Eugenie Schwarzwald (1872 1940) gehört zu den faszinierendsten Frauen ihrer Generation. Sie setzte sich mit großem Tatendrang für Reformpädagogik, Sozialarbeit sowie Gemeinschaftsküchen und Ferienkolonien ein. Gleichzeitig trat Fraudoktor als Journalistin hervor und führte den in vielerlei Hinsicht progressivsten Wiener Salon ihrer Zeit, in dem Schriftsteller wie Thomas Mann, Sinclair Lewis und Egon Friedell verkehrten. Schwarzwald gründete in Österreich das erste ernstzunehmende Mädchengymnasium. Sie wollte eine Schule der Freude leiten, Langeweile ist Gift war ihr Motto. Schwarzwald pflegte Kontakte zu Künstlern und Vordenkern der Moderne und engagierte für ihre Schule u.a. Adolf Loos, Arnold Schönberg sowie Oskar Kokoschka. Hilflos musste sie jedoch im Alter mit ansehen, wie Finanzkrise und politischer Extremismus ihr Lebenswerk zunichte machten. 1938 floh sie in die Schweiz, wo sie 1940 starb.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der österreichische Rezensent und Literaturwissenschaftler Walter Schübler begrüßt Deborah Holmes' auf zahlreichen Quellen basierendes Porträt der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald. Eingehend rekapituliert er das Leben der unkonventionellen und umtriebigen Pädagogin, schildert die Arbeit in ihren Bildungseinrichtungen und berichtet von ihrem Wiener Salon, der von zahlreichen Künstlern und Intellektuellen besucht wurde. Schübler schätzt die Sorgfalt der Recherchen, und die Distanz, die Holmes zu ihrer Protagonistin hält. Zudem hebt er hervor, dass die Autorin Spekulationen über ihre Protagonistin immer als solche kenntlich macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2012Frau Doktor verwarf das Korsett
Auf die Emanzipation hat sie nicht gewartet, um Ideen tatkräftig umzusetzen: Deborah Holmes beschreibt das Leben der Eugenie "Genia" Schwarzwald.
Von Walter Schübler
Nur in Österreich ist es möglich, dass ein Mensch von solcher Begabung und Tatkraft nicht schon längst Bundespräsidentin, Rektorin der Universität, Erzbischöfin und Herausgeberin der ,Fackel' ist." So ätzten Egon Friedell und Alfred Polgar Ende Januar 1924 gegen "Frau Dr. Schwarzwald, die Unermüdliche, Gute, Hilfreiche". Und verulkten, indem sie den Beitrag "Die Nöte der Menschenbeglückerin" zu ihrer "Böse-Buben-Stunde", einer Travestie des Wiener Boulevardblatts "Die Stunde", mit dem Vermerk "(Entgeltlich)" versahen, also als Annonce auswiesen, die Umtriebigkeit der stadtbekannten "Fraudoktor".
"Die" Schwarzwald, als Eugenie Nußbaum am 4. Juli 1872 in einem galizischen Dorf im äußersten Osten des Habsburgerreichs geboren, hatte sich in einer Zeit, da dies für eine bürgerliche Frau noch höchst unüblich war, einen Namen, gemacht. Mehr noch: Dieser Name war zu einem Markenzeichen geworden. Ihre reformpädagogischen Bildungseinrichtungen - darunter das erste Realgymnasium für Mädchen und die erste koedukative Volksschule in der österreichischen Hälfte der Habsburgermonarchie - firmierten unter der Bezeichnung "Schwarzwald'sche Schulanstalten", ihre Sozialinitiativen waren organisatorisch im "Schwarzwald'schen Wohlfahrtswerk" zusammengefasst, die Gemeinschaftsküchen, die sie ab 1917 gründete, überall als "Schwarzwaldküchen" bekannt.
Korsettlos, ein nichttailliertes Reformkleid, kurzgeschnittenes Haar: Sie war eine unkonventionelle Erscheinung. Der Salon, den sie in den von Adolf Loos adaptierten und eingerichteten Räumlichkeiten an der Wiener Adresse Josefstädter Straße 68 führte, war Treffpunkt eines bunten Haufens von Intellektuellen und Künstlern aus aller Herren Länder, durchwegs mit Boheme-Einschlag. Nicht Drill und Disziplinierung wie in der staatlichen Regelschule standen auf der Tagesordnung ihrer Anstalten, sondern "schöpferische Bildung", die individuelle Förderung kindlicher Kreativität und Vitalität sowie kritischen Denkens.
