Wie lassen sich fünf Jahrhunderte Frauengeschichte erzählen? Die Autorin Caroline Arni beginnt bei ihrer Grossmutter. Darauf folgen elf poetische Porträts von bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten von der Reformation bis ins 20. Jahrhundert. So individuell und singulär die Lebensläufe der hier porträtierten Frauen sein mögen, zusammen geben sie Einsicht in die Weltgeschichte. Nicht alle erfuhren dasselbe Unrecht, kämpften für oder gegen dieselben Ideen, aber jede hatte ihre eigenen Träume. Die Historikerin lenkt den Blick auf die Frage, wie in Biografien einzelner Frauen Allgemeines sichtbar wird: die Geschichte der Arbeit, die Geschichte der Kunst, die Geschichte der Demokratie, die Geschichte der Sklaverei oder die Geschichte der Ideen. Wenn Arni von diesen Frauen erzählt, wird ein Stück Schweizer Geschichte fassbar. Die Künstlerin Karoline Schreiber nähert sich den Frauen mit ihren Illustrationen. Die Skizzenhaftigkeit ihrer Bilder lässt erahnen, dass die Spuren, die ein Leben in den Archiven und Geschichtsbüchern hinterlässt, unterschiedlich deutlich sind - besonders die von Frauen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Aurelie von Blazekovic schwärmt von Caroline Arnis Buch, das anhand von zwölf ausgewählten Frauenschicksalen fünf Jahrhunderte schweizer (Frauen-)Geschichte erzählt. Von ihrer eigenen Großmutter über bekannte Frauen wie Meret Oppenheim bis hin zu unbekannteren wie der Äbtissin Katharina von Zimmern, die im Zürich des 15. Jahrhunderts während der Reformation für Frieden sorgte, werfe die Historikerin bemerkenswert "poetisch und leichtfüßig" Fragen nach Recht und Unrecht auf, und danach, was diese Lebensrealitäten noch mit der heutigen Zeit zu tun haben, lobt von Blazekovic. Dass Frauengeschichte nicht nur Ergänzung, sondern Weltgeschichte ist und ans "Große und Ganze" rührt, geht für die Kritikerin aus Arnis Darstellung hervor. Außerdem gefällt ihr, dass die Autorin im Nachwort offenlege, zwar nichts erfunden, aber ihre "historische Einbildungskraft" walten gelassen zu haben - ohne diese seien solche "berührenden" Geschichten auch gar nicht denkbar, bekräftigt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2021Skizzenhafte Spuren
Frauengeschichte ist Weltgeschichte: Caroline Arnis poetisches Buch „Lauter Frauen“
Als die letzte Hexe der Schweiz zum Tod verurteilt wurde, gab es den Straftatbestand der Hexerei schon lange nicht mehr. Im Prozess wurde der Begriff „Hexe“ deshalb vermieden, verurteilt wurde die Dienstmagd Anna Göldi als Giftmörderin. Eine Giftmörderin allerdings, die einem Kind in ihrer Obhut Stecknadeln, Nägel und Eisendrähte in seine Milch gezaubert haben soll, im Auftrag des Teufels selbstverständlich. Im Juni 1782 wird Anna Göldi im Kanton Glarus also hingerichtet mit dem Schwert, und „es dauert nicht lang, da spottet man in halb Europa über die Glarner, von denen nun gesagt wird, sie würden noch an Hexen glauben“.
