Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2023Skandal
in Chinatown
„Last Night at the Telegraph Club“ erzählt vom
Coming-out eines amerikanisch-chinesischen
Mädchens in den Fünfzigerjahren
VON ANTJE WEBER
Mit einem Werbefoto fängt alles an. Es zeigt eine Frau, die sich als charmanter Mann präsentiert, im Smoking, mit zurückgegelten Haaren. Es ist ein Bild, das Lily den Atem raubt. „Tommy Andrews, Herrenimitatorin“ steht darunter, „Weltpremiere im Telegraph Club, 462 Broadway“. Das Zeitungsinserat entzündet in der Siebzehnjährigen eine diffuse Sehnsucht. Ihr ist klar: Da muss sie hin.
So einfach ist das allerdings nicht, wenn man im Jahr 1954 in einer amerikanischen Familie mit chinesischen Wurzeln in San Francisco aufwächst. In diese Art anrüchiger Clubs geht man einfach nicht, der Verhaltenskodex in Chinatown ist streng. Ein „anständiges Mädchen“ hat klare Ziele, wie Lily weiß: „einen College-Abschluss, einen Ehemann, ein schönes Zuhause und liebenswerte Kinder, und zwar in exakt dieser Reihenfolge“.
Ist jedes Mädchen, das andere Ziele hat, also unanständig? Die US-amerikanische Autorin Malinda Lo beschreibt in ihrem Roman „Last Night at the Telegraph Club“, der unter anderem mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, den Zwiespalt einer jungen Frau, die nicht in die vorgegebenen Raster passt. Der akribisch recherchierte Roman fügt jedoch nicht nur der queeren Geschichtsschreibung ein Puzzlestück hinzu, sondern zeichnet überhaupt ein vielschichtiges Bild der komplexen amerikanischen Gesellschaft in den Fünfzigerjahren.
Bedächtig entwickelt die Autorin die Handlung, die Lily selbstverständlich irgendwann in den Telegraph Club führt. Doch bis es so weit ist, sind viele kleine Schritte nötig. Denn wie soll sich eine junge Frau in Chinatown ihrer lesbischen Neigung bewusst werden, wenn nichts sie auf diese Option vorbereitet hat? Malinda Lo beschreibt einfühlsam den damals noch mühsameren Weg der Erkenntnis – zum Beispiel den heißen Schauer, der Lily überkommt, als sie in einer Drogerie auf einen Groschenroman mit lüsternen Frauen stößt.
Allmählich wird Lily klar, dass ihre Interessen schon immer als ungewöhnlich galten: Chemiebaukästen faszinierten sie mehr als Puppen, und um ihren Kindheitstraum einer Reise zum Mond zu verwirklichen, würde sie am liebsten in einer Raketenfabrik anheuern. Immerhin dafür hat Lily ein Vorbild: Eine Tante arbeitet als Mathematikerin im „Jet Propulsion Laboratory“. Doch auch sie steckt in den Zwängen ihrer Zeit und Kultur fest.
Um diese Zwänge näher zu beschreiben, hat Malinda Lo eine ambitionierte Romanstruktur gewählt: Sie schreibt nicht nur aus der Perspektive von Lily, sondern zwischendurch auch aus der ihrer Tante, des Vaters und der Mutter – und springt mit ihnen zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Damit die Einordnung leichter fällt, hat sie Timelines dazugestellt und dabei historische Ereignisse den privaten gleichgesetzt: 1950 zum Beispiel mag zwar der Koreakrieg beginnen, mag der Senator Joseph McCarthy eine Liste mit angeblichen Kommunisten im Außenministerium erstellen – aber im Sommer desselben Jahres nimmt in San Francisco eben auch Lily an einem Picknick des Miss-Chinatown-Wettbewerbs teil.