Dafür engagierte sie entsprechendes Lehrpersonal: unter anderen Egon Wellesz, Adolf Loos, Hans Kelsen und im Herbst 1911 auch Oskar Kokoschka, dem zwei Jahre davor, nach einer Aufführung seines Dramas "Mörder, Hoffnung der Frauen" seine Stelle als Hilfslehrer an der Wiener Kunstgewerbeschule gekündigt worden war und der Anfang des Jahres mit einigen seiner neuesten Arbeiten die zünftigen Kunstkritiker skandalisiert hatte.
Prompt schickte der Landesschulrat seinen Fachinspektor für Kunst, und der rapportierte seinen Vorgesetzten wenig Empfehlenswertes: Der junge Maler unterrichte "nach der Methode der ,Uebermodernen'", und was die Mädchen der zweiten Lyzealklasse zu Papier brächten, sei nichts als "ein Chaos von kindischen Patzereien, zumeist nur halbfertige Schmieragen, ganz im Stile der Kunst, welche er selbst sinn- und gedankenlos zur Zeit in der Kunstschau ausgestellt hatte". Statt, wie behördlicherseits erwartet, Kokoschka einen Verweis zu erteilen, reichte Schwarzwald beim Landesschulrat einen Antrag ein, den Maler vom amtlichen Nachweis der "Lehrbefähigung" für Mittelschulen zu dispensieren.
Scherereien mit Behörden und bürokratische Schikanen waren seit der Übernahme des Mädchen-Lyzeums ihr täglich Brot. Dessen formale Leitung wurde der Eigentümerin vom "k. k. Landesschulrath" im Herbst 1901 nur "provisorisch auf 1 Jahr zugestanden" und der "Petentin" noch dreimal gewährt, ehe sie das Direktorat 1905 abgeben musste. "Genia" Schwarzwald stand eben schroff gegen den Zeitgeist. Ihr am 24. August 1914 mitten in die Kriegseuphorie hineinlancierter Aufruf zur Gründung von Gemeinschaftsküchen hebt an mit: "Ein ungeheures Unglück ist über uns hereingebrochen."
Die Betriebsamkeit, die sie in den folgenden Jahren entfaltete, war geradezu manisch. In der Josefstädter Straße 68 ging es einem Gast zufolge "noch während der Mahlzeiten zu wie in einem Stabsquartier". Neben der Leitung ihrer Schulen initiierte Schwarzwald "Kriegspatenschaften", "Kriegshorte für junge Mädchen", eine "Heimstätte für kleine Kinder von Kriegsgefallenen", Erholungsheime für Erwachsene, ein Lehrmädchenheim sowie die Aktionen "Wiener Kinder aufs Land!" und "Jugend hilft Alter" - "Kaviar fürs Volk", "Verwundetenjause", "Rekonvaleszenten-Würsteltag" hat Karl Kraus in den "Letzten Tagen der Menschheit" geechot, wo er in der Figur der Hofrätin Schwarz-Gelber die karitative Gschaftlhuberei der besseren Wiener Kreise, die allein gesellschaftlichen Ambitionen geschuldet war, gallig karikierte.
Auch als Wien mit dem Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie in Schockstarre verfallen war, krempelte Schwarzwald die Ärmel hoch. "Ich nehme mein gewohntes Opiat: Arbeit in weit grösseren Dosen als sonst", schrieb sie am 19. Juni 1919 an eine Freundin. Sie konzipierte mit der "Pension Seeblick" am steirischen Grundlsee ein "Ferienheim für Geistesarbeiter", dessen Gästelisten sich in den 1920er Jahren lesen wie das "Who's who" europäischer Kulturschaffender, und expandierte im Rahmen der Aktion "Österreichische Freundeshilfe" mit ihren Gemeinschaftsküchen nach Berlin.
Auch wenn das "Rote Wien" 1927 Schwarzwalds Ferieninitiativen und Gemeinschaftsküchen, die mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, unter seine Fittiche nahm, litt "Fraudoktor" keinen Mangel an ihrem Opiat. Ab Frühjahr 1933 nahm sie sich aus NS-Deutschland Geflüchteter an, im Jahr darauf auch vermehrt vom austrofaschistischen Regime drangsalierter und in Not geratener Sozialdemokraten.
Am Ende musste sie zusehen, wie ihre Welt in Stücke fiel. Den "Anschluss" Österreichs erlebte sie auf Vortragsreise in Dänemark. Im Juli 1938 fand sie in der Schweiz Zuflucht, wo "die leidenschaftliche Helferin", die "nichts mehr fürchtete, als zur Bittstellerin zu werden" (Holmes), an Brustkrebs erkrankt und, mit einer monatlichen "Pension" von hundert Dollar versehen, die ihr ihre Freundin Dorothy Thompson anweisen ließ, im August 1940 starb.
