Gottlob Frege war einst ein kaum bekannter intellektueller Einzelgänger. Als er verstarb, nahm niemand davon Notiz. Er schien vergessen. Doch kein Vierteljahrhundert später ist er der größte Logiker seit Aristoteles, sein philosophisches Werk von epochaler Bedeutsamkeit. Aus dem akademischen Außenseiter wurde ein Heroe der Wissenschaftsgeschichte. Wie kam es indes zu Freges posthumer Geburt? Die vorliegende Untersuchung erzählt diese außergewöhnliche Geschichte in all ihren faszinierenden Details und hält so manche Überraschung bereit. Die bibliographischen Koordinaten JSL 1(4), 135 führen zum Schlüssel des Rätsels. Aus der Presse:This [...] book should be of interest to all students of the history of analytic philosophy or modern logic. (Ansten Klev in Philosophica Mathematica, Vol. 28, Issue 1, Februar 2020)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Kienzler, Philosophie-Dozent in Jena, liest Matthias Willes Studie mit Gewinn. Über die verschlungenen Wege des Nachruhms von Gottlob Frege zwischen 1925 und 1950 erfährt er bei Wille Erstaunliches. Dass nämlich weder Wittgenstein noch Carnap oder Russell dem analytischen Philosophen zum Durchbruch verhalfen, sondern möglicherweise die Association for Symbolic Logic in Harvard und Princeton mit Alonzo Church. Für Kienzler eine lesenswerte neue Perspektive auf das Werden eines Klassikers.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2016Neun Sterne für den Logiker
Matthias Wille folgt Gottlob Freges Weg zum Klassiker
Gottlob Frege (1848-1925), heute einer der meistzitierten Autoren der analytischen Philosophie, wurde zu Lebzeiten nur sehr sporadisch rezipiert. Keine seiner Schriften sah dieser Autor in einer zweiten Auflage. Doch fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod rückte er zum Klassiker auf: J. L. Austin, der Begründer der Sprechakttheorie, übersetzte seine "Grundlagen der Arithmetik" und gab sie zweisprachig heraus, darin vergleichbar nur Ludwig Wittgensteins "Tractatus". Weitere Schriften wurden dann übersetzt, die Diskussion über "Sinn" und "Bedeutung", Freges epochemachendes Begriffspaar, war bereits in vollem Gange.
In seiner Studie untersucht Matthias Wille die Frage, wer Gottlob Freges Werk zwischen 1925 und 1950 eigentlich zum Durchbruch verhalf. Dafür geht er zunächst die naheliegenden Vorschläge durch - Wittgenstein, Carnap und Russell - und verwirft sie. Wittgensteins Hinweise wurden zu spät, nämlich erst nach 1950, wirklich aufgegriffen; Rudolf Carnap hatte zwar bei Frege studiert, aber seine rein systematische Arbeitsweise ließ ihn meist vergessen, dass er Fregesche Gedanken weiterverfolgte. Russell schließlich hatte zwar früh auf Frege hingewiesen, aber eher so, dass dieser als ein Vorläufer erschien, der durch Russells eigenes Werk überholt wurde. Immerhin trug er 1935 auf dem Ersten Internationalen Kongress für wissenschaftliche Philosophie in Paris einen Nachruf auf Frege vor.
Ein Freund und Kollege Russells, Philip Jourdain, veröffentlichte schon zwischen 1912 und 1916 eine erste fundierte Darstellung von Freges Werk, ergänzt um Übersetzungen ausgewählter Passagen; doch auch sie liegt zu früh. In Deutschland wies Paul Linke, ein Jenaer Kollege Freges, seit 1916 immer wieder auf Frege hin, blieb damit aber isoliert.
Seit 1930 trat Heinrich Scholz auf den Plan, gründete in Münster das Institut für mathematische Logik und Grundlagenforschung, nannte Frege "das größte Genie der neuen Logik im 19. Jahrhundert" und sammelte den Nachlass und Briefwechsel für eine Edition. Seine Wirksamkeit blieb jedoch auf den engeren Kreis der "Logistiker" beschränkt, die geplanten Frege-Studien kamen nicht über das erste Heft (1940) hinaus, und die Edition erschien erst Jahrzehnte später.
Der Durchbruch zu einer breiten und kontinuierlichen Rezeption Freges wurde dagegen in den Vereinigten Staaten, genauer in Harvard und Princeton, vorbereitet. Dort organisierte sich eine größere Anzahl von mathematischen Logikern in der Association for Symbolic Logic, mit dem zugehörigen "Journal of Symbolic Logic" als Fachorgan. Der Gründungsherausgeber Alonzo Church lieferte nicht nur selbst wichtige, an Gödels Resultate anschließende, systematische Beiträge, sondern war auch an der Geschichte der Logik interessiert. Anfang 1937 veröffentlichte er als eigenes Heft des "Journal" eine umfassende "Bibliographie der symbolischen Logik", die auf hundert Seiten sämtliche einschlägigen Publikationen seit Leibniz verzeichnete.
