Produktdetails
- Rizzoli & Isles Vol.10
- Verlag: Random House Us; Ballantine
- Erscheinungstermin: Juni 2013
- Gewicht: 240g
- ISBN-13: 9780553840803
- ISBN-10: 0553840800
- Artikelnr.: 36603630
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2013Amerikanische Ängste
Hier haben selbst die Ermittlerinnen Angst: Die Bücher von Tess Gerritsen lassen erahnen, warum das Genre der Pathologenkrimis so viele Leserinnen findet.
Als Nächstes wäre die Leiche ausgeweidet worden." Die kalifornische Autorin Tess Gerritsen, die heute sechzig Jahre alt wird, belässt es nicht dabei. Sie schildert uns medizinisch trocken und im Detail, was die Tiere des Waldes mit einem verwesenden Körper machen würden, wenn er da liegen bliebe. Ekelhaftes, das dargestellt wird, nicht weil es stattfand, sondern weil es stattfinden würde - das darf man forensischen Manierismus nennen!
Das Gleiche gilt für die ausgiebigen Zustandsbeschreibungen des Betreffenden, hier eines Scharfschützen, dem ein Pfeil im Auge steckt, für die einzelnen Schritte von Obduktionen, für jedes Opfer am Tatort. Die Romane der chinesischstämmigen Amerikanerin dokumentieren seit "Kalte Herzen" von 1996 nicht nur das Fachwissen der ehemaligen Internistin und gehören somit zum Genre der Pathologenkrimis, das Anfang der neunziger Jahre aufstieg und inzwischen etwas überbesetzt erscheint. Sie stehen auch für das, was die amerikanische Literaturwissenschaft "wound culture" nennt.
Denn die prominente Rolle der Gerichtsmedizin im jüngeren Kriminalroman dokumentiert mehr als Realismus in der Spurenauswertung oder bloß eine weitere Drehung an der Schraube der Drastik. Sie zeigt das gesteigerte Interesse am Opfer, am Bösen, das sich serienförmig äußert, weil es sich mitteilen will, und sie erlaubt es plausibel, Frauen in der Rolle von Ermittlern zu zeigen. Eine Statistik hat ausgewiesen, dass es bis 1987 in der Geschichte des Kriminalromans 71 weibliche Detektive gab, zumeist ältere Damen des Marple-Typs. Allein in den folgenden sieben Jahren traten 67 neue Ermittlerinnen auf.
Ja, aber was hat das mit der Pathologie zu tun? Frauen, wird man einwenden, können doch auch Kommissare sein. Tatsächlich sind bei Gerritsen mit Jane Rizzoli eine Polizistin und mit Maura Isles eine Pathologin gemeinsam tätig. (Mit den gleichnamigen Heldinnen der Fernsehserie, der Gerritsen ihren Segen gegeben hat, haben die Romanfiguren so gut wie nichts zu tun.) Doch die eigentliche Pointe des Geschlechterwechsels liegt darin, dass die Frauen als Frauen ermitteln - mit den typischen Zuschreibungen: empathisch, fleißig, aufopferungsvoll und mit Sinn für ohnmächtiges Leid. Wenn "Ödipus" die erste literarische Ermittlung war, dann ist der Mythos dieses Genres Antigone, die Schwesterliche, die unter allen Umständen ihre Toten zur Ruhe bringen will. Rizzoli ist dabei die Frau, die ihren Beruf einfach nur gut machen möchte, Isles die Schwierige, mit einer schrecklichen Familiengeschichte - eine Überlebende.
Ums Überleben geht es auch in "Abendruh", was der Name eines Internats ist, in dem überwiegend Kinder leben, die durch ein Gewaltverbrechen zu Waisen wurden, unterrichtet von Lehrern mit derselben Biographie, Mitgliedern des bereits in "Blutmale" (2009) in Erscheinung getretenen Mephisto-Club. Dort finden sich gleich drei Jugendliche, die sowohl Eltern wie Pflegeeltern durch einen Mord verloren. Das wird man selbst im Land der unbegrenzten Individualismen keinen Zufall nennen wollen. Das liest sich außerdem wie eine Umkehrvariation auf den düsteren "Schwesternmord" von 2005, der auf dem Fall eines jungen Mannes beruhte, der gleich zwei Serientäter unter seinen Vorfahren hatte.
Doch diesmal tut Gerritsen zu viel des Unguten und baut die Untersuchung des Traumas in eine ziemlich haarsträubende Agentengeschichte ein, die - wie schon die Lösung in "Grabesstille" von 2012 - auf den letzten fünfzig Seiten durchgepeitscht wird. Fast denkt man, Gerritsen spekuliert auf die falsche Art von Verfilmung. Falllösungen, die mit der CIA zu tun haben, sollten jedenfalls so streng verboten werden, wie einst in den Regeln des Londoner "Detection Club" Chinesen als Täter.
Das Verbot käme Gerritsen nur zugute. Denn ihre Stärke ist nicht Action und auch nicht die überlokale Verwicklung, sondern einerseits der amerikanische Schrecken, der einst aus "Bates Motel" kroch und seitdem an jedem alleinstehenden Haus, jedem merkwürdigen Jugendlichen haftet. Bei Gerritsen haben die Ermittler, die das spüren, selbst ständig Angst, was ein ziemlich guter Einfall ist. Anderseits sind es die medizinischen Motive von Verbrechen, die nur Ärzte auflösen können, bis zu solchen, die nur Ärzte begehen können, die diese Angsterkundungen in ihren stärksten Momenten eindrücklich machen. Dass jederzeit das Furchtbarste geschehen kann, weil die Körper so wenig aushalten, zeigt Gerritsen mitunter meisterhaft, auch wenn man die Details - als Mann jedenfalls - am besten überblättert.
