»Wir werden die sein, die sich wundern«: Kathrin Rögglas Roman zum NSU-Prozess
»Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen.
Der Roman »Laufendes Verfahren« war für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
»Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen.
Der Roman »Laufendes Verfahren« war für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.08.2023Kratzt uns nicht
Kathrin Rögglas misslungener
Roman über den NSU-Prozess
Die österreichische Dramatikerin Kathrin Röggla, mit etlichen Preisen für ihre oft scharf zeitdiagnostischen, oft medienkritischen Betrachtungen ausgezeichnet, hat ihren neuen Roman aus der Ich-Perspektive geschrieben. Aber interessanterweise, ein bisschen aufgeblasen, im Pluralis Majestatis. „Laufendes Verfahren“ beginnt mit einer langen Beschreibung des Saals, in dem von 2013 bis 2017 vor dem Münchner Oberlandesgericht gegen die Naziterrorbande NSU prozessiert wird. Das Anstehen vor dem Saal, die Architektur, die Empore, die uniformierten Beamten, das jahrelange Ritual auf der Zuschauertribüne, wo man nebeneinander Platz nimmt und sich mit der Zeit ein bisschen kennenlernt. „Wir nicken mit dem Kopf“, so schreibt Röggla also in der Wir-Form, nachdem ein Sitznachbar ihr einmal etwas erklärt. „Wir werden einen Moment nicht aufgepasst haben, waren abgelenkt“, und so weiter.
Den Menschen, die dort mit ihr zu Dauergästen werden, verpasst sie Spitznamen. Gerichtsopa, O-Ton-Jurist, Bloggerklaus, Omagegenrechts. Eine türkischstämmige Frau nennt sie insgeheim Vornamenyildiz, „als hätten wir schon eine Nachnamenyildiz im Kopf, die man irgendwann verabschieden kann“. Hehe! „‚Pssst‘, sagt der Bloggerklaus, ‚es geht weiter.‘ – ‚Ja, pssst‘, kommentiert der Gerichtsopa, ‚der Richter ist da.‘ – ‚Pssst‘, wiederholt die Vornamenyildiz, ‚ich kann nichts verstehen.‘“ So klingt das, wenn Röggla diese Figuren agieren lässt. Es bleiben Comicfiguren, die an keiner Stelle etwas zu sagen haben, was Röggla klug finden würde. Mehrmals schreibt sie kleine Szenen, in denen sie natürlich mehr sprachliche Kunst entfaltet als Bloggerklaus oder Vornamenyildiz zusammen und sich insgeheim wünscht, diese mögen mal die Klappe halten. Einmal wendet sie sich der „Frau von der türkischen Botschaft“ zu, das ist noch so ein Spitzname, die Frau ist eine fleißige Prozessbeobachterin und kritisch gegenüber der deutschen Gesellschaft. Misstrauisch fragt die Ich-Erzählerin: „Sie sehe aber nicht wie eine Türkin aus, sagen wir ihr, wie sie insofern von Alltagsrassismus sprechen könne?“ So steht es da.
Was uns hier gegenübertritt, das ist – 200 Seiten lang fast unverändert – eine larmoyante, streckenweise geradezu spöttische NSU-Prozess-Beobachterin, die an kaum einer Stelle echtes Interesse am Gegenstand ihrer Betrachtung, den Menschen hier im Saal, vermittelt. Die NSU-Morde: werden beiläufig gestreift. Die NSU-Täter: sind kaum literarischer Erwähnung wert, dieses Wissen muss die Leserschaft bitte schon mitbringen. Die Trauer der Angehörigen der Mordopfer: geht irgendwie unter im locker-komischen Sound, es kommt da auch niemand so richtig zu Wort. Das skandalöse Versagen der Sicherheitsbehörden, die den Rechtsterror nährten und protegierten: wird zumindest ein paar Mal thematisch reingetupft.