Wichtige Arbeiten in dieser Bibliographie sind durch einen Stern hervorgehoben; ganz wenige, insgesamt genau elf Werke erhalten das Maximum von zwei Sternen und werden so als bahnbrechend gekennzeichnet - etwa je ein Hauptwerk von Boole, Hilbert, Russell und Gödel. Freges drei Hauptwerke sind sämtlich durch je zwei Sterne ausgezeichnet; hinzu kommen noch drei Arbeiten mit je einen Stern, macht insgesamt neun Sterne. Damit wurde Frege institutionell als Begründer und wichtigster Klassiker der modernen Logik anerkannt. Wille sieht hier den "historischen Wendepunkt in der Fregerezeption".
Church warb für Frege auch noch auf andere Weise: Als Herausgeber des "Journal" wies er wiederholt darauf hin, dass gerade laufende Diskussionen um das "Paradox der Analyse" nur das wiederholten, was Frege in seinem Aufsatz "Über Sinn und Bedeutung" 1892 schon geklärt hatte: Wenn das Ergebnis einer Analyse dasselbe ist wie ihr Ausgangspunkt - ist sie dann nicht trivial? Wenn ihr Ergebnis aber ein anderes ist als ihr Ausgangspunkt - ist sie dann nicht falsch? Freges Lösung lautete: Die Bedeutung von Ausgangspunkt und Resultat muss bei der Analyse dieselbe bleiben, aber der Sinn beider Ausdrücke kann und muss verschieden sein.
Damit führte Church Frege auf Dauer in eine zentrale Diskussion der analytischen Philosophie ein. Hier war nun Rudolf Carnap die einflussreichste Figur. Von Church angeregt, studierte er 1943 Freges Aufsatz erneut und ging 1947 in seinem Buch "Meaning and Necessity" ausführlich auf ihn ein, wobei er Frege wie einen Gegenwartsautor behandelte.
Vielleicht waren es vor allem diese Hinweise, welche die Wende in der Rezeption Freges bewirkten. Schließlich wird in der Philosophie jemand nicht dadurch zum Klassiker, dass man seine Texte mit Baedekersternen versieht, sondern vor allem dadurch, dass man mit seinen Gedanken arbeitet, über sie hinauszugelangen sucht und dann doch immer wieder auf sie zurückkommt. Wie auch immer man aber die Frage nach dem Ruhm einschätzt: Willes lesenswerte Studie bietet eine Fülle von Informationen über die verschlungenen Wege von Freges Nachruhm und zudem eine bedenkenswerte neue Perspektive auf die Durchsetzung eines Klassikers der Philosophie.
WOLFGANG KIENZLER
Matthias Wille: "Largely unknown" Gottlob Frege und der posthume Ruhm.
Mentis Verlag, Münster 2016. 243 S., geb., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Matthias Wille folgt Gottlob Freges Weg zum Klassiker
Gottlob Frege (1848-1925), heute einer der meistzitierten Autoren der analytischen Philosophie, wurde zu Lebzeiten nur sehr sporadisch rezipiert. Keine seiner Schriften sah dieser Autor in einer zweiten Auflage. Doch fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod rückte er zum Klassiker auf: J. L. Austin, der Begründer der Sprechakttheorie, übersetzte seine "Grundlagen der Arithmetik" und gab sie zweisprachig heraus, darin vergleichbar nur Ludwig Wittgensteins "Tractatus". Weitere Schriften wurden dann übersetzt, die Diskussion über "Sinn" und "Bedeutung", Freges epochemachendes Begriffspaar, war bereits in vollem Gange.
In seiner Studie untersucht Matthias Wille die Frage, wer Gottlob Freges Werk zwischen 1925 und 1950 eigentlich zum Durchbruch verhalf. Dafür geht er zunächst die naheliegenden Vorschläge durch - Wittgenstein, Carnap und Russell - und verwirft sie. Wittgensteins Hinweise wurden zu spät, nämlich erst nach 1950, wirklich aufgegriffen; Rudolf Carnap hatte zwar bei Frege studiert, aber seine rein systematische Arbeitsweise ließ ihn meist vergessen, dass er Fregesche Gedanken weiterverfolgte. Russell schließlich hatte zwar früh auf Frege hingewiesen, aber eher so, dass dieser als ein Vorläufer erschien, der durch Russells eigenes Werk überholt wurde. Immerhin trug er 1935 auf dem Ersten Internationalen Kongress für wissenschaftliche Philosophie in Paris einen Nachruf auf Frege vor.