Die Historikerin Caroline Arni, Professorin an der Universität Basel, hat eines der zwölf Porträts im Buch „Lauter Frauen“ Anna Göldi gewidmet, der Frau aus dem 18. Jahrhundert, die auf der Suche nach einem Auskommen von Haus zu Haus zog, die in die Zankereien mehrerer Herrschaftsfamilien geriet, und die spätestens als sie wohl von mehr als einem Dienstherren schwanger wurde, der Gunst der Herren entfiel und von ihnen beseitigt werden sollte. Caroline Arni stellt hier die Frage, die man auf genügend Situationen jenseits des 18. Jahrhunderts übertragen könnte: „Was bedeutet es, dass man Anna Göldi nicht als Hexe verurteilte, aber mit ihr verfuhr, als ob sie eine hätte sein können?“
Die Geschichte der Anna Göldi ist eine Geschichte des Unrechts, eine, in der Ressentiments und üble Nachrede ausreichten, um ein Leben zu beenden, das vor dem Gesetz eigentlich doch geschützt gewesen wäre. Über zwei Jahrhunderte nach ihrer Hinrichtung wurde sie rehabilitiert. Seit 2008, also genau nach 226 Jahren, gilt der Fall in der Schweiz nun offiziell als Justizmord. Der Historikerin Arni geht es in ihren Erzählungen aber nicht nur um das Unrecht. Im Gegenteil. Sie schreibt über ihr Buch und damit über die Leben der von ihr porträtierten Frauen: „Nicht immer sehen Freiheit und Unfreiheit so aus, wie wir sie heute auffassen. Und manchmal geht es um anderes.“
Arni erzählt in ihren Porträts nicht weniger als fünf Jahrhunderte Frauengeschichte, und das so außergewöhnlich poetisch und leichtfüßig, wie es nur selten gelingt. Sie beginnt mit ihrer eigenen Großmutter, die eine symbolträchtige Porzellanmaske in ihrem Haus hängen hatte und erzählt von elf weiteren, überwiegend unbekannten Frauen. Zu den bekannten gehört die Surrealistin Meret Oppenheim, die mit ihrer Pelztasse berühmt wurde, der aber irgendwann auffiel, wie sie von Journalisten immerzu nach möglichen Beziehungen und Verbindungen zu großen Männern befragt wurde. „Niemand fragt mich“, schrieb sie, „nach meinen Beziehungen zur rohen Umbra, zur gebrannten Umbra, zum Ultramarinblau etc.“
Die Geschichten von Caroline Arni berühren das große Ganze, handeln von Arbeit, Revolution und Liebe. Manchmal findet alles zusammen, wie im Lebenslauf von Katharina von Zimmern, geboren 1478. Sie war die letzte Äbtissin eines Nonnenklosters in Zürich, das von der Reformation leer gefegt wurde. Zürich plante die Auflösung der Klöster und der Frieden der Stadt hing gewissermaßen von der Äbtissin ab. Sie entschloss sich zu gehen, räumte ihren Platz und damit auch ihren politischen Einfluss als Stadtherrin von Zürich. Ein Verlust, ein Rückschritt für die Sache der Frau? Nein, so die Erzählung Arnis über sie. Katharina von Zimmern stiftet Frieden, handelt sich von der Stadt einen Lebensunterhalt aus, heiratet und bekommt mit über 47 Jahren zwei Kinder. „Ein Esel und ein Tor, wer die Frauen verleumdet, wo doch keiner weiss, was seine Mutter getan hat“, stand als Deckeninschrift in ihrer Abtei.
Frauen der Geschichte müssen keine Heldinnen gewesen sein, um einen Platz in unserer Erinnerung zu bekommen. Es reicht, wenn sie einen Einblick gewähren in ihre Zeit, und damit, wenn es so klug erzählt wird wie von Caroline Arni, eben auch in unsere Zeit. Darüber also, was sich ändert, und was so universell ist, dass es die Zeiten überdauert.
