Produktdetails
- Verlag: Köln : DuMont
- ISBN-13: 9783770156054
- ISBN-10: 3770156056
- Artikelnr.: 24381020
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2002Gelehrter Unterricht
Das humanistische Gymnasium des 19. Jahrhunderts
Manfred Fuhrmann: Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II. Dumont Buchverlag, Köln 2001. 248 Seiten, 32,80 Euro.
Die "Abschaffung des Griechischen und die Beschränkung des Lateinischen auf einen elementaren Sprachunterricht" hat Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf schon 1892 vorausgesagt. Inzwischen ist Griechisch an den Schulen zum Orchideenfach geworden und Latein immer mehr in den Hintergrund getreten. Die Aushöhlung der humanistischen Tradition hat die Reform der gymnasialen Oberstufe in den siebziger Jahren erheblich beschleunigt. An die Stelle der maßgeblichen Prinzipien des Humanismus wie "Person", "Geist" oder "Kultur" traten in unverhüllter Einseitigkeit die Kategorien "Gesellschaft", "Einkommen" und "soziale Gerechtigkeit". Aber inzwischen droht den alten Sprachen noch ein ganz anderer Tod: das achtjährige Gymnasium und der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule werden weitgehend dafür sorgen, daß Latein nur noch als dritte Fremdsprache gelernt wird. Auf diese neuen Entwicklungen geht der Altphilologe Fuhrmann nicht mehr ein, dafür erklärt er sich auch für nicht zuständig.
Von der Schlüsselthese seines Buches scheint der Autor selbst überrascht zu sein: Er behauptet, daß der Glaube an die Klassik schon im 19. Jahrhundert "in den deutschen Landen so gründlich zerbrach, gründlicher als bei anderen europäischen Nationen". Er scheut sich also nicht, die jüngste Form der europäischen Bildungstradition, die klassische deutsche Bildungsidee des 18. Jahrhunderts, als auf Illusionen gegründet zu bezeichnen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei die humanistische Bildung ein Anachronismus, ein Paradox gewesen.
Im 20. Jahrhundert, so schließt Fuhrmann seine Abhandlung des gelehrten Unterrichts, sei Europa in sein alexandrinisches Stadium eingetreten, in die der griechischen Entwicklung analoge Phase, in der ein Teil der einstigen Kolonien die Hegemonie über das Mutterland ausübe. So gelte vielleicht auch für den Unterricht in den alten Sprachen, was Ernst Robert Curtius in die Formel gekleidet habe, daß Athen wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein wolle. Damit ist freilich weniger zu rechnen denn je. Denn das Vertrauen in die Texte, die einst als bedeutend galten, ist verschwunden, die kanonlose Bildung zum Allgemeingut geworden.
So kommt der Autor zum guten Schluß wieder zum Titel seines Buches zurück, denn von Europa ist nur in den Kapiteln die Rede, in denen das mittelalterliche Schulwesen, der Humanismus und die Renaissance behandelt werden. Die ersten Kapitel bilden gewissermaßen die Vorgeschichte eines in seinen Einzelheiten fesselnden Hauptteils über das humanistische Gymnasium des 19. Jahrhunderts. Mittelalter, frühe Neuzeit, Reformation und Aufklärung werden in teilweise unbefriedigender und fragmentarischer Weise als grundlegende Vorgeschichten abgehandelt. Sie zeigen jedenfalls, daß die alten Sprachen nie unangefochten waren, sondern der altsprachliche Unterricht zwischen einer Anpassung an Zeitströmungen und radikaler Rückwendung zur griechisch-römischen Antike schwankte. Seltsam blaß bleibt die Darstellung der reformatorischen Bildungsinitiativen Luthers und Melanchthons, getrübt durch die mehrfache Nennung des sogenannten Thesenanschlags an der Wittenberger Schloßkirche, den es als solchen niemals gegeben hat.