Warum sitzt diese Ich-Erzählerin auf der Tribüne? Wozu dieses Buch? Hat der Verlag vielleicht recht, wenn er vorschlägt, dieses literarische „Wir“, das Röggla verwendet, als ein „Wir Zeitgenossen“ zu verstehen, als eine Art Andeutung einer höheren Erzählebene? Wir desinteressierten Deutschen? Wir saturierten Bescheidwisser, die sich super mit Alltagsrassismus und ostdeutschen Biografien auszukennen meinen? Im Klappentext heißt es: „Kathrin Röggla entscheidet sich gegen die Vergangenheitsform eines abgeschlossenen Falls, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines ‚Wir‘ ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt, um davon zu berichten. Wer aber sind ‚wir‘ eigentlich, wenn jedes ‚wir‘ durch den Prozess in Frage gestellt wird?“ Aber, Spoiler: Da kommt nichts mehr. Keine höhere Ebene, keine Brechung oder Selbstentlarvung, der Erzählstrom wird an keiner Stelle mal langsamer, mitfühlender, ernster. Röggla lässt leider auch nicht zu, dass Figuren wie die Omagegenrechts oder der O-Ton-Jurist dem „Wir“ Kontra geben und eigene Gedanken ins Spiel bringen könnten – weil sie eben, wie gesagt, nur als lächerliche Figuren gezeichnet sind, die keine andere Wirkung entfalten, als die Ich-Erzählerin smart wirken zu lassen. Es ist wirklich nur ein Pluralis Majestatis.
Ist die Wirklichkeit so langweilig, dass man sie, anstatt sie literarisch zu entblößen, mit Klischees ersetzen muss? Ganz gegen Ende des Buches ermöglicht die Autorin doch noch einmal einen etwas längeren Blick hinunter von der Zuschauertribüne, da geht es gerade wild hin und her zwischen Anwälten. Auf der einen Seite die NSU-Strafverteidiger. Auf der anderen Seite Opferanwälte. „Einspruch!“, ruft ein Opferanwalt. Der Verteidiger fährt fort. Und noch mal: „Einspruch!“ Acht Mal insgesamt. „Stattgegeben“, sagt der Richter schließlich. Das gibt es zwar nicht in deutschen Gerichtssälen. Aber in amerikanischen Gerichtsserien. Und in diesem Roman.
RONEN STEINKE
Die Morde, die Täter?
Werden nur beiläufig gestreift
Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren. Roman.
S.-Fischer-Verlag, Berlin 2023. 208 Seiten,
24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kathrin Rögglas misslungener
Roman über den NSU-Prozess
Die österreichische Dramatikerin Kathrin Röggla, mit etlichen Preisen für ihre oft scharf zeitdiagnostischen, oft medienkritischen Betrachtungen ausgezeichnet, hat ihren neuen Roman aus der Ich-Perspektive geschrieben. Aber interessanterweise, ein bisschen aufgeblasen, im Pluralis Majestatis. „Laufendes Verfahren“ beginnt mit einer langen Beschreibung des Saals, in dem von 2013 bis 2017 vor dem Münchner Oberlandesgericht gegen die Naziterrorbande NSU prozessiert wird. Das Anstehen vor dem Saal, die Architektur, die Empore, die uniformierten Beamten, das jahrelange Ritual auf der Zuschauertribüne, wo man nebeneinander Platz nimmt und sich mit der Zeit ein bisschen kennenlernt. „Wir nicken mit dem Kopf“, so schreibt Röggla also in der Wir-Form, nachdem ein Sitznachbar ihr einmal etwas erklärt. „Wir werden einen Moment nicht aufgepasst haben, waren abgelenkt“, und so weiter.