Frauengeschichte, ist Arni wichtig zu betonen, ist nicht einfach die Geschichte von Frauen, sie ist Weltgeschichte. Sie vervollständigt auch nicht, sondern ist ein Beobachtungsposten der ganzen Geschichte. Die Spuren, die Frauen in Archiven und Geschichtsbüchern hinterlassen, sind im Vergleich zu den der Männer oft skizzenhaft. Mal nur angedeutet, mal deutlicher sind deshalb auch die Zeichnungen von Karoline Schreiber, die die Porträts begleiten. Dass sich die Biografien aller Frauen wenigstens teilweise in der Schweiz abspielen, sei eine beliebige Klammer für ihre Erzählungen und habe keine tiefere Bedeutung, offenbart die Autorin im Nachwort. Ebenso, dass nichts im Buch erfunden ist, sie sich für ihre Porträts aber der historischen Einbildungskraft bedient hat, und sich als Autorin auch nicht in den Erzählungen verberge. Um zu fragen, warum diese Frauen lebten, wie sie lebten und was sie uns noch sagen können. Ohne Arnis historische Einbildungskraft wäre ein so schönes Buch, so berührende Geschichten über die Jahrhunderte auch gar nicht denkbar.
AURELIE VON BLAZEKOVIC
Anna Göldi wurde 2008 von der
schweizer Justiz rehabilitiert,
226 Jahre nach der Hinrichtung
Caroline Arni:
Lauter Frauen.
Zwölf historische
Porträts.
Mit Zeichnungen von Karoline Schreiber.
Echtzeit, Basel 2021.
192 Seiten, 29 Euro.
„Niemand fragt mich
nach meiner Beziehung
zum Ultramarinblau.“
Surrealistin
Meret Oppenheim 1982.
Foto: Keystone
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Frauengeschichte ist Weltgeschichte: Caroline Arnis poetisches Buch „Lauter Frauen“
Als die letzte Hexe der Schweiz zum Tod verurteilt wurde, gab es den Straftatbestand der Hexerei schon lange nicht mehr. Im Prozess wurde der Begriff „Hexe“ deshalb vermieden, verurteilt wurde die Dienstmagd Anna Göldi als Giftmörderin. Eine Giftmörderin allerdings, die einem Kind in ihrer Obhut Stecknadeln, Nägel und Eisendrähte in seine Milch gezaubert haben soll, im Auftrag des Teufels selbstverständlich. Im Juni 1782 wird Anna Göldi im Kanton Glarus also hingerichtet mit dem Schwert, und „es dauert nicht lang, da spottet man in halb Europa über die Glarner, von denen nun gesagt wird, sie würden noch an Hexen glauben“.
Die Historikerin Caroline Arni, Professorin an der Universität Basel, hat eines der zwölf Porträts im Buch „Lauter Frauen“ Anna Göldi gewidmet, der Frau aus dem 18. Jahrhundert, die auf der Suche nach einem Auskommen von Haus zu Haus zog, die in die Zankereien mehrerer Herrschaftsfamilien geriet, und die spätestens als sie wohl von mehr als einem Dienstherren schwanger wurde, der Gunst der Herren entfiel und von ihnen beseitigt werden sollte. Caroline Arni stellt hier die Frage, die man auf genügend Situationen jenseits des 18. Jahrhunderts übertragen könnte: „Was bedeutet es, dass man Anna Göldi nicht als Hexe verurteilte, aber mit ihr verfuhr, als ob sie eine hätte sein können?“
Die Geschichte der Anna Göldi ist eine Geschichte des Unrechts, eine, in der Ressentiments und üble Nachrede ausreichten, um ein Leben zu beenden, das vor dem Gesetz eigentlich doch geschützt gewesen wäre. Über zwei Jahrhunderte nach ihrer Hinrichtung wurde sie rehabilitiert. Seit 2008, also genau nach 226 Jahren, gilt der Fall in der Schweiz nun offiziell als Justizmord. Der Historikerin Arni geht es in ihren Erzählungen aber nicht nur um das Unrecht. Im Gegenteil. Sie schreibt über ihr Buch und damit über die Leben der von ihr porträtierten Frauen: „Nicht immer sehen Freiheit und Unfreiheit so aus, wie wir sie heute auffassen. Und manchmal geht es um anderes.“