Um so mehr fesselt die detailbesessene Darstellung des gelehrten Unterrichts im 19. Jahrhundert. Da sich das Gymnasium zu dieser Zeit schon als feste Schulform etabliert hatte und sich erstaunlicherweise zu behaupten wußte, geht es im zweiten Teil des Buches um das Verhältnis des Gymnasiums zu seiner Umwelt, zum Staat und zur Gesellschaft. Was heute nur Privatschulen und einige wenige öffentliche Lehranstalten konzipieren, ein Schulprogramm, spiegelten damals die sogenannten Schulschriften. Es sind kurze Abhandlungen, die sich den Themen widmeten, die nicht durch die an den Universitäten betriebene Forschung vorgegeben waren, sondern aus schulischen Belangen hervorgingen. Sie pflegten kürzer zu sein als Dissertationen und wurden teilweise in lateinischer Sprache abgefaßt. In einem Verzeichnis mit fünf Bänden finden sich 55 000 Titel aus der Zeit zwischen 1825 und 1918, sie belegen den Forschungsgeist der damaligen Gymnasiallehrer, unter ihnen vor allem den der Altphilologen.
In ein eigenes Spannungsverhältnis gerät das humanistische Gymnasium im 19. Jahrhundert durch die Konkurrenz mit anderen Schultypen. Vielleicht ist es mehr als Ironie des Schicksals, daß sich die Altphilologen im Jahre 1900 gerade dadurch vor weiteren Einbußen im Latein- und Griechischunterricht zu bewahren versuchten, daß sie der Oberrealschule die volle Gleichberechtigung zugestanden und ihren eigenen Unterricht dadurch frühzeitig auf einen Nebenschauplatz verbannten. Hier zeigt Fuhrmanns mentalitätsgeschichtlicher Zugriff, was der gegenwärtigen Bildungsdebatte fehlt: die inhaltliche Orientierung.
HEIKE SCHMOLL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das humanistische Gymnasium des 19. Jahrhunderts
Manfred Fuhrmann: Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II. Dumont Buchverlag, Köln 2001. 248 Seiten, 32,80 Euro.
Die "Abschaffung des Griechischen und die Beschränkung des Lateinischen auf einen elementaren Sprachunterricht" hat Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf schon 1892 vorausgesagt. Inzwischen ist Griechisch an den Schulen zum Orchideenfach geworden und Latein immer mehr in den Hintergrund getreten. Die Aushöhlung der humanistischen Tradition hat die Reform der gymnasialen Oberstufe in den siebziger Jahren erheblich beschleunigt. An die Stelle der maßgeblichen Prinzipien des Humanismus wie "Person", "Geist" oder "Kultur" traten in unverhüllter Einseitigkeit die Kategorien "Gesellschaft", "Einkommen" und "soziale Gerechtigkeit". Aber inzwischen droht den alten Sprachen noch ein ganz anderer Tod: das achtjährige Gymnasium und der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule werden weitgehend dafür sorgen, daß Latein nur noch als dritte Fremdsprache gelernt wird. Auf diese neuen Entwicklungen geht der Altphilologe Fuhrmann nicht mehr ein, dafür erklärt er sich auch für nicht zuständig.
Von der Schlüsselthese seines Buches scheint der Autor selbst überrascht zu sein: Er behauptet, daß der Glaube an die Klassik schon im 19. Jahrhundert "in den deutschen Landen so gründlich zerbrach, gründlicher als bei anderen europäischen Nationen". Er scheut sich also nicht, die jüngste Form der europäischen Bildungstradition, die klassische deutsche Bildungsidee des 18. Jahrhunderts, als auf Illusionen gegründet zu bezeichnen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei die humanistische Bildung ein Anachronismus, ein Paradox gewesen.
Im 20. Jahrhundert, so schließt Fuhrmann seine Abhandlung des gelehrten Unterrichts, sei Europa in sein alexandrinisches Stadium eingetreten, in die der griechischen Entwicklung analoge Phase, in der ein Teil der einstigen Kolonien die Hegemonie über das Mutterland ausübe. So gelte vielleicht auch für den Unterricht in den alten Sprachen, was Ernst Robert Curtius in die Formel gekleidet habe, daß Athen wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein wolle. Damit ist freilich weniger zu rechnen denn je. Denn das Vertrauen in die Texte, die einst als bedeutend galten, ist verschwunden, die kanonlose Bildung zum Allgemeingut geworden.