Den Menschen, die dort mit ihr zu Dauergästen werden, verpasst sie Spitznamen. Gerichtsopa, O-Ton-Jurist, Bloggerklaus, Omagegenrechts. Eine türkischstämmige Frau nennt sie insgeheim Vornamenyildiz, „als hätten wir schon eine Nachnamenyildiz im Kopf, die man irgendwann verabschieden kann“. Hehe! „‚Pssst‘, sagt der Bloggerklaus, ‚es geht weiter.‘ – ‚Ja, pssst‘, kommentiert der Gerichtsopa, ‚der Richter ist da.‘ – ‚Pssst‘, wiederholt die Vornamenyildiz, ‚ich kann nichts verstehen.‘“ So klingt das, wenn Röggla diese Figuren agieren lässt. Es bleiben Comicfiguren, die an keiner Stelle etwas zu sagen haben, was Röggla klug finden würde. Mehrmals schreibt sie kleine Szenen, in denen sie natürlich mehr sprachliche Kunst entfaltet als Bloggerklaus oder Vornamenyildiz zusammen und sich insgeheim wünscht, diese mögen mal die Klappe halten. Einmal wendet sie sich der „Frau von der türkischen Botschaft“ zu, das ist noch so ein Spitzname, die Frau ist eine fleißige Prozessbeobachterin und kritisch gegenüber der deutschen Gesellschaft. Misstrauisch fragt die Ich-Erzählerin: „Sie sehe aber nicht wie eine Türkin aus, sagen wir ihr, wie sie insofern von Alltagsrassismus sprechen könne?“ So steht es da.
Was uns hier gegenübertritt, das ist – 200 Seiten lang fast unverändert – eine larmoyante, streckenweise geradezu spöttische NSU-Prozess-Beobachterin, die an kaum einer Stelle echtes Interesse am Gegenstand ihrer Betrachtung, den Menschen hier im Saal, vermittelt. Die NSU-Morde: werden beiläufig gestreift. Die NSU-Täter: sind kaum literarischer Erwähnung wert, dieses Wissen muss die Leserschaft bitte schon mitbringen. Die Trauer der Angehörigen der Mordopfer: geht irgendwie unter im locker-komischen Sound, es kommt da auch niemand so richtig zu Wort. Das skandalöse Versagen der Sicherheitsbehörden, die den Rechtsterror nährten und protegierten: wird zumindest ein paar Mal thematisch reingetupft.
Warum sitzt diese Ich-Erzählerin auf der Tribüne? Wozu dieses Buch? Hat der Verlag vielleicht recht, wenn er vorschlägt, dieses literarische „Wir“, das Röggla verwendet, als ein „Wir Zeitgenossen“ zu verstehen, als eine Art Andeutung einer höheren Erzählebene? Wir desinteressierten Deutschen? Wir saturierten Bescheidwisser, die sich super mit Alltagsrassismus und ostdeutschen Biografien auszukennen meinen? Im Klappentext heißt es: „Kathrin Röggla entscheidet sich gegen die Vergangenheitsform eines abgeschlossenen Falls, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines ‚Wir‘ ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt, um davon zu berichten. Wer aber sind ‚wir‘ eigentlich, wenn jedes ‚wir‘ durch den Prozess in Frage gestellt wird?“ Aber, Spoiler: Da kommt nichts mehr. Keine höhere Ebene, keine Brechung oder Selbstentlarvung, der Erzählstrom wird an keiner Stelle mal langsamer, mitfühlender, ernster. Röggla lässt leider auch nicht zu, dass Figuren wie die Omagegenrechts oder der O-Ton-Jurist dem „Wir“ Kontra geben und eigene Gedanken ins Spiel bringen könnten – weil sie eben, wie gesagt, nur als lächerliche Figuren gezeichnet sind, die keine andere Wirkung entfalten, als die Ich-Erzählerin smart wirken zu lassen. Es ist wirklich nur ein Pluralis Majestatis.
Ist die Wirklichkeit so langweilig, dass man sie, anstatt sie literarisch zu entblößen, mit Klischees ersetzen muss? Ganz gegen Ende des Buches ermöglicht die Autorin doch noch einmal einen etwas längeren Blick hinunter von der Zuschauertribüne, da geht es gerade wild hin und her zwischen Anwälten. Auf der einen Seite die NSU-Strafverteidiger. Auf der anderen Seite Opferanwälte. „Einspruch!“, ruft ein Opferanwalt. Der Verteidiger fährt fort. Und noch mal: „Einspruch!“ Acht Mal insgesamt. „Stattgegeben“, sagt der Richter schließlich. Das gibt es zwar nicht in deutschen Gerichtssälen. Aber in amerikanischen Gerichtsserien. Und in diesem Roman.
RONEN STEINKE
Die Morde, die Täter?
Werden nur beiläufig gestreift
Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren. Roman.
