Ihre Geschichte beginnt zwischen den schrägen Wänden am Göttinger Goldgraben, wo bei klarem Wetter ein Quadrat des Sternenhimmels durch das Dachfenster funkelt. Pierre und Nora, zwei, die zusammengehören, gemeinsam reden und schweigen, sich streiten und vertragen. Aber gerade als ihre Ehe endgültig zu zerbrechen droht, rast Pierre mit seinem Auto in die Katastrophe und nichts ist mehr so wie zuvor. Von einem Tag auf den anderen sieht sich Nora in die Rolle der heillos überforderten Pflegerin gedrängt. Und vor die Frage gestellt, ob sie für sich selbst noch ein Recht auf Liebe und Glück reklamieren darf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2009Spät rächt sich die Mutter, doch sie rächt sich
Irina Korschunow gehört zu den Autoren, die man von Kindesbeinen an ein Leben hindurch lesen kann. Auch in ihrem jüngsten Roman macht sie den Alltag zum Schauplatz: eine schwierige Ehe.
Von Sabine Brandt
Im Grunde ist es eine ganz einfache Geschichte, die Irina Korschunow hier erzählt: Eine Ehe funktioniert nicht so gut, wie das Paar am Anfang geglaubt hatte. Zu den seelischen Plagen gesellt sich ein böser Verkehrsunfall, der den Mann zum hilflosen Kranken macht und die Frau zur überforderten Pflegerin. Wie hält man das aus? Was wird aus zwei Leben, die in Zuversicht begannen und nun in Trümmern liegen?
Ein Schicksalsbild also, wie man es tausendfach gewahren könnte, wenn man sich die Mühe machte, danach zu forschen. Dass diese Lektüre einen dennoch in den Bann zieht, liegt an der Kunst der Autorin, den Alltag so abzubilden, dass darin Wahrheiten menschlichen Daseins eingefangen werden. Irina Korschunow lässt ihre Geschichte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts spielen und erteilt ihrer Hauptfigur namens Nora das erzählende Wort. Nora wurde von einer verwitweten Mutter erzogen, die genau zu wissen meinte, was aus dem Kind mal werden müsse, damit ihm die Kümmernisse des mütterlichen Lebens erspart würden. Eine Studienrätin wollte sie aus Nora machen, weil die dann für immer, auch im Alter, versorgt und von Männern, deren Treue oder deren Tod unabhängig sei. Die Tochter jedoch nabelt sich ab von der Fürsorgerin, verschreibt sich der Kunstgeschichte, arbeitet für Funk und Fernsehen - und heiratet Pierre, einen Universitätsprofessor für Physik. Es sieht ganz so aus, als habe sie die warnende Mutter übertrumpft, scheint sie doch alles zu besitzen, was diese ihr nicht zutraute, Erfolg im Beruf und in der Wahl des Lebenspartners.
Doch irgendwann stellen sich Probleme ein. Pierre wünscht sich ein Kind, aber die karrierebewusste Nora will erst nicht und kann später nicht schwanger werden. Zu diesem Kummer kommt die Entdeckung, dass ihr Ehemann längst eine Tochter hat, Annika, Ergebnis eines Seitensprungs während einer Dienstreise. Nichts Wichtiges nach Meinung des Sünders Pierre, aber für Nora ein böser Angriff auf ihr Glück. Die Frage, ob die Eheleute die Krise bewältigen können oder ob sie sich trennen müssen, wird nie beantwortet, denn bevor sie sich entscheiden, erleidet Pierre einen Unfall. Danach ist er nur noch ein jämmerlicher Körper, sein Geist wurde Opfer der schweren Verletzungen.
Unmöglich, sich von einem derart gebeutelten Mann scheiden zu lassen. Und überhaupt - hat Nora nicht auch Fehler begangen, Pierres Erwartungen enttäuscht, vieles unterlassen, was ihn glücklich gemacht hätte? Und trägt sie nicht Mitschuld an seinem Elend, weil sie ihn, bevor er sein Auto bestieg, mit einer Eifersuchtsszene aus der Fassung brachte? Trauer und Gewissensbisse nehmen sie gefangen; die Entscheidungsfreiheit, an der ihr so viel lag, hat sie verloren. Gegen ärztlichen Rat besteht sie darauf, den halbtoten Leib heimzuholen, offensichtlich will sie büßen. Man ist als Leser geradezu erleichtert, als sich eine erprobte Pflegerin findet, die dem Kranken das unbedingt Nötige bieten kann.