So kommt der Autor zum guten Schluß wieder zum Titel seines Buches zurück, denn von Europa ist nur in den Kapiteln die Rede, in denen das mittelalterliche Schulwesen, der Humanismus und die Renaissance behandelt werden. Die ersten Kapitel bilden gewissermaßen die Vorgeschichte eines in seinen Einzelheiten fesselnden Hauptteils über das humanistische Gymnasium des 19. Jahrhunderts. Mittelalter, frühe Neuzeit, Reformation und Aufklärung werden in teilweise unbefriedigender und fragmentarischer Weise als grundlegende Vorgeschichten abgehandelt. Sie zeigen jedenfalls, daß die alten Sprachen nie unangefochten waren, sondern der altsprachliche Unterricht zwischen einer Anpassung an Zeitströmungen und radikaler Rückwendung zur griechisch-römischen Antike schwankte. Seltsam blaß bleibt die Darstellung der reformatorischen Bildungsinitiativen Luthers und Melanchthons, getrübt durch die mehrfache Nennung des sogenannten Thesenanschlags an der Wittenberger Schloßkirche, den es als solchen niemals gegeben hat.
Um so mehr fesselt die detailbesessene Darstellung des gelehrten Unterrichts im 19. Jahrhundert. Da sich das Gymnasium zu dieser Zeit schon als feste Schulform etabliert hatte und sich erstaunlicherweise zu behaupten wußte, geht es im zweiten Teil des Buches um das Verhältnis des Gymnasiums zu seiner Umwelt, zum Staat und zur Gesellschaft. Was heute nur Privatschulen und einige wenige öffentliche Lehranstalten konzipieren, ein Schulprogramm, spiegelten damals die sogenannten Schulschriften. Es sind kurze Abhandlungen, die sich den Themen widmeten, die nicht durch die an den Universitäten betriebene Forschung vorgegeben waren, sondern aus schulischen Belangen hervorgingen. Sie pflegten kürzer zu sein als Dissertationen und wurden teilweise in lateinischer Sprache abgefaßt. In einem Verzeichnis mit fünf Bänden finden sich 55 000 Titel aus der Zeit zwischen 1825 und 1918, sie belegen den Forschungsgeist der damaligen Gymnasiallehrer, unter ihnen vor allem den der Altphilologen.
In ein eigenes Spannungsverhältnis gerät das humanistische Gymnasium im 19. Jahrhundert durch die Konkurrenz mit anderen Schultypen. Vielleicht ist es mehr als Ironie des Schicksals, daß sich die Altphilologen im Jahre 1900 gerade dadurch vor weiteren Einbußen im Latein- und Griechischunterricht zu bewahren versuchten, daß sie der Oberrealschule die volle Gleichberechtigung zugestanden und ihren eigenen Unterricht dadurch frühzeitig auf einen Nebenschauplatz verbannten. Hier zeigt Fuhrmanns mentalitätsgeschichtlicher Zugriff, was der gegenwärtigen Bildungsdebatte fehlt: die inhaltliche Orientierung.
HEIKE SCHMOLL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gerrit Walther vergleicht dieses Buch in seiner Rezension mit der im Jahr 1919/1921 erschienene 'Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten' von Friedrich Paulsen. Gegen diesen "konzentriert und kritisch, unendlich belesen und stets unterhaltsam" geschriebenen Klassiker hat Fuhrmanns Buch nach Ansicht des Rezensenten keine Chance. Fuhrmann lehne sich weitgehend an Paulsens Werk an und biete sogar eigentlich eine "handliche Kurzfassung des Paulsenschen Werks". Die eingeschobenen Exkurse, etwa über die Krise des humanistischen Gymnasiums in den siebziger Jahren hält Walther jedoch für inzwischen überholt, die "wissenschaftshistorische Forschung (habe) vieles revidiert". Doch nach Walthers Diagnose ist Fuhrmann in dieser Zeit stehen geblieben. Auch die Literaturliste weist - so Walther - kaum Bücher auf, die nicht älter als dreißig Jahre sind. "Nichtdeutsche Bücher fehlen fast ganz", bemängelt Walther, dem nicht klar ist, an welche Lesepublikum sich der Band überhaupt richtet. Denn Spezialisten biete das Buch nichts Neues, und Studenten empfiehlt er, doch lieber gleich einen Blick in Paulsens Werk und einige andere Bände, die er auflistet, zu werfen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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