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"Ich könnte stundenlang zusehn wie es schneit", schreibt Harald Hartung in seinem neuen Gedichtband, und unversehens verwandelt sich der Schnee in die Silben, Worte und Sätze des entstehenden Gedichts. Hartung gehört seit Jahren zu den sprach- und formbewusstesten Lyrikern seiner Zeit, und zugleich setzen seine Gedichte doch immer ein mit den Augenblicken der sinnlichen, gelebten Erfahrung. Die kleinsten Details des Alltags können dieser Anstoß sein, ebenso wie die Erfahrung des Alters und der Endlichkeit menschlichen Lebens.

Produktbeschreibung
"Ich könnte stundenlang zusehn wie es schneit", schreibt Harald Hartung in seinem neuen Gedichtband, und unversehens verwandelt sich der Schnee in die Silben, Worte und Sätze des entstehenden Gedichts. Hartung gehört seit Jahren zu den sprach- und formbewusstesten Lyrikern seiner Zeit, und zugleich setzen seine Gedichte doch immer ein mit den Augenblicken der sinnlichen, gelebten Erfahrung. Die kleinsten Details des Alltags können dieser Anstoß sein, ebenso wie die Erfahrung des Alters und der Endlichkeit menschlichen Lebens.
Autorenporträt
Harald Hartung, geboren 1932 im westfälischen Herne, lebt seit den sechziger Jahren als Lyriker, Essayist und Kritiker in Berlin. Veröffentlichungen vielbeachteter Lyrik-Anthologien (1991 und 1998) sowie von Gedicht- und Essay-Bänden. Auszeichnungen: 1987 Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis, 1999 Premio Antico Fattore und 2003 Würth-Preis für Europäische Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2002

Sonett mit Rübenkraut
Abgründig, ratlos und klug: Harald Hartungs neue Gedichte

Erkundigt man sich bei versierten Freunden nach den derzeit wichtigsten Lyrikern in Deutschland, werden immer dieselben drei, vier Namen genannt. Derjenige Harald Hartungs ist kaum je darunter. Erkundigt man sich bei denselben Freunden, umgekehrt, nach ihrer Meinung über Harald Hartung, dann lautet die Antwort nach kurzem Innehalten stets: allerdings, der gehöre natürlich dazu. Bekannt geworden ist der Autor mit Essays, die von Lyrik handeln (nur nicht von seiner eigenen), und Anthologien, die wunderbare Poesie enthalten (nur nicht die seine). Daß aber solche Gelehrten und Kenner überhaupt selber dichten, wird hierzulande aus unerfindlichen Gründen nicht gern und infolgedessen oft gar nicht gesehen. Hartungs neuer Gedichtband sollte Anlaß geben, das Vorurteil gründlich zu revidieren. Denn mit ihm hat dieser Dichter sein bestes Buch geschrieben und eines der drei, vier wichtigsten in der gegenwärtigen deutschen Lyrik überhaupt.

"Langsamer träumen" bezeugt, wie Hartungs Lyrik von Beginn an, was Goethe einen "realistischen Tic" nannte. Oft ist er, der Bergmannssohn aus Herne, als "Neorealist" etikettiert worden. Und oft hat er selbst von seinem Bemühen gesprochen, das Wirkliche als Wirkliches zu fassen und Stilisierungen zu meiden. Allenfalls im parodischen Gegenzug dürften dann auch die großen Töne der literarischen Tradition durchspielt werden (so gibt es hier ein paar übermütig formvollendete Ghaselen und Sonette). Selbst die klassischen Mythen können dann im Alltäglichen neu sichtbar werden, die Parzen in der Fußgängerzone, der Styx gleich hinterm Zoo. Der Liebhaber des Wirklichen aber, der sich in einer durch und durch medialen Welt vorfindet, kann nichts mehr einfach abfotografieren. Er nimmt selbstreflexive "Snapshots" auf wie diesen, nur fünf Verse umfassenden: "Ein paar einprägsame Fotos werden / immer geschossen aus solchem Anlaß / etwa an einer Straße wo dann zwei / Männer liegen wovon der eine noch / lebt während das Foto geschossen wird." In fünfmal zehn Silben entwickelt sich eine Meta-Fotografie, die, indem sie den gesetzten Anlaß abschneidet, ohne Stilisierung zu zeigen vermag, was "immer" ist.