Dass so disparate Ereignisse wie diese beiden durchaus miteinander zu tun haben können, wird im Buch bald deutlich. Die antikommunistische Hetze der McCarthy-Ära hat damals unmittelbare Auswirkungen auf chinesische Einwanderer, die ohnehin jeder Menge Rassismus ausgesetzt sind (bis heute und auch hierzulande, wie die antiasiatischen Anfeindungen der Corona-Zeit zeigen). Wer kommunistischer Nähe verdächtig scheint, riskiert, nach China abgeschoben zu werden. Dem Vater von Lily nimmt das FBI als Druckmittel seine Einwanderungspapiere weg. Was erwartet die Familie, wenn Lily in homosexuellen Kreisen gesehen wird?
Denn dass das passiert, ist fast unvermeidlich. Lily wird sich schließlich nicht nur einmal heimlich in den Telegraph
Club schleichen. Sie wird die Herrenimitatorin von dem Werbefoto kennenlernen, und sie wird sich in eine Mitschülerin verlieben. Ausgerechnet diese Jugendliche, die so angepasst erzogen ist, entwickelt einen Mut der Verzweiflung – und wird prompt in eine Razzia verwickelt: ein Skandal.
Malinda Lo zeigt anschaulich, wie hoch der Preis je nach Zeit und Ort für alle war und ist, die jenseits der Norm leben und lieben. Es ist ein weiter Weg, den jede Gesellschaft zurücklegen muss. Immerhin: Auch auf dem Mond ist die Menschheit ja irgendwann gelandet. Und wer sich, wie Lily, über alle Konventionen hinweg in den Telegraph Club wagt, schafft es sowieso überall hin.
Was droht der Familie,
wenn Lily in homosexuellen
Kreisen gesehen wird?
Das San Francisco der chinesischen Einwanderer ist bunt, aber restriktiv – jedenfalls wenn man als „anständiges Mädchen“ erzogen wurde. Foto: Imago
Malinda Lo: Last Night at the Telegraph Club. Aus dem Englischen von Beate Schäfer. Dtv Verlag,
München 2023. 445 Seiten,
19 Euro. Ab 14 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in Chinatown
„Last Night at the Telegraph Club“ erzählt vom
Coming-out eines amerikanisch-chinesischen
Mädchens in den Fünfzigerjahren
VON ANTJE WEBER
Mit einem Werbefoto fängt alles an. Es zeigt eine Frau, die sich als charmanter Mann präsentiert, im Smoking, mit zurückgegelten Haaren. Es ist ein Bild, das Lily den Atem raubt. „Tommy Andrews, Herrenimitatorin“ steht darunter, „Weltpremiere im Telegraph Club, 462 Broadway“. Das Zeitungsinserat entzündet in der Siebzehnjährigen eine diffuse Sehnsucht. Ihr ist klar: Da muss sie hin.
So einfach ist das allerdings nicht, wenn man im Jahr 1954 in einer amerikanischen Familie mit chinesischen Wurzeln in San Francisco aufwächst. In diese Art anrüchiger Clubs geht man einfach nicht, der Verhaltenskodex in Chinatown ist streng. Ein „anständiges Mädchen“ hat klare Ziele, wie Lily weiß: „einen College-Abschluss, einen Ehemann, ein schönes Zuhause und liebenswerte Kinder, und zwar in exakt dieser Reihenfolge“.
Ist jedes Mädchen, das andere Ziele hat, also unanständig? Die US-amerikanische Autorin Malinda Lo beschreibt in ihrem Roman „Last Night at the Telegraph Club“, der unter anderem mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, den Zwiespalt einer jungen Frau, die nicht in die vorgegebenen Raster passt. Der akribisch recherchierte Roman fügt jedoch nicht nur der queeren Geschichtsschreibung ein Puzzlestück hinzu, sondern zeichnet überhaupt ein vielschichtiges Bild der komplexen amerikanischen Gesellschaft in den Fünfzigerjahren.