Deborah Holmes' akribisch recherchiertes Porträt schmeckt, gut Lessingsch, nach den Quellen. Die Biographin hält kritische Distanz zu ihrer Protagonistin. Wo sie, wie häufig, spekuliert, tut sie das lautererweise, ohne dass ihr der Konjunktiv unter der Hand in den Indikativ überginge. Wo die Quellenlage keine eindeutige Aussage zulässt, lässt sie Zweideutigkeiten bestehen und damit in der Schwebe, wohin sie die Waage sich neigen sieht in diesem "Nebeneinander von Wohltun und Sichwohltun", das Robert Musil bei Eugenia Schwarzwald konstatierte.
Deborah Holmes: "Langeweile ist Gift". Das Leben der Eugenie Schwarzwald.
Residenz Verlag, Sankt Pölten 2012. 360 S., Abb., geb., 28,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf die Emanzipation hat sie nicht gewartet, um Ideen tatkräftig umzusetzen: Deborah Holmes beschreibt das Leben der Eugenie "Genia" Schwarzwald.
Von Walter Schübler
Nur in Österreich ist es möglich, dass ein Mensch von solcher Begabung und Tatkraft nicht schon längst Bundespräsidentin, Rektorin der Universität, Erzbischöfin und Herausgeberin der ,Fackel' ist." So ätzten Egon Friedell und Alfred Polgar Ende Januar 1924 gegen "Frau Dr. Schwarzwald, die Unermüdliche, Gute, Hilfreiche". Und verulkten, indem sie den Beitrag "Die Nöte der Menschenbeglückerin" zu ihrer "Böse-Buben-Stunde", einer Travestie des Wiener Boulevardblatts "Die Stunde", mit dem Vermerk "(Entgeltlich)" versahen, also als Annonce auswiesen, die Umtriebigkeit der stadtbekannten "Fraudoktor".
"Die" Schwarzwald, als Eugenie Nußbaum am 4. Juli 1872 in einem galizischen Dorf im äußersten Osten des Habsburgerreichs geboren, hatte sich in einer Zeit, da dies für eine bürgerliche Frau noch höchst unüblich war, einen Namen, gemacht. Mehr noch: Dieser Name war zu einem Markenzeichen geworden. Ihre reformpädagogischen Bildungseinrichtungen - darunter das erste Realgymnasium für Mädchen und die erste koedukative Volksschule in der österreichischen Hälfte der Habsburgermonarchie - firmierten unter der Bezeichnung "Schwarzwald'sche Schulanstalten", ihre Sozialinitiativen waren organisatorisch im "Schwarzwald'schen Wohlfahrtswerk" zusammengefasst, die Gemeinschaftsküchen, die sie ab 1917 gründete, überall als "Schwarzwaldküchen" bekannt.
Korsettlos, ein nichttailliertes Reformkleid, kurzgeschnittenes Haar: Sie war eine unkonventionelle Erscheinung. Der Salon, den sie in den von Adolf Loos adaptierten und eingerichteten Räumlichkeiten an der Wiener Adresse Josefstädter Straße 68 führte, war Treffpunkt eines bunten Haufens von Intellektuellen und Künstlern aus aller Herren Länder, durchwegs mit Boheme-Einschlag. Nicht Drill und Disziplinierung wie in der staatlichen Regelschule standen auf der Tagesordnung ihrer Anstalten, sondern "schöpferische Bildung", die individuelle Förderung kindlicher Kreativität und Vitalität sowie kritischen Denkens.
Dafür engagierte sie entsprechendes Lehrpersonal: unter anderen Egon Wellesz, Adolf Loos, Hans Kelsen und im Herbst 1911 auch Oskar Kokoschka, dem zwei Jahre davor, nach einer Aufführung seines Dramas "Mörder, Hoffnung der Frauen" seine Stelle als Hilfslehrer an der Wiener Kunstgewerbeschule gekündigt worden war und der Anfang des Jahres mit einigen seiner neuesten Arbeiten die zünftigen Kunstkritiker skandalisiert hatte.
Prompt schickte der Landesschulrat seinen Fachinspektor für Kunst, und der rapportierte seinen Vorgesetzten wenig Empfehlenswertes: Der junge Maler unterrichte "nach der Methode der ,Uebermodernen'", und was die Mädchen der zweiten Lyzealklasse zu Papier brächten, sei nichts als "ein Chaos von kindischen Patzereien, zumeist nur halbfertige Schmieragen, ganz im Stile der Kunst, welche er selbst sinn- und gedankenlos zur Zeit in der Kunstschau ausgestellt hatte". Statt, wie behördlicherseits erwartet, Kokoschka einen Verweis zu erteilen, reichte Schwarzwald beim Landesschulrat einen Antrag ein, den Maler vom amtlichen Nachweis der "Lehrbefähigung" für Mittelschulen zu dispensieren.
