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In der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 2011 wird Laëtitia Perrais 50 Meter von ihrem Haus entfernt entführt, dann erstochen, erwürgt und zerstückelt. Die Lokalnachricht weitet sich zu einer Staatsaffäre aus: Der damalige Präsident Nicolas Sarkozy benutzt den Fall, um seine Law-and-Order-Politik durchzusetzen. 8000 Juristen gehen auf die Straße. Und auch die Medien instrumentalisieren Laëtitias Tod für ihre Zwecke. Ivan Jablonka nähert sich der Nachricht wie einem historischen Gegenstand und Laëtitias Leben als einer sozialen Tatsache: Ihre Biografie lässt den Zustand einer Gesellschaft…mehr

Produktbeschreibung
In der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 2011 wird Laëtitia Perrais 50 Meter von ihrem Haus entfernt entführt, dann erstochen, erwürgt und zerstückelt. Die Lokalnachricht weitet sich zu einer Staatsaffäre aus: Der damalige Präsident Nicolas Sarkozy benutzt den Fall, um seine Law-and-Order-Politik durchzusetzen. 8000 Juristen gehen auf die Straße. Und auch die Medien instrumentalisieren Laëtitias Tod für ihre Zwecke. Ivan Jablonka nähert sich der Nachricht wie einem historischen Gegenstand und Laëtitias Leben als einer sozialen Tatsache: Ihre Biografie lässt den Zustand einer Gesellschaft erkennen, in der Jahre der Sparmaßnahmen die Sozialsysteme geschwächt haben und Gewalt gegen Frauen zum Alltag gehört. Doch wer war Laëtitia? Wie kann man ihre Geschichte erzählen, ohne sie von ihrem Ende her aufzurollen? Gegen alle Erzählungen, die den Täter zum Gegenstand haben, möchte Ivan Jablonka Laëtitia ihre Würde zurückgeben. Er trifft Familienangehörige, Freunde und Protagonisten der Ermittlung und wohnt 2015 dem Prozess des Mörders bei. Zusammen mit den Aussagen der befragten Zeugen entsteht eine sensible, vielstimmige Erzählung über das Leben eines vernachlässigten Mädchens in einem »Wohlfahrtsstaat«.»Eines der besten Beispiele dafür, was aus der Auflösung der Grenzen der Literatur entstehen kann, ist für mich das Buch Laëtitia ou la fin des hommes von Ivan Jablonka, das die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung, Soziologie, Reportage und Literatur ins Wanken bringt und mit seinem Rhythmus und seiner Sprache einen unwiderstehlichen Sog entwickelt.« - Annie Ernaux, Le Monde
Autorenporträt
Ivan Jablonka, 1973 geboren, ist Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität Paris XIII, Chefredakteur der Zeitschrift laviedesidees.fr und Mitherausgeber der Reihe »La République des idées« beim Verlag Éditions du Seuil, Paris. Für »Laëtitia oder das Ende der Mannheit« erhielt er den Prix Médicis und den Prix littéraire Le Monde.https://laviedesidees.fr/

Claudia Hamm, geboren 1969, ist Regisseurin, Autorin von Theatertexten und Essays und Literaturübersetzerin, v.a. von Emmanuel Carrère, aber auch Mathias Énard, Édouard Levé, Nathalie Quintane, Ivan Jablonka, Joseph Ponthus, Joseph Andras. Für ihre Übersetzung von Carrères Das Reich Gottes wurde sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2016.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019

Zerrüttende Verhältnisse

Das Opfer aus dem Schatten des Täters holen: Ivan Jablonka versucht Tod und Leben einer ermordeten jungen Frau zu verstehen.

Von Helmut Mayer

Im Januar 2011 wird in einem Dorf nahe der französischen Atlantikküste, etwa fünfzig Kilometer westlich von Nantes, ein achtzehnjähriges Mädchen entführt. Der Fall kommt in die Lokalnachrichten, der schnell identifizierte Entführer wird nach zwei Tagen verhaftet. Die Spuren, welche die Ermittler dabei sichern, lassen kaum Zweifel, dass das immer noch vermisste Mädchen, über deren Verbleib der Verhaftete keine Hinweise gibt, inzwischen tot ist. Aber erst fast zwei Wochen später werden Teile der zerstückelten Leiche nach aufwendiger Suche gefunden.