S.-Fischer-Verlag, Berlin 2023. 208 Seiten,
24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
In Kathrin Rögglas Roman über den NSU-Prozess sieht Rezensent Julian Weber das Dokumentarische im Vordergrund. Die skandalösen Hintergründe des Prozesses kann Röggla kaum aufarbeiten, bemerkt Weber, für vieles sind die Beweise verschwunden. Sie konzentriert sich auf die Schilderung des Prozesses: Die Figuren sind "eine kritische Masse", ein "Wir", das von der Zuschauertribüne über den Prozess diskutiert, erklärt der Kritiker. Dieses, so Weber, wird zur wichtigen Instanz, vor allem um das Ungesagte, zum Beispiel das Schweigen der Hauptangeklagten zu besprechen, was Weber für einen gekonnten Kniff hält. Beobachtungen, die im Buch zunächst banal erscheinen, wie ein mit Pflaster verklebtes Hakenkreuz-Tattoo, erweisen sich später als "penibel, peinsam, oft auch unheimlich zu lesen", staunt er. Das hier ist kein "Gerichtsdrama", sondern dekliniert juristische Formalitäten durch: Keine leichte Lektüre, meint der Kritiker, und das ist auch gut so.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2023Das Gericht ist kein Ort der Trauer
Kathrin Rögglas Roman "Laufendes Verfahren" spielt beim NSU-Prozess auf der Zuschauerbank - als ein Sittenbild von Gesellschaft und Justiz.
Was ist das für ein Roman, in dem die handelnden Personen Namen tragen wie Grundsatzyildiz, Gerichtsopa, Bloggerklaus oder Omagegenrechts? Einer, der typisiert. Aber auch einer, der ansonsten keine Namen nennt, obwohl er zur Handlungsgrundlage eines der spektakulärsten (und deshalb bekanntesten) deutschen Gerichtsverfahren hat: den NSU-Prozess, der in München vom Mai 2013 bis zum Juli 2018 mit 438 Verhandlungstagen stattfand und in In- und Ausland ein gewaltiges Medienecho fand. Zu Recht, waren von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU doch in den Jahren von 2000 bis 2007 zahlreiche Anschläge begangen worden, bei denen zehn Menschen ermordet wurden. Auf die Spur kamen die Ermittler den drei Haupttätern erst, als diese 2011 ihre Unterkünfte abbrannten, wobei zwei starben. Die überlebende dritte Täterin und ihr Unterstützerumfeld waren in München angeklagt. Und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit stand dort auch das Versagen der Ermittler vor Gericht.
Ein ernstes Thema, eines, das die Republik (zumindest deren rechtsstaatsgläubigen Teil) in ihren Grundfesten erschüttert hat. Und darüber ein Roman mit Figuren, deren Bezeichnungen man als frivol ansehen könnte? Kathrin Rögglas gerade erschienenes "Laufendes Verfahren" ist indes alles andere als das. Die 1971 geborene österreichische, für fast drei Jahrzehnte in Berlin und heute in Köln lebende Schriftstellerin ist - was man dem Abstand ihrer Publikationen ablesen kann - eine höchst skrupulöse Autorin. Ihr letzter Prosaband, "Nachtsendung", liegt sieben Jahre zurück. Kein Wunder, denn damals und in der Zwischenzeit saß sie selbst immer wieder dort, wo ihr neuer Roman nun spielt: im Zuschauerraum des Sitzungssaals 101 des Oberlandesgerichts München.
München - das ist phonetisch ganz nahe an Münchhausen, aber dazwischen liegen Welten. Münchhausen, so ist ganz am Ende des Romans zu lesen, steht fürs Geschichtenerzählen: "Wo die Welt als eine Ansammlung an skurrilen Ereignissen und Begebenheiten erscheint, wo einem Dinge einfach zufällig zustoßen und nicht etwa geplant und eingerichtet. Ein herrlicher Ort." Das Gegenteil dessen, was der NSU-Gerichtssaal darstellt.