Scherereien mit Behörden und bürokratische Schikanen waren seit der Übernahme des Mädchen-Lyzeums ihr täglich Brot. Dessen formale Leitung wurde der Eigentümerin vom "k. k. Landesschulrath" im Herbst 1901 nur "provisorisch auf 1 Jahr zugestanden" und der "Petentin" noch dreimal gewährt, ehe sie das Direktorat 1905 abgeben musste. "Genia" Schwarzwald stand eben schroff gegen den Zeitgeist. Ihr am 24. August 1914 mitten in die Kriegseuphorie hineinlancierter Aufruf zur Gründung von Gemeinschaftsküchen hebt an mit: "Ein ungeheures Unglück ist über uns hereingebrochen."
Die Betriebsamkeit, die sie in den folgenden Jahren entfaltete, war geradezu manisch. In der Josefstädter Straße 68 ging es einem Gast zufolge "noch während der Mahlzeiten zu wie in einem Stabsquartier". Neben der Leitung ihrer Schulen initiierte Schwarzwald "Kriegspatenschaften", "Kriegshorte für junge Mädchen", eine "Heimstätte für kleine Kinder von Kriegsgefallenen", Erholungsheime für Erwachsene, ein Lehrmädchenheim sowie die Aktionen "Wiener Kinder aufs Land!" und "Jugend hilft Alter" - "Kaviar fürs Volk", "Verwundetenjause", "Rekonvaleszenten-Würsteltag" hat Karl Kraus in den "Letzten Tagen der Menschheit" geechot, wo er in der Figur der Hofrätin Schwarz-Gelber die karitative Gschaftlhuberei der besseren Wiener Kreise, die allein gesellschaftlichen Ambitionen geschuldet war, gallig karikierte.
Auch als Wien mit dem Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie in Schockstarre verfallen war, krempelte Schwarzwald die Ärmel hoch. "Ich nehme mein gewohntes Opiat: Arbeit in weit grösseren Dosen als sonst", schrieb sie am 19. Juni 1919 an eine Freundin. Sie konzipierte mit der "Pension Seeblick" am steirischen Grundlsee ein "Ferienheim für Geistesarbeiter", dessen Gästelisten sich in den 1920er Jahren lesen wie das "Who's who" europäischer Kulturschaffender, und expandierte im Rahmen der Aktion "Österreichische Freundeshilfe" mit ihren Gemeinschaftsküchen nach Berlin.
Auch wenn das "Rote Wien" 1927 Schwarzwalds Ferieninitiativen und Gemeinschaftsküchen, die mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, unter seine Fittiche nahm, litt "Fraudoktor" keinen Mangel an ihrem Opiat. Ab Frühjahr 1933 nahm sie sich aus NS-Deutschland Geflüchteter an, im Jahr darauf auch vermehrt vom austrofaschistischen Regime drangsalierter und in Not geratener Sozialdemokraten.
Am Ende musste sie zusehen, wie ihre Welt in Stücke fiel. Den "Anschluss" Österreichs erlebte sie auf Vortragsreise in Dänemark. Im Juli 1938 fand sie in der Schweiz Zuflucht, wo "die leidenschaftliche Helferin", die "nichts mehr fürchtete, als zur Bittstellerin zu werden" (Holmes), an Brustkrebs erkrankt und, mit einer monatlichen "Pension" von hundert Dollar versehen, die ihr ihre Freundin Dorothy Thompson anweisen ließ, im August 1940 starb.
Deborah Holmes' akribisch recherchiertes Porträt schmeckt, gut Lessingsch, nach den Quellen. Die Biographin hält kritische Distanz zu ihrer Protagonistin. Wo sie, wie häufig, spekuliert, tut sie das lautererweise, ohne dass ihr der Konjunktiv unter der Hand in den Indikativ überginge. Wo die Quellenlage keine eindeutige Aussage zulässt, lässt sie Zweideutigkeiten bestehen und damit in der Schwebe, wohin sie die Waage sich neigen sieht in diesem "Nebeneinander von Wohltun und Sichwohltun", das Robert Musil bei Eugenia Schwarzwald konstatierte.
Deborah Holmes: "Langeweile ist Gift". Das Leben der Eugenie Schwarzwald.
Residenz Verlag, Sankt Pölten 2012. 360 S., Abb., geb., 28,90 [Euro].
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