Die vorliegenden Gedichte sind Roadmaps, Archive aus einer Zukunft, von der ich (teils) gern ein Teil wäre. Spekulative, fragmentarische Zeugnisse neuer und zärtlicherer Seinsweisen, artenübergreifender Allianz. Mit jedem Zyklus im Band geht es tiefer in diese Zukünftigkeit hinein; Transformationen werden spürbar. In "Wasser werden" erkundet ein Ich über mimetisch-klangliche Ebenen die eigene, aufregende Verbundenheit mit anderem wässrigen Leben. Es lernt die filigranen Bewegungen von Phytoplankton, suhlt sich mit chinesischen Wasserbüffeln im Schlamm. Das folgende Kapitel "bergen" verortet sich in einer Zeit, in der humane und nicht-humane Entitäten gemeinsam in symbiotischen Koexistenzen leben; die Globalisierung und die Technologisierung der Welt sind weit vorangeschritten, die fatalen klimatischen Konsequenzen gegenwärtiger menschlicher Lebensweisen treten offen zutage. Hier sammelt und pflegt ein menschliches Ich verzweifelt, liebevoll und widerständig, was es angesichts eines drohenden Untergangs umso stärker behüten will: seelische Verfasstheiten, Wassermelonenlippen, ebenso Kristalle, Sapphos Fragmente, massenhaft Sauerstoff, schließlich die im Wort "Brot" sedimentierte Menschheitsgeschichte selbst. Jenseits von binär-diskriminierendem Denken, von Utopie und Dystopie, bewegt sich Federn im Flug tief im queeren, somatischen Dazwischen. Dort liegt, verankert in Handlung und Un-handlung, eine mögliche Welt. Handlinien verflüchtigen sich zu Horizonten, schmelzen dahin. Und trotzdem gelangt ein Ich zu neuen Sinnen, rappelt sich auf, wird (wieder) Körper, Wesen, Wir. Landschaften, Wind und dunkle Tiere sind hier Partner:innen, die Fragen beantworten, die wir uns als Menschen gerade erst zu stellen wagen. Gemeinsam finden wir Rituale, üben wir uns in Revolution.
Scheffler ist eine moderne Sappho mit Gitarre und Loopmaschine. Ihre Gedichte sind ganz von der oralen Tradition der Dichtkunst geprägt, zelebrieren die kompositorische Einheit von Sprache, Musik und Gesang und entfalten sich als Text-Klang-Collagen von außerordentlicher Suggestivität. - Michael Braun; Laudatio zum Orphil-Debütpreis Um Körperbilder und Körperlichkeit kreisen die Gedichte von Rike Scheffler (...) Resonanz, das verstärkte Mitschwingen eines schwingfähigen Systems unter zeitlich veränderlicher Einwirkung, charakterisiert ein Ziel und eine möglicherweise beabsichtigte Wirkung dieser Verse, die Landschaft und Erinnerungen an eine vergangene Liebe so verweben, dass diese Liebe in den Versen noch einmal Gestalt annimmt. - Beate Tröger, der Freitag
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Begeistert taucht Rezensent Nico Bleutge in die Verse von Rike Scheffler ein, die durch die genaue "Beobachtung und Deutung" unserer Zeit ein Abbild der Lage der menschlichen Gesellschaft gelingt. Es werden alltägliche Worte genutzt, die aber die ganz großen Fragen zu Kapitalismus, Krieg oder friedlichem Zusammenleben stellen, aber nicht direkt, sondern "eingelagert in die Form". Die Gedichte sind grob an einer Zeitachse angeordnet, bis ins 24. Jahrhundert, und mit der fortlaufenden Zeit sprachlich immer fluider werden, so der Rezensent und zitiert: ":ch die w:r viele sind ungleich sein wollen / w:r die w:r tasten um zu verstehen". Wer hier spricht? Der Rezensent kann nur raten, aber gerade das gefällt ihm so gut an diesen Gedichten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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