In ihn treten wir (und das ist Rögglas Erzählperspektive: "wir", aber nicht als Pluralis Majestatis, sondern als Verkörperung des Kollektivs der Prozessbeobachter) mitten im laufenden Verfahren, und Stellen wie der folgenden liest man die Vertrautheit Rögglas mit dem Besuch der Verhandlungen ab: "Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich recht verabschiedet zu haben, und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht, auf was wir uns da einlassen. Keiner im Saal weiß das so genau, in diesem Sitzungssaal, in dem sich so vieles wiederholen wird." Das Wiederholungsprinzip ist auch eines der Stilmittel im Roman "Laufendes Verfahren".
Er ist jedoch nicht redundant, es passiert immens viel - es steht ja das ganze Land vor den Schranken des Gerichts, mitangeklagt und/oder als Beobachter. Und die im Roman namenlosen Akteure des Prozesses ("die Person mit den Haaren", "Tätervater", "Vorsitzender") treten wortlos auf, denn alles, was gesprochen wird, ist gefiltert durch die Wahrnehmung der Zuschauer. Röggla war schon immer eine genaue Analytikerin der medial vermittelten Gesellschaftsordnung, nicht umsonst gewann sie 2020 mit ihrem Essay "Bauernkriegspanorama", in dem sie über die seit Ende der Achtzigerjahre (ihrem eigenen Einstieg in die intellektuelle Welt) gewandelten Sprecherpositionen nachdenkt, den hoch dotierten Wortmeldungen-Preis. Für "Laufendes Verfahren" ist ihr schon vor Erscheinen des Romans der diesjährige Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln zugesprochen worden, der dezidiert einem politischen Verständnis von Literatur gilt.
Wer nun befürchtete, dass es abstrakt und thetisch zugeht in Rögglas Buch, der täuschte sich. So bedeuten die charakterisierenden Namen der Personen auf der Zuschauertribüne keine Anonymisierung dieser Figuren, sondern eine Konkretisierung: Bereinigt um ihre bürgerlichen Namen, treten sie aus dem Kontext des staatlich verfassten Justizsystems heraus und gehen ganz in ihrer Rolle als Repräsentanten auf, die deshalb auch typisiert sprechen können. Im Laufe des zweihundertseitigen Geschehens - auch das eine Kunst: fünf Jahre auf diesen Prosaumfang zu verdichten - lernen wir sie mit ihren Marotten und Manierismen lieben, sie werden Vertraute selbst dann, wenn uns ihre Einstellungen zum Prozess nicht sympathisch sein sollten - und so viel sei gesagt: An irgendeinem aus Rögglas Personal wird sich jeder Leser reiben. Doch alle tragen Mosaiksteinchen zum Romangeschehen bei, das eine Beobachterin allein nicht würde erzählen können: "Wir werden uns ablenken lassen. Wir werden plötzlich an den Kyffhäuserkreis denken und an Nordthüringen, aber Baden-Württemberg nicht auf dem Kieker gehabt haben, wir werden beim Baden-Württembergischen Untersuchungsausschuss nicht anwesend gewesen sein und auch nicht beim Thüringischen; 'schon wieder habt ihr nicht aufgepasst', informiert uns der Bloggerklaus, 'schon wieder wisst ihr nicht, was los ist'." Das Beharren auf ihren jeweils subjektiv wahren Blicken ist ein wiederkehrendes Motiv der typisierten Prozessbesucher. Bisweilen ist das sogar komisch. Wie wohl jeder Blick ins Intimleben, auch in das eines Prozesses.
Warum auch nicht? Denn das, was so viele Beobachter, Kommentatoren und vor allem Angehörige der Opfer sich vorgestellt haben: dass Trauerarbeit geleistet werde, das widerspricht dem Charakter der Institution Recht. "Wie bekommt man sie ins Gericht hinein, die Trauer, beginnen wir uns zu fragen. Das Gericht ist kein Ort dafür, es gibt hier keine Gesten, die diesbezüglich zuzuordnen sind, und wenn sie doch kommen, werden sie vom Richter schnell unterbrochen, ja, abgebrochen." Kathrin Röggla hat den Rechtsstaat und dessen Grenzen nicht auf den Begriff, aber auf einen Roman gebracht. ANDREAS PLATTHAUS
Kathrin Röggla:
"Laufendes Verfahren". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kathrin Rögglas Roman "Laufendes Verfahren" spielt beim NSU-Prozess auf der Zuschauerbank - als ein Sittenbild von Gesellschaft und Justiz.