Arni erzählt in ihren Porträts nicht weniger als fünf Jahrhunderte Frauengeschichte, und das so außergewöhnlich poetisch und leichtfüßig, wie es nur selten gelingt. Sie beginnt mit ihrer eigenen Großmutter, die eine symbolträchtige Porzellanmaske in ihrem Haus hängen hatte und erzählt von elf weiteren, überwiegend unbekannten Frauen. Zu den bekannten gehört die Surrealistin Meret Oppenheim, die mit ihrer Pelztasse berühmt wurde, der aber irgendwann auffiel, wie sie von Journalisten immerzu nach möglichen Beziehungen und Verbindungen zu großen Männern befragt wurde. „Niemand fragt mich“, schrieb sie, „nach meinen Beziehungen zur rohen Umbra, zur gebrannten Umbra, zum Ultramarinblau etc.“
Die Geschichten von Caroline Arni berühren das große Ganze, handeln von Arbeit, Revolution und Liebe. Manchmal findet alles zusammen, wie im Lebenslauf von Katharina von Zimmern, geboren 1478. Sie war die letzte Äbtissin eines Nonnenklosters in Zürich, das von der Reformation leer gefegt wurde. Zürich plante die Auflösung der Klöster und der Frieden der Stadt hing gewissermaßen von der Äbtissin ab. Sie entschloss sich zu gehen, räumte ihren Platz und damit auch ihren politischen Einfluss als Stadtherrin von Zürich. Ein Verlust, ein Rückschritt für die Sache der Frau? Nein, so die Erzählung Arnis über sie. Katharina von Zimmern stiftet Frieden, handelt sich von der Stadt einen Lebensunterhalt aus, heiratet und bekommt mit über 47 Jahren zwei Kinder. „Ein Esel und ein Tor, wer die Frauen verleumdet, wo doch keiner weiss, was seine Mutter getan hat“, stand als Deckeninschrift in ihrer Abtei.
Frauen der Geschichte müssen keine Heldinnen gewesen sein, um einen Platz in unserer Erinnerung zu bekommen. Es reicht, wenn sie einen Einblick gewähren in ihre Zeit, und damit, wenn es so klug erzählt wird wie von Caroline Arni, eben auch in unsere Zeit. Darüber also, was sich ändert, und was so universell ist, dass es die Zeiten überdauert.
Frauengeschichte, ist Arni wichtig zu betonen, ist nicht einfach die Geschichte von Frauen, sie ist Weltgeschichte. Sie vervollständigt auch nicht, sondern ist ein Beobachtungsposten der ganzen Geschichte. Die Spuren, die Frauen in Archiven und Geschichtsbüchern hinterlassen, sind im Vergleich zu den der Männer oft skizzenhaft. Mal nur angedeutet, mal deutlicher sind deshalb auch die Zeichnungen von Karoline Schreiber, die die Porträts begleiten. Dass sich die Biografien aller Frauen wenigstens teilweise in der Schweiz abspielen, sei eine beliebige Klammer für ihre Erzählungen und habe keine tiefere Bedeutung, offenbart die Autorin im Nachwort. Ebenso, dass nichts im Buch erfunden ist, sie sich für ihre Porträts aber der historischen Einbildungskraft bedient hat, und sich als Autorin auch nicht in den Erzählungen verberge. Um zu fragen, warum diese Frauen lebten, wie sie lebten und was sie uns noch sagen können. Ohne Arnis historische Einbildungskraft wäre ein so schönes Buch, so berührende Geschichten über die Jahrhunderte auch gar nicht denkbar.
AURELIE VON BLAZEKOVIC
Anna Göldi wurde 2008 von der
schweizer Justiz rehabilitiert,
226 Jahre nach der Hinrichtung
Caroline Arni:
Lauter Frauen.
Zwölf historische
Porträts.
Mit Zeichnungen von Karoline Schreiber.
Echtzeit, Basel 2021.
192 Seiten, 29 Euro.
„Niemand fragt mich
nach meiner Beziehung
zum Ultramarinblau.“
Surrealistin
Meret Oppenheim 1982.
Foto: Keystone
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