Bedächtig entwickelt die Autorin die Handlung, die Lily selbstverständlich irgendwann in den Telegraph Club führt. Doch bis es so weit ist, sind viele kleine Schritte nötig. Denn wie soll sich eine junge Frau in Chinatown ihrer lesbischen Neigung bewusst werden, wenn nichts sie auf diese Option vorbereitet hat? Malinda Lo beschreibt einfühlsam den damals noch mühsameren Weg der Erkenntnis – zum Beispiel den heißen Schauer, der Lily überkommt, als sie in einer Drogerie auf einen Groschenroman mit lüsternen Frauen stößt.
Allmählich wird Lily klar, dass ihre Interessen schon immer als ungewöhnlich galten: Chemiebaukästen faszinierten sie mehr als Puppen, und um ihren Kindheitstraum einer Reise zum Mond zu verwirklichen, würde sie am liebsten in einer Raketenfabrik anheuern. Immerhin dafür hat Lily ein Vorbild: Eine Tante arbeitet als Mathematikerin im „Jet Propulsion Laboratory“. Doch auch sie steckt in den Zwängen ihrer Zeit und Kultur fest.
Um diese Zwänge näher zu beschreiben, hat Malinda Lo eine ambitionierte Romanstruktur gewählt: Sie schreibt nicht nur aus der Perspektive von Lily, sondern zwischendurch auch aus der ihrer Tante, des Vaters und der Mutter – und springt mit ihnen zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Damit die Einordnung leichter fällt, hat sie Timelines dazugestellt und dabei historische Ereignisse den privaten gleichgesetzt: 1950 zum Beispiel mag zwar der Koreakrieg beginnen, mag der Senator Joseph McCarthy eine Liste mit angeblichen Kommunisten im Außenministerium erstellen – aber im Sommer desselben Jahres nimmt in San Francisco eben auch Lily an einem Picknick des Miss-Chinatown-Wettbewerbs teil.
Dass so disparate Ereignisse wie diese beiden durchaus miteinander zu tun haben können, wird im Buch bald deutlich. Die antikommunistische Hetze der McCarthy-Ära hat damals unmittelbare Auswirkungen auf chinesische Einwanderer, die ohnehin jeder Menge Rassismus ausgesetzt sind (bis heute und auch hierzulande, wie die antiasiatischen Anfeindungen der Corona-Zeit zeigen). Wer kommunistischer Nähe verdächtig scheint, riskiert, nach China abgeschoben zu werden. Dem Vater von Lily nimmt das FBI als Druckmittel seine Einwanderungspapiere weg. Was erwartet die Familie, wenn Lily in homosexuellen Kreisen gesehen wird?
Denn dass das passiert, ist fast unvermeidlich. Lily wird sich schließlich nicht nur einmal heimlich in den Telegraph
Club schleichen. Sie wird die Herrenimitatorin von dem Werbefoto kennenlernen, und sie wird sich in eine Mitschülerin verlieben. Ausgerechnet diese Jugendliche, die so angepasst erzogen ist, entwickelt einen Mut der Verzweiflung – und wird prompt in eine Razzia verwickelt: ein Skandal.
Malinda Lo zeigt anschaulich, wie hoch der Preis je nach Zeit und Ort für alle war und ist, die jenseits der Norm leben und lieben. Es ist ein weiter Weg, den jede Gesellschaft zurücklegen muss. Immerhin: Auch auf dem Mond ist die Menschheit ja irgendwann gelandet. Und wer sich, wie Lily, über alle Konventionen hinweg in den Telegraph Club wagt, schafft es sowieso überall hin.
Was droht der Familie,
wenn Lily in homosexuellen
Kreisen gesehen wird?
Das San Francisco der chinesischen Einwanderer ist bunt, aber restriktiv – jedenfalls wenn man als „anständiges Mädchen“ erzogen wurde. Foto: Imago
Malinda Lo: Last Night at the Telegraph Club. Aus dem Englischen von Beate Schäfer. Dtv Verlag,
München 2023. 445 Seiten,
19 Euro. Ab 14 Jahren.
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