Da war aus der schnell abgesetzten Agenturmeldung, die am Anfang öffentlicher Aufmerksamkeit für diesen Kriminalfall in der Provinz stand, längst eine intensive landesweite Berichterstattung geworden - und eine politische Angelegenheit: Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte den Fall aufgegriffen und schwere Vorwürfe gegen Richter erhoben, die ein "Monster" - der Entführer und mutmaßliche Mörder war vielfach wegen Gewalttaten vorbestraft - unkontrolliert in die Freiheit entlassen hätten und deshalb Mitschuld an diesem Verbrechen trügen. Dieser mehrfach geäußerte Vorwurf hatte wiederum heftige Proteste von Richtern, Anwälten und Strafvollzugsbeamten ausgelöst, die zu Streiks an den Gerichten und, einige Tage nach dem Fund der ersten Leichenteile, zu landesweiten Protestveranstaltungen führten.

Es ist kein Fall aus den vermischten Meldungen, den sich der Historiker Ivan Jablonka in seinem nun auch auf Deutsch vorliegenden Buch vorgenommen hat. Der Mord an Laëtitia Perrais, die Suche nach ihrer Leiche, die Erhebungen zum Hergang ihres Todes, die von ihren Angehörigen initiierten Gedenkmärsche, die Attacken des Präsidenten auf die Richter, schließlich auch noch der Prozess gegen ihren Entführer, der bis zuletzt den Mord nicht gesteht und schließlich wegen Entführung mit Todesfolge verurteilt wird - das alles ist Gegenstand ausführlicher Berichterstattung und Kommentierung in den Medien. Und noch ein Nachspiel hat dieses Verbrechen: Im Sommer 2011 wird ein Verfahren gegen den Pflegevater von Laëtitia eröffnet, das drei Jahre später mit dessen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Laëtitias Zwillingsschwester Jessica endet.

Nicolas Sarkozy hatte bei seinem Angriff auf die Richter - für Jablonka ein Fall von "Kriminopopulismus" - aus dem Entführer einen Sexualstraftäter gemacht. Das war zwar formal nicht ganz falsch, denn der hatte im Gefängnis einen Mithäftling mit einem Besenstiel vergewaltigt und war so in die entsprechende Polizeikartei gekommen, entsprach aber trotzdem einer gezielten Zurichtung des "Falls". Wie der Staatspräsident hatte auch der eloquente Pflegevater von Laëtitia, der im Elysée-Palast empfangen wurde, in diese Kerbe geschlagen. Und ausgerechnet dieser Mann wurde schließlich des sexuellen Missbrauchs im unzweideutigen Sinn überführt.

Es ist durchaus möglich, dass die Anklage gegen den Pflegevater Jablonka endgültig dazu brachte, sein Buch über Laëtitia zu schreiben. Denn unabhängig davon, ob es in der Nacht der Tat zu einer Vergewaltigung kam oder nicht, zeigte diese, dass die junge Frau ihrer von Gewalt gegen Frauen durchzogenen Familiengeschichte nicht entkommen war: Laëtitia und ihre Zwillingsschwester waren in die Obhut von Pflegeeltern ja wegen eines gewalttätigen Vaters gegeben worden, der für die Vergewaltigung und den bewaffneten Vergewaltigungsversuch ihrer Mutter ins Gefängnis kam und später - die Mutter fand aus psychischen Problemen nicht mehr heraus - das Sorgerecht verlor.

Zerrüttende Familienverhältnisse also, ähnlich auf der Seite des Täters: ein Halbbruder hervorgegangen aus Inzest, Gewalt des Vaters gegen die Mutter, mit zwölf Jahren ins Heim, dann in eine Sondereinrichtung, und von sechzehn Jahren an eine sich beschleunigende Gaunerkarriere - eingeschlossen Gefängnisaufenthalte, welche die kriminelle Außenseiterstellung bloß festigen -, die sich schließlich zu immer gewaltsameren Taten aufschaukelte, so dass im Rückblick ein Ausrasten wie in der Tatnacht nur eine Frage der Zeit schien.