Was ist das für ein Roman, in dem die handelnden Personen Namen tragen wie Grundsatzyildiz, Gerichtsopa, Bloggerklaus oder Omagegenrechts? Einer, der typisiert. Aber auch einer, der ansonsten keine Namen nennt, obwohl er zur Handlungsgrundlage eines der spektakulärsten (und deshalb bekanntesten) deutschen Gerichtsverfahren hat: den NSU-Prozess, der in München vom Mai 2013 bis zum Juli 2018 mit 438 Verhandlungstagen stattfand und in In- und Ausland ein gewaltiges Medienecho fand. Zu Recht, waren von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU doch in den Jahren von 2000 bis 2007 zahlreiche Anschläge begangen worden, bei denen zehn Menschen ermordet wurden. Auf die Spur kamen die Ermittler den drei Haupttätern erst, als diese 2011 ihre Unterkünfte abbrannten, wobei zwei starben. Die überlebende dritte Täterin und ihr Unterstützerumfeld waren in München angeklagt. Und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit stand dort auch das Versagen der Ermittler vor Gericht.
Ein ernstes Thema, eines, das die Republik (zumindest deren rechtsstaatsgläubigen Teil) in ihren Grundfesten erschüttert hat. Und darüber ein Roman mit Figuren, deren Bezeichnungen man als frivol ansehen könnte? Kathrin Rögglas gerade erschienenes "Laufendes Verfahren" ist indes alles andere als das. Die 1971 geborene österreichische, für fast drei Jahrzehnte in Berlin und heute in Köln lebende Schriftstellerin ist - was man dem Abstand ihrer Publikationen ablesen kann - eine höchst skrupulöse Autorin. Ihr letzter Prosaband, "Nachtsendung", liegt sieben Jahre zurück. Kein Wunder, denn damals und in der Zwischenzeit saß sie selbst immer wieder dort, wo ihr neuer Roman nun spielt: im Zuschauerraum des Sitzungssaals 101 des Oberlandesgerichts München.
München - das ist phonetisch ganz nahe an Münchhausen, aber dazwischen liegen Welten. Münchhausen, so ist ganz am Ende des Romans zu lesen, steht fürs Geschichtenerzählen: "Wo die Welt als eine Ansammlung an skurrilen Ereignissen und Begebenheiten erscheint, wo einem Dinge einfach zufällig zustoßen und nicht etwa geplant und eingerichtet. Ein herrlicher Ort." Das Gegenteil dessen, was der NSU-Gerichtssaal darstellt.
In ihn treten wir (und das ist Rögglas Erzählperspektive: "wir", aber nicht als Pluralis Majestatis, sondern als Verkörperung des Kollektivs der Prozessbeobachter) mitten im laufenden Verfahren, und Stellen wie der folgenden liest man die Vertrautheit Rögglas mit dem Besuch der Verhandlungen ab: "Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich recht verabschiedet zu haben, und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht, auf was wir uns da einlassen. Keiner im Saal weiß das so genau, in diesem Sitzungssaal, in dem sich so vieles wiederholen wird." Das Wiederholungsprinzip ist auch eines der Stilmittel im Roman "Laufendes Verfahren".
Er ist jedoch nicht redundant, es passiert immens viel - es steht ja das ganze Land vor den Schranken des Gerichts, mitangeklagt und/oder als Beobachter. Und die im Roman namenlosen Akteure des Prozesses ("die Person mit den Haaren", "Tätervater", "Vorsitzender") treten wortlos auf, denn alles, was gesprochen wird, ist gefiltert durch die Wahrnehmung der Zuschauer. Röggla war schon immer eine genaue Analytikerin der medial vermittelten Gesellschaftsordnung, nicht umsonst gewann sie 2020 mit ihrem Essay "Bauernkriegspanorama", in dem sie über die seit Ende der Achtzigerjahre (ihrem eigenen Einstieg in die intellektuelle Welt) gewandelten Sprecherpositionen nachdenkt, den hoch dotierten Wortmeldungen-Preis. Für "Laufendes Verfahren" ist ihr schon vor Erscheinen des Romans der diesjährige Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln zugesprochen worden, der dezidiert einem politischen Verständnis von Literatur gilt.