Ein Freund und Kollege Russells, Philip Jourdain, veröffentlichte schon zwischen 1912 und 1916 eine erste fundierte Darstellung von Freges Werk, ergänzt um Übersetzungen ausgewählter Passagen; doch auch sie liegt zu früh. In Deutschland wies Paul Linke, ein Jenaer Kollege Freges, seit 1916 immer wieder auf Frege hin, blieb damit aber isoliert.
Seit 1930 trat Heinrich Scholz auf den Plan, gründete in Münster das Institut für mathematische Logik und Grundlagenforschung, nannte Frege "das größte Genie der neuen Logik im 19. Jahrhundert" und sammelte den Nachlass und Briefwechsel für eine Edition. Seine Wirksamkeit blieb jedoch auf den engeren Kreis der "Logistiker" beschränkt, die geplanten Frege-Studien kamen nicht über das erste Heft (1940) hinaus, und die Edition erschien erst Jahrzehnte später.
Der Durchbruch zu einer breiten und kontinuierlichen Rezeption Freges wurde dagegen in den Vereinigten Staaten, genauer in Harvard und Princeton, vorbereitet. Dort organisierte sich eine größere Anzahl von mathematischen Logikern in der Association for Symbolic Logic, mit dem zugehörigen "Journal of Symbolic Logic" als Fachorgan. Der Gründungsherausgeber Alonzo Church lieferte nicht nur selbst wichtige, an Gödels Resultate anschließende, systematische Beiträge, sondern war auch an der Geschichte der Logik interessiert. Anfang 1937 veröffentlichte er als eigenes Heft des "Journal" eine umfassende "Bibliographie der symbolischen Logik", die auf hundert Seiten sämtliche einschlägigen Publikationen seit Leibniz verzeichnete.
Wichtige Arbeiten in dieser Bibliographie sind durch einen Stern hervorgehoben; ganz wenige, insgesamt genau elf Werke erhalten das Maximum von zwei Sternen und werden so als bahnbrechend gekennzeichnet - etwa je ein Hauptwerk von Boole, Hilbert, Russell und Gödel. Freges drei Hauptwerke sind sämtlich durch je zwei Sterne ausgezeichnet; hinzu kommen noch drei Arbeiten mit je einen Stern, macht insgesamt neun Sterne. Damit wurde Frege institutionell als Begründer und wichtigster Klassiker der modernen Logik anerkannt. Wille sieht hier den "historischen Wendepunkt in der Fregerezeption".
Church warb für Frege auch noch auf andere Weise: Als Herausgeber des "Journal" wies er wiederholt darauf hin, dass gerade laufende Diskussionen um das "Paradox der Analyse" nur das wiederholten, was Frege in seinem Aufsatz "Über Sinn und Bedeutung" 1892 schon geklärt hatte: Wenn das Ergebnis einer Analyse dasselbe ist wie ihr Ausgangspunkt - ist sie dann nicht trivial? Wenn ihr Ergebnis aber ein anderes ist als ihr Ausgangspunkt - ist sie dann nicht falsch? Freges Lösung lautete: Die Bedeutung von Ausgangspunkt und Resultat muss bei der Analyse dieselbe bleiben, aber der Sinn beider Ausdrücke kann und muss verschieden sein.
Damit führte Church Frege auf Dauer in eine zentrale Diskussion der analytischen Philosophie ein. Hier war nun Rudolf Carnap die einflussreichste Figur. Von Church angeregt, studierte er 1943 Freges Aufsatz erneut und ging 1947 in seinem Buch "Meaning and Necessity" ausführlich auf ihn ein, wobei er Frege wie einen Gegenwartsautor behandelte.
Vielleicht waren es vor allem diese Hinweise, welche die Wende in der Rezeption Freges bewirkten. Schließlich wird in der Philosophie jemand nicht dadurch zum Klassiker, dass man seine Texte mit Baedekersternen versieht, sondern vor allem dadurch, dass man mit seinen Gedanken arbeitet, über sie hinauszugelangen sucht und dann doch immer wieder auf sie zurückkommt. Wie auch immer man aber die Frage nach dem Ruhm einschätzt: Willes lesenswerte Studie bietet eine Fülle von Informationen über die verschlungenen Wege von Freges Nachruhm und zudem eine bedenkenswerte neue Perspektive auf die Durchsetzung eines Klassikers der Philosophie.
WOLFGANG KIENZLER
Matthias Wille: "Largely unknown" Gottlob Frege und der posthume Ruhm.
Mentis Verlag, Münster 2016. 243 S., geb., 24,80 [Euro].
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