Soziale Zerrüttung als Ausgangspunkt hier wie dort, auf der Seite des späteren Opfers mit der Aussicht, den prekären Verhältnissen schließlich entkommen zu sein, auf der Seite des Täters als Beginn eines geradlinigen Wegs in eine immer entschiedener aggressivere, mit Ganoven- und Außenseiterstolz und nicht ohne Gerissenheit exekutierte Delinquenz. Am Kreuzungspunkt dieser beiden Geschichten: eine zerstückelte Leiche.

Dieses Bild ist nicht falsch, doch immer noch abstrakt, bringt die Geschichten schnell unter bereitstehende Rubriken. Solche Abstraktheit aufzulösen ist gerade die Absicht von Ivan Jablonka. Nicht mit Blick auf beide Geschichten, von Opfer und Täter, sondern vor allem, um eine junge Frau aus ihrer bloßen Rolle als Opfer herauszuholen; aus einer Rolle, die nolens volens eine von Gnaden des Täters und eines aufgewühlten Publikums ist - und in diesem Fall auch von Gnaden eines Staatspräsidenten, der über diesem Opfer eine wohlfeile publikumswirksame Anklage gegen ein strukturell überfordertes und gleichzeitig personell ausgedünntes Justizuns Strafvollzugssystem errichtete. Auch wenn Jablonka den "Fall" ausführlich erzählt, sein Anspruch ist, das früh geendete Leben von Laëtitia Perrais aus den Perspektiven zu lösen, die von ihrem Tod ausgehen und auf ihn zulaufen.

So aufschlussreich deshalb auch vieles ist, was er von seinen Gesprächen mit den Ermittlern, dem Untersuchungsrichter, den berichtenden Journalisten und vielen anderen mit dem "Fall" befassten Leuten festhält und mit Recherchen - etwa zu den Problemen des französischen Strafvollzugswesens - untermauert, der größeren Herausforderung stellt er sich, wenn er um das Vertrauen von Menschen wirbt, die Laëtitia kannten: Zwillingsschwester, Vater, Onkel und Pflegemutter, ihre Fürsorgebetreuerin, Mitschüler und Freunde aus der Berufsschule, ihre Arbeitgeber. Was er erfährt, was die wenigen Quellen ihm an die Hand geben, die Laëtitia hinterließ - von ihren Tweets bis zu den rätselhaften Blättern, auf denen sie ihre kleine Habe verteilte für den Fall ihres Todes, als stünde der bevor -, daraus versucht er Elemente für eine Beschreibung dieses Lebens zu gewinnen.

So beugt sich Jablonka über die Anhaltspunkte einer Lebensgeschichte am prekären gesellschaftlichen Rand und gleichzeitig auch der geographischen Peripherie Frankreichs. Kaum möglich, da mittlerweile nicht an den Hintergrund mancher Berichte über das Frankreich der "Gelbwesten" zu denken. Aber bloß die offensichtlichen sozialen Determiniertheiten anzuprangern, die das Leben Laëtitias in engen Bahnen lenkten, so einfach macht es sich Jablonka nicht. Wie deutlich auch der soziale Hintergrund der familiären Verhältnisse und ihrer schädigenden Folgen für die Zwillingsschwestern ist, so zeigt er ebenso, wie sich die Mitarbeiter der Fürsorgeeinrichtungen und der Sonder- und Förderschulen darum bemühen, dass diese Folgen nicht die Oberhand behalten.

Mit Jablonka lernt die Leserin einiges darüber, wie die Einrichtungen der Republik versuchen, benachteiligte Kinder im Ausbildungssystem zu halten und die fatale soziale Vererbung der familiären Malaisen zu unterbinden. Und im Fall Laëtitias und ihrer Schwester schien das schließlich zu funktionieren. Eine von allen geschätzte junge Frau, die ihre Facharbeiterausbildung im Restaurantwesen absolvierte und darauf stolz war, schien sich freischwimmen zu können.