Hartung ist ein Meister der präzisen Aussparung. Zu seinem lyrischen Realismus gehören Schärfe, Lakonie und ein trockener Humor, der das Pathos ermöglicht, indem er es zurücknimmt - so im Übergang vom Bild des Hitlerjungen, der "ich" heißt, zum staunenerrregenden Anblick der Fähnleinführer, die im Frühjahr 1945 in dunklen Hauseingängen zur Amimusik swingen, "hej-ba-ba-reeba". Wie hier, so ist oft von Kriegsende und Nachkriegszeit in diesem Band die Rede, von Kindheitsängsten und den Augenblicksbildern, die im Gedächtnis für immer fixiert sind. Da gibt es ein lapidares Sonett über die in der Hitze gekrümmte, mit Rübenkraut vollgesogene Graubrotschnitte auf dem Küchentisch eines Sommertages in den dreißiger Jahren; erst im letzten Vers erscheint, am äußersten Bildrand, der Leichnam des Großvaters im Hausflur. Und es gibt diese plötzliche Erinnerung an den Kontrabaß, der mit den Eltern und den Koffern auf einem Schützenpanzer transportiert worden und verlorengegangen ist. Wie hörbar wird die Eiseskälte der Kinderangst in dem einzigen Ausruf des Bandes: der Kontrabaß, denn nur von ihm, nur von ihm ist die Rede, er "muß / geschrieen haben unter / der MG-Garbe o Gott / er muß geschrieen haben".

Die spektakuläre Sprachgeste ist hier die ebendeshalb bewegende Ausnahme. Während weithin "irony is over" zum Slogan geworden ist, zeigt sich Hartung als ihr höflicher und entschiedener Verteidiger. Ihren subtilsten Ausdruck findet seine Ironie in einer nur Silben, nicht Versfüße zählenden Metrik, die zart die Balance hält zwischen spröde prosaischem Duktus und rhythmischer Akzentuierung. Wie W. H. Auden und Sylvia Plath geht der Belesene so hinter das Gleichmaß des Jambenflusses wie hinter die versförmig umbrochene Prosa zurück, gewinnt er dem silbenzählenden Prinzip nuancierteste Ausdrucksqualitäten ab. Dazu gehört auch die Spannung von Schema und Abweichung, der fünfsilbige Vers etwa unter den Elfsilblern, der nun vom Elend nicht nur spricht, sondern es leise vernehmbar macht.

Diese prosaische Verstechnik enthält in nuce Hartungs Poetik. Es ist die Idee einer verborgenen Ordnung (und der Verborgenheit der Ordnung), einer Schönheit, die sich beinah verlegen ins Unauffällige und Ungefällige kleidet. Es ist die überspielte Tiefe, die auf skeptische Distanz gebrachte und doch nicht ganz aufgegebene Hoffnung, der verlangsamte Traum. Es ist die ironische Resignation, die einen unauflöslichen Restbestand an Renitenz umhüllt.

So kann gerade die Rücknahme des Pathetischen ins Alltägliche, im agnostischen Gewand, die letzten Dinge berühren. Für den kindlichen Lauscher ist in der leeren Kammer hinterm Schlüsselloch "etwas Gottesgeruch" zu bemerken und dann auch "sein Geräusch sein schweres Atmen" - die Konstellation erinnert an Rilkes "Stundenbuch", nur ist sie jetzt aller falschen Heiligkeit entblößt, kein Weihrauch liegt in der Zimmerluft: "Ach er atmet wie ich / atmet Menschengestank", begreift das Kind; und übrigens ist die Kammer ja, wie gesagt, leer, bloß "a room of my own". Ist da jemand? War da was?

