Mann im Meer", für das er 1991 den "Aspekte"-Preis des ZDF erhielt, und dem gleichfalls gelobten Band "Kalte Ente" von 1994 lastete einige Erwartung auf Burkhard Spinnen. Doch er blieb unbeirrt bei seinem Thema: der aus dem Takt geratenen Normalität. Der "Lange Samstag" beginnt mit einem kurzen. Der Junggeselle Lofart trifft beim Einkauf eine Frau und beschließt, per Annonce an einem Anschlagbrett um sie zu werben. Doch mögen auch die einschlägigen Ratgeber Supermärkte für die Kontaktanbahnung empfehlen; hier erweist sich der Sonderposten nicht als Glücksgriff. Zwei Wochen später, am nunmehr langen Samstag, ist die Liebesgeschichte zu Ende.

In Lofarts Empirie bleibt kein Platz für den Dezisionismus der ein wenig obskuren Unternehmensberaterin Dorothee. In der Welt des "Langen Samstag" heißt das, aus einem Regal voller Instantsuppen mit unerschütterlicher Gewißheit die einzig wohlschmeckende herauszusuchen, während Lofart halb scherzhaft, halb neurotisch, ermittelt, warum der Bienenstich Bienenstich heißt und welche äußeren Merkmale Rückschluß auf seinen Geschmack geben könnten. Vor unüberschaubaren Entscheidungsfällen fühlt er sich "wie ein kleiner Junge, der auf dem Spielplatz unter lauter ältere geraten ist, und die wollen jetzt von ihm seine Mütze und seinen Anorak".

Ein kleiner Junge ist der Siebenunddreißigjährige in vielem geblieben. Weinerlich und träumerisch veranlagt, fürchtet er sich vor den Dingen, die im dunkeln liegen, und bald auch vor dem großen Mädchen Dorothee. Er beginnt zu lügen und serviert sie nach einem sexuellen Übergriff ihrerseits regelrecht ab. Daß er zugleich auf rührende und durchdachte Weise einer suizidgefährdeten Kollegin hilft, enthüllt das doppelte Gesicht seines kindlichen Systemwahns. Der treibt ihn sogar dazu, im Zuge eines Rationalisierungsplans seine eigene Entlassung zu betreiben.

Es gibt das Wort von den Sachzwängen. Die Sachen zwingen ihre Schöpfer; und am Ende des Romans bleibt offen, wie viele der so erlittenen Blessuren wieder heilen werden. Auch wenn es manches zu lachen gibt im "Langen Samstag", zum Humoristen sollte man Spinnen nicht länger stempeln. Es weht ein kalter Wind durch den Setzkasten.

Zwei Dinge sind es, die das Buch auszeichnen. Zunächst Spinnens souveräne Handhabung der Sprache. Nie schreibt der Münsteraner Germanist als poeta doctus, statt dessen geradlinig, präzise und lebendig. Gerade Dialoge, oft genug Schwachpunkt deutscher Prosa, die vielversuchten und -verpfuschten Jargonzitate, gehen ihm scheinbar mühelos von der Hand. Sein Mut zum Etikett führt den Leser durch den Mikrokosmos von Ringpulls und Spritzlingen. Aber "Langer Samstag" ist mehr als ein amüsierter Ausflug durch die Regale.

Der Verfasser hat den Blick eines Menschen, der gerne Waschmaschinen beim Waschen zusieht: Neugier und eine fast obsessive Liebe zum Detail. Wenn in dem Roman ein Müllsack umkippt, fällt nicht einfach Müll heraus, sondern ein "Filter mit halbfeuchtem Kaffeesatz, Eierschalen mit den Resten des Eiklars, zusammen in einer Konservendose mit scharfkantig abgespreiztem Deckel, halbvoll kaum eingetrockneter Bohnen in roter Soße".

Die Idee, daß ein feindseliger Geist in den Gegenständen wohnt, zumal denen von Menschenhand, ist keineswegs neu und behaftet mit einem restaurativen Hautgout - so zu lesen etwa in Friedrich Theodor Vischers Roman "Auch Einer", auf den der Begriff von der Tücke des Objekts zurückgeht. Burkhard Spinnen setzt einen neuen Maßstab. Er hat über die kleinen Dinge ein großes Buch geschrieben.

Burkhard Spinnen: "Langer Samstag". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 1995. 303 Seiten, geb., 39,80 DM.

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