Wenn sich Jablonka mit der Schwester und Freunden von Laëtitia verabredet, um mehr über diese junge Frau zu erfahren, treffen verschiedene Welten aufeinander. Hier der Pariser Professor, familiär sozialisiert im intellektuellen Milieu, selbst Vater zweier Töchter, eloquent und mit Bildung hoch beladen; dort junge Leute, die nicht viel reden und die spürbare Fremdheit auch nicht überspielen. Es geht bei Jablonka nicht zuletzt um die Schwierigkeit, hier trotzdem gemeinsamen Boden zu finden; und er ist stolz, dass ihm das gelingt.

Zwar schlägt er in diesem Stolz manchmal über die Stränge, wird etwas überschwänglich und formuliert dann lieber dreimal ins Ungefähre statt einmal konzis - wozu man im Übrigen auch den schneidig klingenden zweiten Teil des Titels zählen kann, im Original "la fin des hommes". Doch er hat mit dieser Nachforschung über das kurze, durch Gewalt geendete Leben einer jungen Frau, die bloß das an ihr begangene Verbrechen bekannt gemacht hatte, ein beeindruckendes Buch vorgelegt.

Ivan Jablonka: "Laëtitia oder das Ende der Mannheit".

Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 385 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019

Laëtitias Retter
Der Historiker Ivan Jablonka will einer ermordeten Frau ihre
Geschichte zurückgeben, spricht aber vor allem über sich selbst
THERESA HEIN
Charles Manson, Ted Bundy und Fritz Honka sind Serienmörder, die durch ihre Taten in die Geschichte eingingen und deren Geschichten in Serien oder Romanen in die Popkultur der Gegenwart getragen werden. Ihre meist weiblichen Opfer hingegen sind in den fiktionalen Bearbeitungen der Stoffe kaum ein Thema. Den französischen Historiker Ivan Jablonka trieb angesichts eines Mordfalls, der vor acht Jahren in Frankreich erhebliches Aufsehen errecht hat, die Frage um, wie man das ändern könnte.
In seiner Reportage „Laëtitia oder das Ende der Mannheit“ widmet er sich dem Schicksal der jungen Kellnerin Laëtitia Perrais. Perrais wurde im Januar 2011 im Alter von 18 Jahren in der Nähe ihres Wohnortes Pornic brutal ermordet, es folgte ein enormes Medienspektakel. Die Intention Jablonkas: das Opfer wieder zum Protagonisten des eigenen Lebens (und auch des eigenen Todes) zu machen.
Ivan Jablonka wählt in der Tradition Truman Capotes (den er auch zitiert), die erzählerischen Mittel eines Reporters und verbindet sie mit dem analytischen Handwerk des Historikers. In „Der Widersacher“ hat sein Kollege und Landsmann Emmanuel Carrère bereits im Jahr 2000 ebenfalls die Geschichte eines Mordes in einen Tatsachenroman verwandelt. Anders als Carrère aber macht Jablonka aber bereits auf Seite zwei deutlich, dass sein Buch „nur eine Heldin“ haben soll: die ermordete Laëtitia. Diese Aufgabe ist nicht nur sehr ehrenwert, sondern setzt die 367 Seiten gleich zu Beginn enorm unter Spannung: Kann das ernsthaft gelingen, ohne ins Spekulative, Fiktive abzugleiten?
Jablonka, der akribische Rechercheur, sah sich Videos der Verhöre des Mörders und Aufnahmen des Prozesses an, einigen Prozesstagen wohnte er selbst bei. Er las journalistische und soziologische Fachliteratur, politikwissenschaftliche Werke über Macht und Demokratie außerdem einen Haufen Zeitungsartikel. Und er führte Gespräche: mit der Zwillingsschwester des Mordopfers, mit ihrer Familie und Pflegefamilie, mit Freunden, mit einer Journalistin der Nachrichtenagentur AFP, mit der Anwältin der Zwillingsschwester, den führenden Ermittlern. Und auch mit der Sozialpädagogin des Jugendamtes, die für die Zwillinge zuständig war. Laëtitia und ihre Schwester Jessica hatten keine unbeschwerte Kindheit. Der Vater war Alkoholiker, die Mutter war aufgrund psychischer Probleme nicht fähig, sich um die Kinder zu kümmern und so kamen die Mädchen im Alter von neun Jahren zunächst in ein Kinderheim, später in eine Pflegefamilie.