Eines der schönsten, abgründigsten Gedichte des Bandes übersetzt die biblische Geschichte vom Zöllner Zachäus in bundesrepublikanische Gegenwart, eine fast heitere Straßen- und Küchenszene. Ein anderes, zehnmal zehn Silben umfassendes spielt das religiöse Thema über die kunstgeschichtliche Bande. Um ein Gemälde der italienischen Renaissance geht es da, Merisis alias Caravaggios "Christus der durch die Wachen hindurchgeht" (zehn Silben; wer nach dem "die" eine kleine Zäsur macht, hört das Hindurchgehen heraus). Das Bild zeigt den eben Auferstandenen anders, als die kirchliche Ikonographie es fordert: "Der Magere eben auferstanden / entschwebt nicht frei geht er durch die Wachen / ins Dunkel das ihn und sein Bild verbirgt / Verhaftet (wie bekannt) wird Merisi." Nicht aufsteigend in den vorschriftsmäßigen himmlischen Glanz zeigt das Bild den Erlöser, sondern verschwindend im Dunkel des wirklichen Menschenlebens - nur eben jetzt als einen Freien, Verkörperung einer Menschensehnsucht, die sich im Kunstwerk wie im Glauben für einen Augenblick utopisch erfüllt sieht. Allein der Maler vermag ihn zugleich zu zeigen und zu verbergen. In der bloßen Existenz des Bildes aber wird der Triumph über Wachen, Kerker und Tod verlockend und gefährlich sichtbar; "sein Schöpfer kannte Maltas Kerker gut".

Keine Kunstreligion proklamieren diese asketischen, an Bezügen und Abtönungen reichen Zehnsilbler; auch keine christliche Verkündigung. Aber auf vertrackte Weise kunstgläubig sind sie doch, und sogar etwas fromm. Das vorletzte Wort hat die Verhaftung, das letzte aber bleibt dieser Poesie. Denn das Bild ist seither ja verschwunden; nur "Berichte" von ihm sind geblieben, nur davon spricht das Gedicht. Die Kunst wie der Glaube bleiben hier im Zwielicht von Legende und Projektion. Da aber bleiben sie, unaufgelöst.

So rätselhaft und so einfach sind alle Gedichte dieses wunderbaren, abgründigen Buches, so ratlos und klug. Wie die Reminiszenzen an Simic und Larkin zu den Urlaubs- und Ehegeschichten, so sanft und unversöhnt fügen sich auch die "Chinoiserie" zum pissenden Penner und das Bennsche "Psalmenende" zu den (falls sich noch jemand an die erinnert) pflegebedürftigen Tamagotchis. Und manchmal liegt alles im biblischen Schatten, "um die Stunde, da es finster ward in Cottbus". Ganz genau und alltäglich ist das alles, ganz leise und leicht, und dabei geht es um Gedichte auf Leben und Tod. Nur ihrer eigenen Haltbarkeit scheinen Hartungs Verse wenig zuzutrauen. Einmal zitiert er aus Oskar Loerkes Tagebuch die verspätete Hoffnung, nun endlich werde sein Ruhm doch "ungeheuer" sein. Gemeint, fügt er sarkastisch hinzu, sei der Verkauf von vierhundert Gedichtbänden, "die Hälfte Freistücke". So also gehe es immer? Möge er, der Erfahrene, dies eine Mal irren.

Harald Hartung: "Langsamer träumen". Gedichte. Hanser Verlag, München 2002. 96 S., geb., 13,60 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Ein "wunderbar abgründiges Buch" nennt begeistert Rezensent Heinrich Detering den neuen Gedichtband Hartungs. Verwundert gibt der Rezensent außerdem zu Protokoll, dass kaum ein Lyrikkenner Hartung erwähne, wenn nach den "derzeit wichtigsten Lyrikern im Lande" gefragt wird, und fordert nachdrücklich zur Revision dieser Haltung auf - auch angesichts des vorliegenden Buches, das er als Hartungs bestes bezeichnet. An dessen "lyrischem Realismus" schätzt der Rezensent besonders Schärfe, Lakonie und einen trockenen Humor, "der das Pathos ermöglicht, in dem er es zurücknimmt". Keine spektakulären Sprachgesten, dafür aber eine höfliche und entschiedene Ironie, deren subtilsten Ausdruck der Rezensent in einer "nur Silben, nicht Versfüße zählenden Metrik" findet, die "zart die Balance hält zwischen spröde prosaischem Duktus und rhythmischer Akzentuierung". Hinter der Hartungschen Poetik entdeckt der Rezensent auch die "Idee einer verborgenen Ordnung", einer "Schönheit, die sich beinahe verlegen ins Unauffällige und Ungefällige" kleidet. Ganz genau und alltäglich ist das Meiste, was Detering in diesen Gedichten findet. Manchmal sieht er alles "im biblischen Schatten" liegen. Doch eigentlich sei alles "ganz leise und leicht", "und dabei geht es um Leben und Tod".

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