Wer nun befürchtete, dass es abstrakt und thetisch zugeht in Rögglas Buch, der täuschte sich. So bedeuten die charakterisierenden Namen der Personen auf der Zuschauertribüne keine Anonymisierung dieser Figuren, sondern eine Konkretisierung: Bereinigt um ihre bürgerlichen Namen, treten sie aus dem Kontext des staatlich verfassten Justizsystems heraus und gehen ganz in ihrer Rolle als Repräsentanten auf, die deshalb auch typisiert sprechen können. Im Laufe des zweihundertseitigen Geschehens - auch das eine Kunst: fünf Jahre auf diesen Prosaumfang zu verdichten - lernen wir sie mit ihren Marotten und Manierismen lieben, sie werden Vertraute selbst dann, wenn uns ihre Einstellungen zum Prozess nicht sympathisch sein sollten - und so viel sei gesagt: An irgendeinem aus Rögglas Personal wird sich jeder Leser reiben. Doch alle tragen Mosaiksteinchen zum Romangeschehen bei, das eine Beobachterin allein nicht würde erzählen können: "Wir werden uns ablenken lassen. Wir werden plötzlich an den Kyffhäuserkreis denken und an Nordthüringen, aber Baden-Württemberg nicht auf dem Kieker gehabt haben, wir werden beim Baden-Württembergischen Untersuchungsausschuss nicht anwesend gewesen sein und auch nicht beim Thüringischen; 'schon wieder habt ihr nicht aufgepasst', informiert uns der Bloggerklaus, 'schon wieder wisst ihr nicht, was los ist'." Das Beharren auf ihren jeweils subjektiv wahren Blicken ist ein wiederkehrendes Motiv der typisierten Prozessbesucher. Bisweilen ist das sogar komisch. Wie wohl jeder Blick ins Intimleben, auch in das eines Prozesses.
Warum auch nicht? Denn das, was so viele Beobachter, Kommentatoren und vor allem Angehörige der Opfer sich vorgestellt haben: dass Trauerarbeit geleistet werde, das widerspricht dem Charakter der Institution Recht. "Wie bekommt man sie ins Gericht hinein, die Trauer, beginnen wir uns zu fragen. Das Gericht ist kein Ort dafür, es gibt hier keine Gesten, die diesbezüglich zuzuordnen sind, und wenn sie doch kommen, werden sie vom Richter schnell unterbrochen, ja, abgebrochen." Kathrin Röggla hat den Rechtsstaat und dessen Grenzen nicht auf den Begriff, aber auf einen Roman gebracht. ANDREAS PLATTHAUS
Kathrin Röggla:
"Laufendes Verfahren". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
literarisch bewundernswert [...] Rögglas Roman wird bleiben. Gießener Allgemeine 20231111
In Kathrin Rögglas Roman über den NSU-Prozess sieht Rezensent Julian Weber das Dokumentarische im Vordergrund. Die skandalösen Hintergründe des Prozesses kann Röggla kaum aufarbeiten, bemerkt Weber, für vieles sind die Beweise verschwunden. Sie konzentriert sich auf die Schilderung des Prozesses: Die Figuren sind "eine kritische Masse", ein "Wir", das von der Zuschauertribüne über den Prozess diskutiert, erklärt der Kritiker. Dieses, so Weber, wird zur wichtigen Instanz, vor allem um das Ungesagte, zum Beispiel das Schweigen der Hauptangeklagten zu besprechen, was Weber für einen gekonnten Kniff hält. Beobachtungen, die im Buch zunächst banal erscheinen, wie ein mit Pflaster verklebtes Hakenkreuz-Tattoo, erweisen sich später als "penibel, peinsam, oft auch unheimlich zu lesen", staunt er. Das hier ist kein "Gerichtsdrama", sondern dekliniert juristische Formalitäten durch: Keine leichte Lektüre, meint der Kritiker, und das ist auch gut so.
© Perlentaucher Medien GmbH
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