Den Arbeitsaufwand und seine Recherchemittel macht Jablonka beflissen sichtbar. Er verhehlt auch nicht , dass er sich immer wieder in den Raum der Fiktion begibt. Die Teile der Rekonstruktion, die er nicht belegen kann, leitet er durch Fragen ein, über deren Antwort sich der Leser selbst klar werden muss: „Sind sie (die Zwillinge, Anm. d. Red.) glücklich?“, oder: „Warum interessierten sich Journalisten überhaupt für Laëtitia, warum machten sie eine öffentliche Person aus ihr“?
Die Fragen sind Jablonkas Stilmittel, mit dem er die Uneindeutigkeit der Antworten vorwegnimmt, die er nicht geben kann. Sie überschreiten allerdings häufig die schmale Grenze zwischen dem empathischem Rechercheur und dem Voyeur. Zum Beispiel, wenn es um den Missbrauch des Stiefvaters an Laëtitias Zwillingsschwester geht und Jablonka boulevardesk zu überlegen gibt: „Zufluchtsort Familie oder Sexgefängnis“? (Das Kurzkapitel über den Missbrauch des Stiefvaters ist mit dem missglückten Titel „Ein Verliebter auf Abwegen“ überschrieben).
Die Beschreibungen des Mörders sind allem Vorsatz zum Trotz ausführlich und detailreich: Man erfährt von seinen obszönen Gesängen über Laëtitia, die er in seiner Zelle zum Besten gegeben hat, und die beschreiben, was er mit seinem Opfer vor dessen Tod gemacht hat. Der Autor macht sich außerdem eine Sprache zu eigen, in der die getötete jungen Frau als „Fleischberg“ firmiert, „den man ins Wasser wirft“. Das inhärente Problem der Geschichte, vor dem Jablonka von Beginn an steht ist natürlich dies: Es gibt keinen Mordfall ohne Mörder, da kann man dem Opfer so viel Raum geben, wie man möchte.
Stark ist das Buch dort, wo Ivan Jablonka als Geschichtswissenschaftler auftritt und sich auf die politische und gesellschaftliche Analyse des Falles verlegt. Wenn er die Instrumentalisierung des Falles durch Nicolas Sarkozy beschreibt, der sich den Mord für seine Law-and-Order-Politik zu Nutze macht. Auf jedes Verbrechen habe Sarkozy ein Gesetz folgen lassen, schreibt Jablonka, und auch den Mord an Laëtitia nutzt er für eine Verschärfung des Strafrechts. Diese Passagen sind ein Lehrstück über europäischen Populismus im frühen 21. Jahrhundert. Auch die Aufarbeitung der Vergangenheit von Laëtitias Perrais als Symbolfigur sozial benachteiligter Jugendlicher ist informativ, spannend, lehrreich.
Als Romanautor aber scheitert Jablonka, der einen unbedingten Wahrhaftigkeitsanspruch behauptet, diesen dann aber selbst immer wieder enttäuscht. Immer wieder rückt sich der Autor selbst ins Zentrum der Geschichtenicht nur, wenn es darum geht, die Quellen sichtbar zu machen, sondern auch in Formulierungen wie: „Möge mein Buch ihr (Laëtitias, Anm. d. Red.) Leuchten sein“. Im vorletzten Kapitel wird Jablonka von einer plötzlichen Einsicht gepackt: Am Ende seien „es immer Männer, die machen, was sie wollen. Zum ersten Mal schäme ich mich für mein Geschlecht.“ Mit diesem Eindruck entlässt Jablonka, der erzählende Retter, der sich in den Staub wirft, den Leser. Von der eigentlichen Heldin des Buches, der ermordeten Laëtitia Perrais, ist da schon nicht mehr die Rede. Man fragt sich an dieser Stelle, was eigentlich aus dem unspekulativen Reportagebuch geworden ist, das der Autor eingangs angekündigt hatte. Spannend genug wäre der Gegenstand, das zeigen die Kapitel über die französische Politik und den Sozialapparat Frankreichs, jedenfalls gewesen.
Ivan Jablonka: Laëtitia oder das Ende der Mannheit. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019.
348 Seiten, 28 Euro.
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