JÜRGEN KAUBE
Tess Gerritsen: "Abendruh". Thriller.
Deutsch von Andreas Jäger. Limes Verlag, München 2013. 416 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier haben selbst die Ermittlerinnen Angst: Die Bücher von Tess Gerritsen lassen erahnen, warum das Genre der Pathologenkrimis so viele Leserinnen findet.
Als Nächstes wäre die Leiche ausgeweidet worden." Die kalifornische Autorin Tess Gerritsen, die heute sechzig Jahre alt wird, belässt es nicht dabei. Sie schildert uns medizinisch trocken und im Detail, was die Tiere des Waldes mit einem verwesenden Körper machen würden, wenn er da liegen bliebe. Ekelhaftes, das dargestellt wird, nicht weil es stattfand, sondern weil es stattfinden würde - das darf man forensischen Manierismus nennen!
Das Gleiche gilt für die ausgiebigen Zustandsbeschreibungen des Betreffenden, hier eines Scharfschützen, dem ein Pfeil im Auge steckt, für die einzelnen Schritte von Obduktionen, für jedes Opfer am Tatort. Die Romane der chinesischstämmigen Amerikanerin dokumentieren seit "Kalte Herzen" von 1996 nicht nur das Fachwissen der ehemaligen Internistin und gehören somit zum Genre der Pathologenkrimis, das Anfang der neunziger Jahre aufstieg und inzwischen etwas überbesetzt erscheint. Sie stehen auch für das, was die amerikanische Literaturwissenschaft "wound culture" nennt.
Denn die prominente Rolle der Gerichtsmedizin im jüngeren Kriminalroman dokumentiert mehr als Realismus in der Spurenauswertung oder bloß eine weitere Drehung an der Schraube der Drastik. Sie zeigt das gesteigerte Interesse am Opfer, am Bösen, das sich serienförmig äußert, weil es sich mitteilen will, und sie erlaubt es plausibel, Frauen in der Rolle von Ermittlern zu zeigen. Eine Statistik hat ausgewiesen, dass es bis 1987 in der Geschichte des Kriminalromans 71 weibliche Detektive gab, zumeist ältere Damen des Marple-Typs. Allein in den folgenden sieben Jahren traten 67 neue Ermittlerinnen auf.
Ja, aber was hat das mit der Pathologie zu tun? Frauen, wird man einwenden, können doch auch Kommissare sein. Tatsächlich sind bei Gerritsen mit Jane Rizzoli eine Polizistin und mit Maura Isles eine Pathologin gemeinsam tätig. (Mit den gleichnamigen Heldinnen der Fernsehserie, der Gerritsen ihren Segen gegeben hat, haben die Romanfiguren so gut wie nichts zu tun.) Doch die eigentliche Pointe des Geschlechterwechsels liegt darin, dass die Frauen als Frauen ermitteln - mit den typischen Zuschreibungen: empathisch, fleißig, aufopferungsvoll und mit Sinn für ohnmächtiges Leid. Wenn "Ödipus" die erste literarische Ermittlung war, dann ist der Mythos dieses Genres Antigone, die Schwesterliche, die unter allen Umständen ihre Toten zur Ruhe bringen will. Rizzoli ist dabei die Frau, die ihren Beruf einfach nur gut machen möchte, Isles die Schwierige, mit einer schrecklichen Familiengeschichte - eine Überlebende.
Ums Überleben geht es auch in "Abendruh", was der Name eines Internats ist, in dem überwiegend Kinder leben, die durch ein Gewaltverbrechen zu Waisen wurden, unterrichtet von Lehrern mit derselben Biographie, Mitgliedern des bereits in "Blutmale" (2009) in Erscheinung getretenen Mephisto-Club. Dort finden sich gleich drei Jugendliche, die sowohl Eltern wie Pflegeeltern durch einen Mord verloren. Das wird man selbst im Land der unbegrenzten Individualismen keinen Zufall nennen wollen. Das liest sich außerdem wie eine Umkehrvariation auf den düsteren "Schwesternmord" von 2005, der auf dem Fall eines jungen Mannes beruhte, der gleich zwei Serientäter unter seinen Vorfahren hatte.
Doch diesmal tut Gerritsen zu viel des Unguten und baut die Untersuchung des Traumas in eine ziemlich haarsträubende Agentengeschichte ein, die - wie schon die Lösung in "Grabesstille" von 2012 - auf den letzten fünfzig Seiten durchgepeitscht wird. Fast denkt man, Gerritsen spekuliert auf die falsche Art von Verfilmung. Falllösungen, die mit der CIA zu tun haben, sollten jedenfalls so streng verboten werden, wie einst in den Regeln des Londoner "Detection Club" Chinesen als Täter.
Das Verbot käme Gerritsen nur zugute. Denn ihre Stärke ist nicht Action und auch nicht die überlokale Verwicklung, sondern einerseits der amerikanische Schrecken, der einst aus "Bates Motel" kroch und seitdem an jedem alleinstehenden Haus, jedem merkwürdigen Jugendlichen haftet. Bei Gerritsen haben die Ermittler, die das spüren, selbst ständig Angst, was ein ziemlich guter Einfall ist. Anderseits sind es die medizinischen Motive von Verbrechen, die nur Ärzte auflösen können, bis zu solchen, die nur Ärzte begehen können, die diese Angsterkundungen in ihren stärksten Momenten eindrücklich machen. Dass jederzeit das Furchtbarste geschehen kann, weil die Körper so wenig aushalten, zeigt Gerritsen mitunter meisterhaft, auch wenn man die Details - als Mann jedenfalls - am besten überblättert.
JÜRGEN KAUBE
Tess Gerritsen: "Abendruh". Thriller.
Deutsch von Andreas Jäger. Limes Verlag, München 2013. 416 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main