Langsam, doch stetig erobert sich der Alltag seine Rechte zurück. Genaugenommen ist Nora längst im Alltäglichen angelangt, als ihr Bericht einsetzt, der mit der Beerdigung Pierres beginnt. Doch nicht nur Kummer und Schuldgefühle haben sie gewandelt. Nora muss sich eingestehen, dass sie den Tod ihres Mannes nicht bloß betrauert - doch, das tut sie, sehr intensiv. Aber er erleichtert sie auch, weil er ein schier unerträgliches Kapitel ihres Lebens abschließt. Müsste sie sich nicht schämen? Was ist aus ihr geworden? Was wird künftig noch aus ihr?
Dafür gibt der Roman Hinweise: Nora lässt sich auf ein Verhältnis mit dem Medizinprofessor ein, der den Patienten Pierre behandelte. Ein neues Glück scheint sich anzubahnen - wären da nicht die Erfahrungen, die Nora gemacht hat und durch die sie geprägt ist. Wer garantiert, dass die neue Bindung bessere Chancen hat als die erste? Dass nicht auch sie, wie alles, was Menschen unternehmen, am Ende in Vergeblichkeit mündet? Nora verlässt uns, mit dieser Last auf den Schultern, dennoch mit dem Willen, es noch einmal zu probieren. Wir bleiben zurück als Erben ihrer Angst, aber auch ihres Mutes. Und als Leser einer Geschichte, die uns zwar nicht neu war, die aber selten so nachhaltig von uns Besitz ergriffen hat.
Irina Korschunow: "Langsamer Abschied". Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009. 157 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Irina Korschunow gehört zu den Autoren, die man von Kindesbeinen an ein Leben hindurch lesen kann. Auch in ihrem jüngsten Roman macht sie den Alltag zum Schauplatz: eine schwierige Ehe.
Von Sabine Brandt
Im Grunde ist es eine ganz einfache Geschichte, die Irina Korschunow hier erzählt: Eine Ehe funktioniert nicht so gut, wie das Paar am Anfang geglaubt hatte. Zu den seelischen Plagen gesellt sich ein böser Verkehrsunfall, der den Mann zum hilflosen Kranken macht und die Frau zur überforderten Pflegerin. Wie hält man das aus? Was wird aus zwei Leben, die in Zuversicht begannen und nun in Trümmern liegen?
Ein Schicksalsbild also, wie man es tausendfach gewahren könnte, wenn man sich die Mühe machte, danach zu forschen. Dass diese Lektüre einen dennoch in den Bann zieht, liegt an der Kunst der Autorin, den Alltag so abzubilden, dass darin Wahrheiten menschlichen Daseins eingefangen werden. Irina Korschunow lässt ihre Geschichte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts spielen und erteilt ihrer Hauptfigur namens Nora das erzählende Wort. Nora wurde von einer verwitweten Mutter erzogen, die genau zu wissen meinte, was aus dem Kind mal werden müsse, damit ihm die Kümmernisse des mütterlichen Lebens erspart würden. Eine Studienrätin wollte sie aus Nora machen, weil die dann für immer, auch im Alter, versorgt und von Männern, deren Treue oder deren Tod unabhängig sei. Die Tochter jedoch nabelt sich ab von der Fürsorgerin, verschreibt sich der Kunstgeschichte, arbeitet für Funk und Fernsehen - und heiratet Pierre, einen Universitätsprofessor für Physik. Es sieht ganz so aus, als habe sie die warnende Mutter übertrumpft, scheint sie doch alles zu besitzen, was diese ihr nicht zutraute, Erfolg im Beruf und in der Wahl des Lebenspartners.
Doch irgendwann stellen sich Probleme ein. Pierre wünscht sich ein Kind, aber die karrierebewusste Nora will erst nicht und kann später nicht schwanger werden. Zu diesem Kummer kommt die Entdeckung, dass ihr Ehemann längst eine Tochter hat, Annika, Ergebnis eines Seitensprungs während einer Dienstreise. Nichts Wichtiges nach Meinung des Sünders Pierre, aber für Nora ein böser Angriff auf ihr Glück. Die Frage, ob die Eheleute die Krise bewältigen können oder ob sie sich trennen müssen, wird nie beantwortet, denn bevor sie sich entscheiden, erleidet Pierre einen Unfall. Danach ist er nur noch ein jämmerlicher Körper, sein Geist wurde Opfer der schweren Verletzungen.
Unmöglich, sich von einem derart gebeutelten Mann scheiden zu lassen. Und überhaupt - hat Nora nicht auch Fehler begangen, Pierres Erwartungen enttäuscht, vieles unterlassen, was ihn glücklich gemacht hätte? Und trägt sie nicht Mitschuld an seinem Elend, weil sie ihn, bevor er sein Auto bestieg, mit einer Eifersuchtsszene aus der Fassung brachte? Trauer und Gewissensbisse nehmen sie gefangen; die Entscheidungsfreiheit, an der ihr so viel lag, hat sie verloren. Gegen ärztlichen Rat besteht sie darauf, den halbtoten Leib heimzuholen, offensichtlich will sie büßen. Man ist als Leser geradezu erleichtert, als sich eine erprobte Pflegerin findet, die dem Kranken das unbedingt Nötige bieten kann.
Langsam, doch stetig erobert sich der Alltag seine Rechte zurück. Genaugenommen ist Nora längst im Alltäglichen angelangt, als ihr Bericht einsetzt, der mit der Beerdigung Pierres beginnt. Doch nicht nur Kummer und Schuldgefühle haben sie gewandelt. Nora muss sich eingestehen, dass sie den Tod ihres Mannes nicht bloß betrauert - doch, das tut sie, sehr intensiv. Aber er erleichtert sie auch, weil er ein schier unerträgliches Kapitel ihres Lebens abschließt. Müsste sie sich nicht schämen? Was ist aus ihr geworden? Was wird künftig noch aus ihr?
Dafür gibt der Roman Hinweise: Nora lässt sich auf ein Verhältnis mit dem Medizinprofessor ein, der den Patienten Pierre behandelte. Ein neues Glück scheint sich anzubahnen - wären da nicht die Erfahrungen, die Nora gemacht hat und durch die sie geprägt ist. Wer garantiert, dass die neue Bindung bessere Chancen hat als die erste? Dass nicht auch sie, wie alles, was Menschen unternehmen, am Ende in Vergeblichkeit mündet? Nora verlässt uns, mit dieser Last auf den Schultern, dennoch mit dem Willen, es noch einmal zu probieren. Wir bleiben zurück als Erben ihrer Angst, aber auch ihres Mutes. Und als Leser einer Geschichte, die uns zwar nicht neu war, die aber selten so nachhaltig von uns Besitz ergriffen hat.
Irina Korschunow: "Langsamer Abschied". Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009. 157 S., geb., 16,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ganz angetan wirkt Rezensentin Andrea Lüthi von Irina Korschunows Roman "Der lange Abschied", der vom Stoff her durchaus das Zeug zum Melodram hätte, wie die Rezensentin feststellt. Es geht um ein Ehepaar, dessen Beziehung gerade an einem unehelichen Kind zu zerbrechen droht, als der Mann durch einen Unfall ins Koma fällt. Der Autorin geht es dabei vor allem um das Ausloten von Gefühlen und die Frage nach Selbstverwirklichung bzw. Aufopferung, so Lüthi. Wegen einer gewissen Selbstgefälligkeit, die beiden Hauptfiguren eigen sei, fällt es ihr mitunter schwer, Empathie für das Paar aufzubringen. Auch findet sie die Wendung, dass sich die Frau in den Arzt ihres komatösen Mannes verliebt, etwas überzogen. Dennoch scheint sie der Roman, der eben mehr sei als eine "tragische Trennungsgeschichte", gefesselt zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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